DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
EDITORIAL
Therapie der chronischen Herzinsuffizienz heute — Stimulation oder Entlastung?
Z
weihundert Jahre nach der ersten, detaillierten Beschreibung der Digita- liswirkung bei der hydropi- schen Herzinsuffizienz durch Withering wird eine recht kon- troverse Diskussion über den heutigen Stellenwert der Herz- glykoside geführt. Wenn sie auch die ersten beiden Posi- tionen der am meisten verord- neten Pharmaka besetzen, so sind Glykoside bei uns seit 1980 doch um 30 bis 50 Pro- zent weniger verordnet wor- den. Dazu haben sicherlich auch die kontrollierten und teilweise sogar doppelblind und randomisiert durchgeführ- ten Untersuchungen beigetra- gen, bei denen sich zumeist zeigte, daß der Einfluß einer chronischen Digitalisgabe bei Sinusrhythmus früher häufig überschätzt wurde.Nach Absetzversuchen waren in der Mehrzahl der Fälle kei- ne subjektiven oder objekti- vierbaren Verschlechterungen festzustellen. Leider sind aus diesen Absetzuntersuchungen aber keine allgemeingültigen Schlußfolgerungen möglich, weil die Indikationen, die pri- mär zur Glykosidtherapie führ- ten, uneinheitlich waren oder unbekannt blieben.
Gesicherte Indikationen einer Digitalistherapie Aufgrund ihrer pharmakokine- tisch ungünstigen Eigenschaf- ten (langsam erfolgender Wir- kungseintritt, sehr langsame und inkonstante Wirkungsab- nahme) werden Herzglykoside bei der akuten Herzinsuffi- zienz kaum noch gegeben, sie sind durch die besser steuer-
baren Katecholamine Dop- amin und Dobutamin ersetzt worden. Unumstritten ist die Glykosidbehandlung beim ta- chysystolischen Vorhofflim- mern bzw. Vorhofflattem. Die Frequenzreduktion auf Werte um 70 bis 90/min führt zur Zu- nahme der Diastolendauer mit der Folge einer besseren Fül- lung des linken Ventrikels und dementsprechend eines grö- ßeren Schlagvolumens. Eine Gewöhnung mit ausbleiben- der Digitaliswirkung ist bei dieser Indikation nie beobach- tet worden. Schon das par- oxysmale Vorhofflimmern läßt sich häufig nicht durch Digita- lis allein stabilisieren. Trotz- dem sind Glykoside meist nö- tig, da dann im Falle des Vor- hofflimmerns die Kammerfre- quenz niedriger ist. Auch bei Repolarisierungsversuchen mit Chinidin sollte vorher Digi- talis gegeben werden, um die schnelle Überleitung der Vor- hofimpulse auf die Ventrikel („paradoxe Chinidin-Wir- kung") zu hemmen.
Bei den „antiarrhythmischen"
Glykosidindikationen wird nicht der kontraktionskraft- und kontraktionsgeschwindig- keitssteigernde Effekt benö- tigt. Dies ist aber der Fall bei der chronischen Herzinsuffi- zienz mit Sinusrhythmus
—und daran entzünden sich auch die Diskussionen. Prak- tisch alle Untersuchungen ha- ben gezeigt, daß Herzglykosi- de keine Verbesserung der Herzfunktion beim Herzgesun- den zur Folge haben — im Ge- genteil: vorwiegend wegen ih- rer Wirkung auf die glatte Ge- fäßmuskulatur nehmen der periphere und koronare Wi- derstand zu und das Herzmi-
nutenvolumen ab. Auch bei der Belastungsherzinsuffizienz (II NYHA) sind keine regelhaft günstigen Wirkungen auf das Befinden oder die Leistungs- fähigkeit der Patienten nach- weisbar. Offensichtlich profi- tieren diese Kranken am be- sten von körperlicher Scho- nung, falls nicht andere, kau- sale Therapiemaßnahmen möglich sind. Wenn man au- ßerdem bedenkt, wie schwie- rig objektive Beurteilungen therapeutischer Interventionen gerade bei Patienten mit Be- lastungsherzinsuffizienz (II NYHA) sind, dann verwun- dern unterschiedliche Meinun- gen nicht.
Bei der manifesten Herzinsuf- fizienz (III und IV NYHA) mit Sinusrhythmus haben invasive Studien klar gezeigt, daß Herzglykoside, wenn sie über- haupt therapeutisch günstig wirksam sind, ihre Wirkung bei Dauerbehandlung beibe- halten. Auch dann führt das Absetzen zwar nicht immer gleich zu subjektiver Ver- schlechterung, aber meist zu einer hämodynamisch ungün- stigeren Konstellation (Anstieg der Füllungsdrucke, Zunahme der Herzgröße, Abfall des Schlagvolumens).
Herzinsuffizienztherapie bedeutet nicht
nur Digitalistherapie
Bei der Vielzahl der pathophy- siologisch so differenten Ursa- chen der „Herzinsuffizienz"
ist kein Allheilmittel bekannt.
