Die chronische Polyarthritis erfor- dert entsprechend ihrer Chronizität eine sorgfältige und langfristige Therapieplanung. Bei der Behand- lung müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um den ent- zündlich-destruierenden Prozeß zu unterdrücken beziehungsweise zu beseitigen und dadurch ein Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern. Daneben aber sollen auch die durch die Krankheit be- dingten Funktionseinschränkungen der Gelenke gebessert sowie Ge- lenksdeformierungen verhütet oder ausgeglichen werden. Je nach Akuität und Stadium der Krankheit beziehungsweise dem Grad der Gelenkzerstörung ist neben der Pharmakotherapie auch die physi- kalische Therapie, insbesondere die Krankengymnastik und Ergo- therapie einzusetzen. Weiterhin müssen gemeinsam mit dem Or- thopäden die Indikationen für ope- rative Eingriffe gestellt und die ver- schiedenen Rehabilitationsmög- lichkeiten erwogen werden. Dar- über hinaus ist bei dem langwieri- gen Verlauf der Krankheit eine ein- fühlende psychische Führung des Patienten unerläßlich. Allgemein gilt der Grundsatz, daß die Thera- piemaßnahmen um so effektiver sind, je früher sie einsetzen. Dies aber bedeutet, alle Möglichkeiten für die Frühdiagnose der chroni- schen Polyarthritis') auszunützen.
Medikamentöse Therapie
Symptomatisch wirkende Medikamente
Ziel der medikamentösen Therapie ist selbstverständlich die vollstän- dige Heilung der Erkrankung. So- lange diese nicht erreicht wird, muß man versuchen, den entzünd- lichen Prozeß zu unterdrücken und die Schmerzen des Patienten zu lindern. Hierzu stehen die soge- nannten Antirheumatika zur Verfü- gung, deren chemische Struktur sehr unterschiedlich ist. Ihr ge- meinsames Charakteristikum ist ihr analgetischer, antiphlogistischer und meist auch antipyretischer Ef- fekt. Da diese Medikamente aber kaum eine Wirkung auf den Grund- prozeß ausüben, werden sie in der Regel nicht allein, sondern in Kom- bination mit den sogenannten Ba- sistherapeutika wie Chloroquin, Gold, D-Penicillamin oder den Im- munsuppressiva angewandt. Die Dosierung und die häufigsten Ne- benwirkungen einzelner dieser
„Antirheumatika" zeigt Tabelle 1.
Von den „Antirheumatika" sind die Salicylpräparate am längsten be- kannt. Vor allem die Acetylsalicyl- säure (Aspirin®) wird wegen ihrer sehr guten analgetischen, antiphlo- gistischen und antipyretischen Wir- kung in den angelsächsischen Län-
Neben den symptomatisch wirkenden sogenannten An- tirheumatika soll bei der chronischen Polyarthritis stets eine medikamentöse Basistherapie mit Gold, D- Penicillamin, Chloroquin oder lmmunsuppressiva ein- gesetzt werden. Kortikoide sind nur bei strenger Indika- tion anzuwenden. Bei oligo- artikulärem Befall bietet sich die Synoviorthese mit chemi- schen oder radioaktiven Sub- stanzen und die Synovek- tomie an. Krankengymna- stik, Ergotherapie und weite- re physikalische Maßnahmen sind während des ganzen Krankheitsverlaufes unerläß- liche Bestandteile des Thera- pieplanes.
dern sehr häufig angewandt, wäh- rend sie in Deutschland wegen der Nebenwirkungen auf den Magen- Darm-Trakt in den letzten Jahr- zehnten nur begrenztes Interesse fand. Mit dünndarmlöslichen Prä- paraten (Colfarit®) können diese Nebenwirkungen weitgehend ver- mieden werden, soweit Dosen von drei Gramm/die nicht überschritten werden. Eine ebenfalls sehr gute analgetische und antiphlogistische Wirkung haben die Pyrazol- und Pyrazolidin-Derivate. Unter diesen wird das früher sehr viel benutzte Aminopyrin (Pyramidon®) wegen der gelegentlich auftretenden Agranulozytosen nur noch wenig rezeptiert. Demgegenüber finden Phenylbutazon (Butazolidie), das im wesentlichen gleich wirksame Oxyphenbutazon (Tanderil®) und als Kombinationspräparat Toma- nol® breite Anwendung. Nebenwir- kungen treten aber auch bei die- sen Präparaten auf (Tabelle 1).
Einen festen Platz in der sympto- matischen Behandlung der chroni- schen Polyarthritis hat sich auch
1) siehe DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 24/1975, Seite 1817 ff.
Therapie
der chronischen Polyarthritis
Moderne Aspekte
Wolfgang Müller und Hans-Jürgen Hettenkofer
Aus der Rheumatologischen Universitätsklinik Basel (Vorsteher: Professor Dr. med. Wolfgang Müller)
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 25 vom 19.Juni 1975 1881
Aktuelle Medizin
Therapie der chronischen Polyarthritis
das Indol-Derivat Indomethacin (Amuno®) erobert. Sein Effekt ent- spricht etwa dem des Phenylbuta- zons.
Bei einer geringeren Aktivität der Krankheit kann man statt der bis- her genannten Präparate Ibuprofen (Brufen ® ) und weitere neuere Anti- phlogistika wie Azapropazon (Proli- xane300) und Flufenaminsäure (Ar- lef 200 ® ) u.a. einsetzen, die analge- tisch und antiphlogistisch weniger wirksam, aber meist besser ver- träglich sind.
Im Verlaufe einer chronischen Poyarthritis kann ein gelegentli- cher Wechsel der „Antirheumati- ka" in Anpassung an das Krank- heitsbild und entsprechend dem Auftreten möglicher Nebenwirkun- gen erforderlich sein. Bei einem hochaktiven Prozeß wird man stark wirksame Medikamente bevorzu- gen, bei nur mäßigen Schmerzen dagegen besser verträgliche, aber meist geringer antiphlogistisch wir- kende Substanzen.
Die Kortikosteroidtherapie
Kortikosteroide sollen bei der chronischen Polyarthritis nur bei strenger Indikation angewandt wer- den. Sie bewirken zwar — vor al- lem in höheren Dosen — infolge ihres intensiven antiphlogistischen Effekts meist ein rasches Abklin- gen der entzündlichen Veränderun- gen und damit auch der Gelenk- schmerzen, beeinflussen den ei- gentlichen Krankheitsprozeß aber nur wenig. Die Krankheit kann nach Absetzen oder schon bei Re- duktion der Hormone exazerbieren, der destruierende Prozeß im Be- reich der Gelenke auch bei Unter- drückung der Entzündung unter
Kortikosteroiden fortschreiten. Zu- dem treten bei der Langzeitthera- pie mit höheren Dosen erhebliche Nebenwirkungen auf.
Selbstverständlich kann man in be- stimmten Fällen trotz der mögli- chen Nebenwirkungen auf die nütz- liche Wirkung der Kortikosteroide nicht verzichten. Eine Therapie mit
diesen Hormonen ist besonders bei exsudativen Phasen der Krankheit mit mehr oder weniger starken Schmerzzuständen, ferner im Spätstadium der chronischen Poly- arthritis bei' unzureichender Beein- flussung durch die sogenannten
Basistherapeutika und Antiphlogi- stika indiziert. Auch bei einer vis- zeralen Symptomatik kommen Kor- tikosteroide eventuell in Kombina- tion mit Zytostatika in Frage. In der Regel wird anfänglich eine höhere Dosis (30-40 Milligramm Predni- solon/die beziehungsweise eine Äquivalenz-Dosis eines anderen Kortikosteroids) verabreicht. So- bald eine klinische Besserung ein- getreten ist, soll die Dosis langsam reduziert und wenn möglich das Präparat ganz abgesetzt werden, zumindest soll die Schwellendosis von etwa 7,5 Milligramm Predniso-
lon/die in der Dauertherapie nicht überschritten werden. Zur Anglei- chung an die zirkadiane, physiolo- gische Kortisolrhythmik wird die Gesamtdosis morgens verabreicht.