Körperliche Schonung, Ge- wichtsreduktion, Senkung des erhöhten Blutdrucks, Opera- tion des Herzklappenfehlers oder der koronaren Herzer- krankung, Behandlung der Hy- perthyreose oder der Über- wässerung bei Niereninsuffi-
2642 (70) Heft 37 vom 11. September 1985 82. Jahrgang Ausgabe A
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zienz bieten sich als kausale Maßnahmen, vor der sympto- matischen Therapie an. Trotz- dem bleiben noch die vielen Patienten mit Cor pulmonale, dilativer Kardiomyopathie oder Endstadien der koronaren Herzerkrankung und andere, denen durch zusätzliche me- dikamentöse Behandlung ge- holfen werden muß.
Die hydropischen Symptome dieser Patienten mit Diuretika zu lindern, ist bewährte Thera- pie. Diuretika steigern aber nicht das HZV. Sie senken die Füllungsdrücke (Vorlast) und den peripheren Widerstand (Nachlast), bei zu hoher Do- sierung auch den Blutdruck, der bei diesen Kranken oft schon niedrig ist. Die Folge sind Schwindel oder unakzep- table Müdigkeit und Schwä- che. Die Kombination mit dem Herzglykosid liegt dann nahe und führt häufig auch zum Er- folg.
Beim Cor pulmonale haben kontrollierte Untersuchungen keine günstigen Digitaliswir- kungen gezeigt. Die dilative Kardiomyopathie ebenso wie die fortgeschrittene koronare Herzkrankheit reagieren oft mit frühzeitigen Rhythmusstö- rungen auf Herzglykoside; ei- ne Verminderung der myokar- dialen Digitalisrezeptoren bei beiden Krankheitsbildern wur- de nachgewiesen. Das erklärt die Empfindlichkeit und gleichzeitig die oft mangelnde Wirksamkeit.
Alternativtherapie der Herzinsuffizienz
Bei der schlechten Prognose der schweren Herzinsuffizienz (III, IV NYHA) trotz Digitalis- und Diuretikabehandlung sind viele Therapieversuche mit
anderen, ebenfalls positiv inotrop wirksamen Medika- menten unternommen wor- den. Diesem Konzept liegt die Hypothese zugrunde, daß manche, nicht am Herzglyko- sidrezeptor angreifenden Pharmaka effektiver sind. Das soll heißen, sie könnten die Herzkraft des versagenden Muskels stärker stimulieren und eventuell zusätzlich zum Digitalis eine „darüber hinaus- gehende" positiv inotrope Wirkung haben.
Nach anfänglich ermutigen- den Mitteilungen über Akutef- fekte trat besonders bei den Phosphod iesterasehem mstof- fen (Amrinon, Milrinon etc.) ei- ne gewisse Ernüchterung ein, da sie bei therapeutischen Se- rumkonzentrationen primär nur vasodilatatorische Wirkun- gen haben. Am isolierten Herzpräparat steigern sie die Kontraktionskraft sicher nicht über die digitalisbedingte Kraftzunahme hinaus. In pro- spektiven Untersuchungen war entweder kein wesent- licher günstiger therapeuti- scher Effekt vorhanden oder sogar ein gehäuftes Auftreten lebensbedrohlicher Rhythmus- störungen beim Amrinon (Kammerflimmern) festzustel- len.
Unter Berücksichtigung der erhöhten Katecholamin- und Angiotensin-II-Konzentratio- nen mit der Folge eines ho- hen Gefäßwiderstandes bei der chronischen Herzinsuffi- zienz scheint auch nicht die positiv inotrope Stimulation des insuffizienten Muskels, sondern vielmehr seine Entla- stung geboten. Tatsächlich ist die Abnahme der Füllungs- drucke durch Diuretika nicht unbedingt mit einer Reduktion des HZV verknüpft. Der bei schwerer Herzinsuffizienz
kompensatorisch ansteigende periphere Widerstand zeigt oft übermäßige Zunahmen und behindert dadurch die systoli- sche Entleerung des Ventri- kels. Dementsprechend ist die Senkung der Vor- und Nach- last bei ausgeprägter Herzin- suffizienz häufig mit wesent- lichen Zunahmen des Schlag- volumens verbunden.
Leider ist für die meisten Va- sodilatantien (Prazosin, a-Me-
thyldopa, Hydralazin und an- dere) eine baldige Gewöh- nung mit nachlassender Wir- kung beschrieben. Soweit man heute weiß, bleibt diese Tachyphylaxie aber bei den Hemmstoffen des Angioten- sin-Converting-Enzyms (ACE- Hemmer: Captopril, Enalapril) aus. Jedenfalls zeigten eine Reihe von recht günstigen, langfristigen Therapieresulta- ten, daß diese Substanzen zu- sätzlich zu Digitalis und Diure- tika nicht durch weitere Sti- mulation, sondern durch Ab- nahme der Nachlast und dann auch der Vorlast hilfreich sein können. Diese Therapie leuch- tet natürlich bei dem Ventri- kelseptumdefekt, Aorten- und Mitralinsuffizienz sowie bei der Hypertonie unmittelbar ein. Auch dilative Kardiomyo- pathien und Herzinsuffizien- zen bei koronarer Herzerkran- kung sind damit erfolgreich behandelt worden. Weitere Er- fahrungen mit diesem Thera- pieprinzip bei den verschiede- nen Formen der chronischen Herzinsuffizienz, insbesondere mit den neuerdings ebenfalls empfohlenen Kalziumantago- nisten, sind notwendig.
Professor Dr. med.
Erland Erdmann Medizinische Klinik I der Universität München Marchioninistraße 15 8000 München 70
Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 37 vom 11. September 1985 (71) 2643