Mögliche Nebenwirkungen, insbe-
Tabelle 1: Dosierung und Nebenwirkungen einiger der gebräuchlichsten Antirheumatika
Acetylsalicylsäure
Wichtigste Nebenwirküngen
Intestinale Blutungen, Störungen des Säure-Basen-Haushalts, Prothrombin- senkung, Allergien, Thrombopenien, Leberschädigung
Handelsname z. B. Aspirin®
Dosierung 1,5 — 5 g/die
0,2 — 0,6 g/die
Gastroduodenalulzera, Schäden der Erythropoese, Thrombopenie, Agra- nulozytosen, allergische Hauktreaktio- nen, Interferenz mit Antikoagulantien und oralen Antidiabetika
Phenylbutazon Oxyphenbutazon
Butazolidin®
Tanderil®
Indomethacin Amuno 2 0,075 — 0,2 g/die Zentralnervöse Nebenwirkungen, wie Übelkeit, Brechreiz, Schwindelgefühl, Kopfschmerz. Gastrointestinale Blu- tungen
Ibuprofen Bruten® 0,6 — 1,8 g/die Dyspepsien, gastrointestinale Blutun- gen, allergische Hautreaktionen
1882 Heft 25 vom 19.Juni 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Tabelle 2: Basistherapeutika, Dosierung, Nebenwirkungen und Kontraindikationen (Immunsuppressiva und Zytostatika siehe Tabelle 4)
Handelsname Dosierung Nebenwirkungen Kontraindikationen Gold Au reotan®
Auro-Detoxin ® Tauredon®
siehe Tabelle 3 Allergische Hautreaktio- nen, Stomatitis, Nieren- schädigung, Knochen- markschädigung, Entero- kolitis, toxische Leber- schädigung
Leber- und Nierenschä- den, Enterokolitis, Leu- kopenie, Thrombopenie, Kachexie, aktive Tuber- kulose, Gravidität, Lupus erythematodes, Derma- tomyositis, Sklerodermie D-Penicillamin Metalcaptase®
Trolovol®
Ansteigende Dosierung um 0,3 g/ in 2 — 4 Wochen bis ma- ximal 1,2 — 1,8 g/die
Allergische Hauterschei- nungen, Geschmacks- störungen, Nierenschä- den, Ag ran ulozytose, Thrombopenie, Myasthe- nia gravis, gastrointesti- nale Beschwerden
Niereninsuffizienz, be- kannte Penicillin-Aller- gie, Gravidität, Leuko- penie, Thrombopenie, aktive Tuberkulose
Chloroquin Resochin® 0,250 g/die Irreversible Retinopathie, Gravidität reversible Kornea-Einla-
gerungen, gastrointesti- nale Störungen
sondere bei langfristiger und höher dosierter Kortikosteroidtherapie sind Magen-Darm-Ulzera, Hyperto- nie, Muskelatrophien, Manifestation eines Diabetes mellitus, verminder- te Infektabwehr und verzögerte Wundheilung sowie psychische Veränderungen. Auch Femurkopf- nekrosen sowie Schäden am Auge (Katarakt, Glaukom) können ihre Ursache in der Kortikosteroidthera- pie haben. Schließlich kann sich unter dieser Therapie ein voll aus- geprägtes Cushing-Syndrom ent- wickeln. Bei der Behandlung der chronischen Polyarthritis ist die Kortikosteroid-Osteoporose beson- ders gefürchtet, sie kann zu ausge- dehnten Wirbelzusammenbrüchen führen.
Zahllos sind die von der Pharma- industrie zur Behandlung der chro- nischen Polyarthritis in den Handel gebrachten Kombinationspräparate von Kortikosteroiden und Antiphlo- gistika. Selbst wenn man die Zu- sammensetzung dieser Präparate genau kennt, sollte man sie nur mit
äußerster Zurückhaltung anwen- den, da sie keine individuelle Do- sierung der einzelnen Wirkkompo- nenten zulassen und die Kortiko- steroiddosen zwangsläufig über den Tag verteilt appliziert werden müssen. Darüber hinaus wird hier- mit häufig eine Hormontherapie länger als unbedingt erforderlich betrieben.
Die medikamentöse Basistherapie Mit den sogenannten Basisthera- peutika, zu denen Chloroquin, Gold, D-Penicillamin und Immun- suppressiva zählen, versuchen wir nicht nur die Entzündung, sondern den eigentlichen Grundprozeß zu beeinflussen. Obwohl die Wirkme- chanismen dieser Medikamente bis heute noch nicht genau bekannt sind, hat die klinische Erfahrung doch gelehrt, daß mit ihnen häufig ein Stillstand oder eine länger dauernde Remission erreicht wer- den kann. Deshalb sollte bei jeder gesicherten chronischen Polyar-
thritis eines dieser Medikamente eingesetzt werden. Wegen der möglichen Nebenwirkungen (Ta- belle 2) ist die Basistherapie aber unter regelmäßiger ärztlicher Kon- trolle durchzuführen.
Chloroquin-Derivate
Unter den verschiedenen Basis- therapeutika zeigen die Chloroquin- Derivate eine relativ geringe Wir- kung, jedoch haben sie auch die wenigsten Nebenwirkungen. Wir verwenden in der Regel Resochin®
in einer Dosis von 250 Milligramm/
die bei leichten Formen der Er- krankung und bei Patienten mit
„wahrscheinlicher" chronischer Polyarthritis. Mit einem Wirkungs- eintritt ist frühestens nach einigen Wochen zu rechnen; oft setzt die Besserung erst nach Monaten ein.
Bei definitiver Diagnose sollte man neben Chloroquinderivaten auch Goldpräparate geben. Nach län-
DEUTSCHES ÄRZTE BLATT Heft 25 vom 19.Juni 1975 1883
Tabelle 3: Dosierungsschema zur Goldtherapie (für ein Präparat mit etwa 50°/o Goldgehalt, z. B. Tauredon®)
1. Woche 2 x 10 mg
2. Woche 2x20 mg
3. Woche bis 25. Woche 1 x50 mg
ab 25. Woche 1 x 50 mg/Monat (oder jede 2. Woche, je nach klinischem Bild beziehungs- weise Goldspiegel)
Aktuelle Medizin
Therapie der chronischen Polyarthritis
gerfristiger Besserung des Krank- heitsbildes wird Chloroquin dann abgesetzt und die Goldtherapie als Dauerbehandlung weiterge- führt.
Nebenwirkungen treten am ehesten in Form von leichten Magen-Darm- Störungen auf. Bei länger dauern- der Behandlung kann es zu rever- siblen Einlagerungen der Sub- stanzen in die Kornea kommen.
Sehr selten beobachtet man irre- versible Ablagerungen in die Reti- na, die zu erheblichen Visuseinbu-
ßen führen können. Deshalb sind unter dieser Therapie ophthalmolo- gische Kontrollen in vier- bis sechsmonatigen Abständen nötig.
Die Chrysotherapie
Nach wie vor gilt die Goldbehand- lung als eine der wirksamsten The- rapieformen der chronischen Poly- arthritis. Die Dosierung der einzel- nen im Handel befindlichen Prä- parate richtet sich nach ihrem un- terschiedlichen Gehalt an metalli- schem Gold. Aureotan® (Aurothio- glukose in Ölsuspension) enthält etwa 50 Prozent, Auro-Detoxin®
(Aurothiopolypeptid) 13 Prozent und Tauredon® (Natriumaurothio- malat in wäßriger Lösung) etwa 46 Prozent reines Gold. Um die Ver- träglichkeit zu prüfen, werden zu- nächst geringe, langsam anstei- gende Golddosen appliziert, bis
man bei einer Maximaldosis ange- langt ist, die zunächst wöchentlich, später nach klinischem Bild bezie- hungsweise Serumgoldspiegel in zwei- bis vierwöchigen Abständen
injiziert wird (Tabelle 3).
Eine Wirkung ist frühestens vier bis sechs Wochen nach Behandlungs- beginn zu erwarten; in manchen Fällen tritt sie erst nach einer halb- bis einjährigen Therapiedauer ein.
Der Therapieerfolg äußert sich nicht nur in einer klinischen Besse-
rung, vielmehr beginnen auch Blut- körperchensenkungsgeschwindig- keit und übrige Entzündungspara- meter sich zu normalisieren. Allge- mein rechnet man bei etwa 60 bis 70 Prozent der Fälle mit einer Wirk- samkeit der Goldtherapie, wobei die besten Ergebnisse natürlich in den frühen Stadien (Stadium I und 11 nach Steinbrocker) erzielt wer- den. Allgemein sollte man die Dau- erbehandlung den sogenannten Goldkuren vorziehen, unter denen Rezidive nach unseren Erfahrun- gen häufiger sind.
Ist die Chrysotherapie wirksam, führen wir sie über Jahre fort und setzen sie frühestens ein Jahr nach völligem Sistieren des Krankheits- prozesses mit Normalisierung der Laborwerte ab. Zeigt die Goldthe-
rapie nicht den gewünschten Erfolg, sollte man den Serumgoldspiegel bestimmen, der bei gleicher Dosie-
rung erhebliche individuelle Schwankungen aufweist. Die thera- peutisch wirksamen Spiegel liegen zwischen 0,5 bis 4,0ug/Milliliter.
Ein Abbruch der Chrysotherapie wegen Erfolglosigkeit ist nur ge- rechtfertigt, wenn der Serumgold- spiegel mindestens bei 3,0«g/Mil- liliter liegt, andernfalls ist die Dosis zunächst zu erhöhen.
Unter der Goldtherapie müssen die Patienten regelmäßig in zwei- bis vierwöchigen, später in achtwö- chigen Abständen vom Arzt kon- trolliert werden, da bei etwa acht bis zehn Prozent der Fälle, insbe- sondere bei höheren Goldspiegeln, Nebenwirkungen zum Teil schwe- rer Art auftreten. Hier ist beson- ders auf Haut- und Schleimhautre- aktionen (Ekzeme, Gingivitis, Sto- matitis, Enterokolitis), Affektionen des Blutes (Anämien, Leukopenien, Thrombopenien), der Niere (Ery- throzyturie, Proteinurie) und der Leber (toxische Leberschäden) zu achten. Entsprechend sind jeweils neben einer klinischen Untersu- chung Kontrollen des Blutbilds, der Leberenzyme und des Urinstatus erforderlich. Treten die genannten Nebenwirkungen in stärkerem Aus- maß auf, ist die Goldtherapie zu- mindest zeitweise abzusetzen; glei- ches gilt bei persistierender Eosino- philie mit Werten über 15 Prozent.
D-Penicillamin-Therapie
Als Alternative zur Chrysotherapie kann die Behandlung mit D-Peni- cillamin (Metallcaptase ® , Trolovol®) gelten, das in zunehmendem Maße als Basistherapeutikum bei der chronischen Polyarthritis verwendet wird. Es entspricht in seiner Wirk- samkeit etwa der des Goldes und hat wie dieses unterschiedliche Wirkmechanismen, deren Bedeu- tung im einzelnen noch nicht ge- klärt ist. Die Dosis beträgt zu- nächst 0,3 Gramm/die und wird in zwei- bis vierwöchigen Abständen um 0,3 Gramm/die bis zu einer Ma- ximaldosis von 1,2 Gramm/die (1,8 Gramm/die) gesteigert. Nach Wir- kungseintritt wird wieder langsam reduziert bis zu einer Erhaltungs-
1884 Heft 25 vom 19. Juni 1975 DEUTSCHES ÄRZTE BLATT
1. Antimetaboliten:
Azathioprin Aminopterin
100 — 150 mg/die 2,5 — 5 (7,5) mg/die
Knochenmarkdepression, intrahepatische Cholostasen Schleimhautulzerationen Haarausfall
Imurek®
Methotrexat®
2. Alkylantien:
Cyclophospha- mid
Chlorambucil
150 — 200 mg/die 2 — 8 mg/die
Knochenmarkdepression, Haarausfall Übelkeit, Erbrechen, Schleimhautulzera- tionen
Endoxan®
Leukeran®
3. Antimitotika:
Podophyllin 800 mg per infusionem
die (etwa 3 Wochen)
Übelkeit, Erbrechen,
Thrombophlebitis, Leukopenie Proresid®
dosis, die meist zwischen 0,6 und 0,9 Gramm/die liegt und je nach Krankheitsverlauf über Jahre appli- ziert werden kann. Eine Wirkung ist meist schon nach vier bis acht Wo- chen festzustellen, die sich in einer klinischen Besserung und einer Normalisierung der Laborwerte do- kumentiert, wobei auch die Titer der Rheumafaktoren abfallen kön- nen.
Die Nebenwirkungen der D-Peni- cillaminbehandlung sind besonders in den ersten Monaten nach Thera- piebeginn leider sehr häufig und liegen um 30 Prozent. Am häufig- sten sind Magen-Darm-Störungen und allergische Hautreaktionen, die beide oft schon nach einer Do- sisreduzierung verschwinden, aber auch zu einem zumindest temporä- ren Absetzen der Therapie zwingen können.
Als besonders unangenehm wird eine vermutlich dosisabhängige Hypo- und Ageusie empfunden, deren Ursache nicht geklärt ist.
Auch das Auftreten von anti- nukleären Faktoren kann unter einer D-Penicillamin-Therapie be- obachtet werden. Seltener sind die,
durch Ablagerungen von Immun- komplexen in den Glomerula be- dingten, meist reversiblen Nieren- schäden mit Proteinurie bis zum nephrotischen Syndrom, die Ent- wicklung einer Myasthenia gravis und einer Agranulozytose; bei die- sen Komplikationen ist die Thera- pie sofort einzustellen. Im übrigen
mahnen die genannten Nebenwir- kungen zu einer strengen Indika- tionsstellung für die D-Penicill- amin-Therapie und erfordern regel- mäßige Laborkontrollen, zunächst in zwei-, später vierwöchigen Ab- ständen.
Muß D-Penicillamin wegen Neben- wirkungen abgesetzt werden, kann als Alternative — zunächst aber nur unter strenger klinischer Beob- achtung — die Gabe einer anderen Thiolverbindung, des Mercaptopro- pionyl-Glycin (Thiola®) 2 ), erwogen werden, das nach unseren bisheri- gen Beobachtungen eine ähnliche Wirksamkeit wie D-Penicillamin hat. Es ist aber darauf hinzuwei- sen, daß einzelne Nebenwirkungen dieser Substanz auch bei der Gabe von Thiola® auftreten, insbesonde- re die Hypo- und Ageusie.
Schwierig ist die Frage, ob man bei einer definitiven chronischen Poly- arthritis die Basistherapie mit D- Penicillamin oder Goldpräparaten beginnen soll, haben doch beide Präparate eine ähnliche Wirksam- keit. Wir selbst bevorzugen zuerst die Goldtherapie, da nach unseren Erfahrungen schwere Nebenwir- kungen unter dieser Behandlung wesentlich seltener als unter D-Pe- nicillamin auftreten. Der Nachteil der Chrysotherapie ist der meist spätere Wirkungseintritt. D-Penicill- amin wird von uns eingesetzt, wenn bestimmte Krankheitssym- ptome, wie etwa Vaskulitiden, vor- liegen, oder aber eine Goldtherapie
wegen Wirkungslosigkeit oder Ne- benwirkungen abgesetzt werden mußte.
Die Behandlung mit
lmmunsuppressiva (Zystostatika)
Führen Gold- und D-Penicillamin- Behandlung keine Besserung der chronischen Polyarthritis herbei oder sind sie aus irgendwelchen Gründen kontraindiziert, ist an eine Behandlung mit Immunsuppressiva zu denken, insbesondere wenn es sich um eine progressive Verlaufs- form handelt. Diese Medikamente wirken bei chronischer Polyarthri- tis nicht nur immunsuppressiv, son- dern haben auch einen antiphlogi- stischen und antiproliferativen Ef- fekt.
Als Immunsuppressiva werden in der Rheumatologie alkylierende Substanzen, Antimetaboliten und Antimitotika verwendet. In Tabelle 4 sind die wichtigsten dieser Medi- kamente einschließlich ihrer Dosie- rung und einige ihrer Nebenwir- kungen aufgeführt. Wir setzen vor- wiegend Azathioprin (Imurek ® ) und Chlorambucil (Leukeran®) ein.
Eine differenzierte Indikation für bestimmte Immunsuppressiva bei unterschiedlichen Verlaufsformen der chronischen Polyarthritis gibt es nicht. Lediglich Aminopterin 2) noch nicht im Handel erhältlich
DEUTSCHES .ÄRZTEBLATT' Heft 25 vom 19. Juni 1975 1885
Aktuelle Medizin
Therapie der chronischen Polyarthritis
(Methotrexat®) wird bevorzugt bei bei der Psoriasisarthritis angewen- det.
Wegen verschiedener Nebenwir- kungen während einer Therapie mit Immunsuppressiva wie Störung der immunologischen Abwehrlage mit Neigungen zu Infekten sowie Störungen der Hämatopoese sind Kontrollen der klinischen und La- borbefunde in etwa 14tägigen Ab- ständen unbedingt erforderlich.
Das' Risiko einer vermehrten Tumor- rate bei chronischer Polyarthritis kann heute noch nicht überblickt werden, scheint aber nach den bis- herigen Beobachtungen relativ ge- ring zu sein. Wegen der Gefahr ei- ner teratogenen Wirkung ist bei Frauen im gebärfähigen Alter ge- gebenenfalls die zusätzliche Gabe von Antikonzeptiva erforderlich;
während der Gravidität sind Zyto- statika kontraindiziert.
Die Erfolge der immunsuppressiven Therapie sind nach den bisherigen Erfahrungen recht eindrücklich.
Bei etwa 50 Prozent der Patienten, die auf die Therapie mit Gold, zum Teil auch mit D-Penicillamin, nicht angesprochen haben, erreicht man noch eine deutliche klinische Bes- serung, die bis zur völligen Remis- sion gehen kann.
Die Dauer der Behandlung ist von der Aktivität und dem Verlauf der Erkrankung abhängig. Wir selber bevorzugen eine Langzeittherapie, während von anderen Autoren eine Stoßbehandlung propagiert wird.
Einen grob schematischen Über- blick über die Therapie während des Krankheitsverlaufs gibt Darstel- lung 1, in der auch lokale Maßnah- men berücksichtigt sind.
Lokale Maßnahmen
Zur lokalen Behandlung der Ge- lenkentzündung kommt insbeson- dere beim mono- und oligoartikulä- ren Gelenksbefall eine intraartiku- läre Therapie mit verschiedenen
Substanzen, wie Kortikosteroiden, Zytostatika, Osmiumsäure und Radionukliden in Frage, ferner die chirurgische Entfernung der entzündlich veränderten Synovialis.
Die intraartikuläre Kortikostero- id-Injektion hat einen zwar sehr rasch einsetzenden antiphlogisti- schen Effekt, der jedoch in der Re- gel nur kurz anhält und erneute In- jektionen in meist recht kurzen In- tervallen erforderlich macht. Auch die intraartikuläre Injektion von Zytostatika, wie Thiotepa® und Cyclophosphamid (Endoxan®) weist meist nur einen kurzfristigen Effekt auf. Länger wirksam ist die Instillation einprozentiger Osmium- säure in das Gelenk. Unter dieser Therapie kommt es in etwa 50 Pro- zent der Fälle zu einer lokalen Re- mission, die im Durchschnitt etwa ein Jahr anhält.
Noch günstiger sind die Effekte der intraartikulären Injektion von Ra- dionukliden, durch die es zu einer weitgehenden, strahleninduzierten Sklerosierung der Synovialis kommt. Je nach Größe der Gelen- ke verwendet man unterschiedli- che Radioisotope, wie Yttrium-90, Gold-198, Erbium-169. Die Wirk- samkeit dieser Behandlungsmetho- de entspricht etwa der einer chir- urgischen Synovektomie, stellt also eine Alternative zu diesem Eingriff dar. Wir setzen die intraartikuläre Radioisotopentherapie besonders bei älteren Patienten ein, da die Spätschäden bishernoch nicht über- blickt werden können. Bei jugendli- chen Patienten wird man eher Os- miumsäure anwenden. Nach unse- rer Ansicht besteht die Indikation zur chirurgischen Synovektomie, wenn diese Therapie versagt oder zusätzliche Eingriffe am Gelenk vorgenommen werden müssen.
Ist es einmal zu einer weitgehen- den Zerstörung oder Instabilität ei- nes Gelenks gekommen, müssen anderweitige Gelenkoperationen in Erwägung gezogen werden, insbe- sondere wenn der Patient durch die Gelenkschädigung stärker be- hindert ist. Die Art des operativen Eingriffs muß dem Orthopäden
überlassen werden. Bei sehr schweren Gelenkzerstörungen kommt heute vor allem ein völliger oder teilweiser alloplastischer Ge- lenkersatz in Frage; Arthrodesen sind nur noch selten indiziert.
Physikalische Therapie und Ergotherapie
Unter den verschiedenen physika- lisch-therapeutischen Maßnahmen hat bei chronischer Polyarthritis die Krankengymnastik besonderes Gewicht. Sie ist zur Erhaltung und zur Verbesserung der Gelenkfunk- tion sowie zur Stärkung der Mus- kelkraft während der ganzen Krankheitsdauer durchzuführen.
Der Patient sollte täglich ein Übungsprogramm absolvieren, das er bei einer Krankengymnastin er- lernt hat.
Gleiche Ziele wie mit der Kranken- gymnastik werden mit der Ergo- therapie verfolgt. Darüber hinaus versucht man mit ihr, die Selb- ständigkeit des Patienten zu erhal- ten beziehungsweise zu verbes- sern. Schwere Behinderungen ma- chen oft die Verordnung von Hilfs- geräten (aids) erforderlich. Hinwei- se zur Auswahl entsprechender Geräte können, die regionalen Rheumaligen geben.
Die passiven physikalischen Thera- pieformen sind bei der Behandlung der chronischen Polyarthritis selte- ner indiziert. Bei akuten Gelenkent- zündungen kommt die lokale Kryo- therapie in Frage, bei chronischen Schmerzzuständen lokale Wärme- applikationen etwa als Heublumen- wickel oder Fangopackungen.
Auch eine vorsichtig dosierte Hochfrequenz-Behandlung (Kurz- wellen, Ultrakurzwellen) kann in- diziert sein. Bei chronischen Schmerzzuständen haben sich dia- dynamische und Interferenzströme bewährt.
Bettruhe sollte der Patient mög- lichst nur während akuter Schübe der Krankheit einhalten. Hierbei ist
1886 Heft 25 vom 19. Juni 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Operation
• Operation
y
Chloroquin
Gold oder D - Penicillamin
lmmunsuppressiva
Antiphlogistica
Kortikosteroide
„wahrscheinliche" „definitive" „klassische"
chronische Polyarthritis
intraartikuläre Injektionen von: Kortikosteroiden, Radionukliden Operationen : Synovektomie, Arthroplastik
Schematische Darstellung der fortschreitenden Gewebsproliferationen am Gelenk (aus H. Lohnes: Das ABC des Rheu- matismus; erschienen im Schnetztor-Verlag Konstanz)
auf eine zweckmäßige Lagerung zu achten, um Gelenkversteifungen in einer funktionell ungünstigen Stel- lung zu vermeiden. Hüft- und Knie- gelenke sollen in Streckhaltung ge- lagert werden.
Zusätzliche Therapieformen
Weitere Therapiemaßnahmen sind erforderlich, wenn bestimmte Sym- ptome der chronischen Polyarthritis wie beispielsweise eine Anämie in den Vordergrund treten. Besonders erwähnenswert ist die Behandlung depressiver Verstimmungszustän- de, die sich bei der Chronizität der Krankheit als Folge lang anhalten- der Schmerzen und zunehmender Bewegungseinschränkung nicht selten entwickeln und sogar als
Triggermechanismen von Krank- heitsschüben wirken können. Hier kann der Einsatz von Psychophar- maka indiziert sein. Wichtiger ist aber die verständnisvolle Führung durch den Arzt, der dem Patienten Vertrauen in die Besserungsfähig- keit seines Leidens geben sollte.
Balneotheraple
Sogenannte Badekuren sind bei chronischer Polyarthritis nur selten indiziert, zumindest solange der Krankheitsprozeß aktiv ist; er kann durch solche Kuren akzentuiert werden. Dagegen ist eine gelegent- liche Behandlung in einer Spezial- klinik, in der die Therapie überprüft und die Indikation zu besonderen Maßnahmen wie Lokalbehandlun-
gen beziehungsweise operativen Eingriffen gestellt wird, oft von gro- ßem Nutzen. Wichtiger ist eine dauernde ärztliche Kontrolle am Wohnort des Patienten. Sie sollte vom Hausarzt in Zusammenarbeit mit einem entsprechenden Spezia- listen durchgeführt werden.
Anschriften der Verfasser:
Professor Dr. med. Wolfgang Müller Rheumatologische Universitätsklinik CH-4055 Basel
Burgfelderstraße 101
Dr. med. Hans-Jürgen Hettenkofer Evangelisches Krankenhaus Medizinische Abteilung 43 Essen-Werden Pattbergstraße 1
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 25 vom 19.Juni 1975 1887