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Archiv "Die Zukunft der Medizin" (20.02.1975)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen THEMEN DER ZEIT

Es ist gewiß nicht üblich, sich am ersten Geburtstag eines Neugebo- renen große Gedanken über Zu- künftiges zu machen. Daß uns sol- che Gedanken heutzutage dennoch überfallen, zeigt uns an, mit wel- cher Unsicherheit wir das Gewor- dene betrachten, kaum wagen, uns im Besitze sicher zu fühlen, und den Glauben an die Beständigkeit dessen, was wir vollendet haben, nur mit Mühe bewahren. Die Welt um uns tritt in einen rasenden Wandel ein. Man weiß kaum noch, wohin man im Zeitalter der unbe- grenzten Möglichkeiten de facto in Urlaub reisen kann. Revolutionen und Terror hier, Streiks da, Krieg dort. Es scheint nichts mehr sicher in dieser Welt, der es noch nie so gut ging wie heutzutage, die also die Katastrophen, in die sie hinein- gleitet, offenbar mit Fleiß selber hervorruft. „Die Menschen sind zu dumm für Reformen, sie sind nur gerade gescheit genug für Revolu- tionen", meint Hans Habe in sei- nem neuen Buch über Israel zu diesem Thema (Seite 20). In der Tat — alle unsere Schwierigkeiten ließen sich lösen. Das Umweltpro- blem, bei aller Ernsthaftigkeit, mit der wir es betrachten sollten, hat nirgends eine unausweichliche Ka- tastrophe auf Lager. Der Blick in die Zukunft trifft nur eine einzige, riesenhafte, kaum zu meisternde Gefahr: den Menschen selbst in seiner Habgier, seiner Instinktlo- sigkeit (im verhaltenstheoretischen

Sinn gesprochen), seiner Trägheit, in seiner Unfähigkeit, das Glück von morgen durch den Verzicht von heute zu garantieren.

Ich hoffe, es gibt nicht mehr viele unter uns, welche die Düsterheit unserer Zukunft noch nicht erken- nen. Sie wären eben dieser Zukunft Totengräber. Nichts als der Blick auf das Kommende verleiht die

Kraft, ihm auszuweichen, gegen drohende Fluten schützende Däm- me zu errichten. Der einzige Dienst an der kommenden Welt, der un- verzichtbar ist, ist die Gewissens- erforschung, was wir falsch machen angesichts dessen, was schlimm- stenfalls kommen könnte.

Dieser Dienst ist die Therapie, der sich auch diese Festbetrachtung verschrieben hat: ein therapeuti- scher Pessimismus — therapeu- tisch, weil Therapia Dienst heißt und nur noch durch unerbittliches Denken eine Chance besteht.

Dem Wissenschaftler wird bei sol- cher Therapie freilich der Nach- weis seines methodischen Rüst- zeugs abverlangt werden. Vor die .

Therapie haben auch in diesem Fall die Götter die Diagnose ge- setzt, und sie zu stellen, verlangt ein gut Teil Ätiologie. Die einfach- ste ätiologische Betrachtung ist bekanntlich die Hochrechnung, die sich keine Gedanken über die Ur- sachen der Kurvenverläufe macht, sondern das Gesetz der Trägheit voraussetzt, das anzuwenden wir guten Grund haben. Denn die Hi- storie lehrt uns eindringlich, daß Menschen in der Regel die Dinge treiben lassen, bis sich das Gewit- ter über ihnen entlädt. Die destruk- tiven Prozesse im Rom der Cäsa- renzeit, die Politik der Haute volöe im vorrevolutionären Frankreich, die Wirtschaftspolitik der endzwan- ziger Jahre und insbesondere die gesellschaftspolitische Ideenlosig- keit des Bürgertums unserer Ge- genwart sind leider eindrucksvolle Zeugen hierzu. Wenn es dann of- fenbar wird, daß es so nicht weiter- geht, dann meint man, es werde uns schon etwas einfallen. Als ob den Menschen etwas einfiele, wenn sie nicht mit äußerster Anstren- gung ihr Schicksal zu meistern su-

M

echnologische, ökologi- sche, soziologische Faktoren bestimmen das düstere Zu- kunftsbild, das vor unseren Augen steht, und bestimmen auch das Zukunftsbild der Medizin und des ärztlichen Berufes. Die Aufgabe, die den Ärzten in diesem Wand- Jungs- und Entwicklungspro- zeß zufallen könnte, zeichne- te Prof. Schaefer in einem Festvortrag, den er anläßlich der Einweihung der „Deut- schen Akademie für ärztliche Fortbildung" am 9. Oktober 1974 in Kassel hielt.

chen. Der sicherste Lehrer für sie ist die Not. In der eingetretenen Katastrophe regen sich plötzlich die Hirne. Für Reformen, also für eine präventive Therapie der ge- sellschaftlichen Pathologie, ist un- ser Verstand nicht zu haben. Das ist hier in der Gesellschaftspolitik ebenso der Fall wie in der so schmählich vernachlässigten medi- zinischen Prävention der Krank- heit.

Neben der Hochrechnung, die sich auf das Gesetz der Trägheit ver- läßt, ist es eine bescheidene Psy- chologie der Massen, die uns eini- ge Prognosen gestattet. Doch hier bereits verläßt uns jede mathemati- sche Sicherheit. Alles kommt dar- auf an, ob der Diagnostiker die richtigen Modelle des Verständnis- ses solch seelischer Massenpro- zesse in sich bereithält. Unsere Si- cherheit ist nicht sehr groß. Es sind die unvorhersehbaren Emotio- nen, die uns in Verwicklungen stür- zen. Wären zum Beispiel die Ara- ber rational, sie würden die Israelis beauftragen, ihre Wüsten fruchtbar zu machen. Statt dessen bereiten sie den Untergang der einzigen technisch orientierten Zivilisation vor, welche aus bitterer Armut be- scheidenen Wohlstand schaffen könnte. Welche Emotionen werden über die Medizin hereinbrechen? >

Die Zukunft der Medizin

Hans Schaefer

520 Heft 8 vom 20. Februar 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Die Zukunft der Medizin

Denn alle rationale Prognostik, auch hinsichtlich der Zukunft der Medizin, wird zuschanden vor den Unbedachtsamkeiten, mit denen der Mensch zu handeln pflegt. Der Neid, so lehrte uns Schoeck, ist die mächtigste Triebfeder sozialer Pro- zesse. In Rückkopplungskreisen bilden sich komplizierte Komplexe von Massenwahn, gesteuert von Vorurteil, Neid und Eigenliebe der Menschen. Siegmund Freud hat in einer bemerkenswerten Abhand- lung über „einige Schwierigkeiten der Psychoanalyse" darauf auf- merksam gemacht, daß der Mensch nichts schlechter erträgt, als wenn er aus dem Zentrum der Welt verbannt wird. Der einhellige Widerstand der gebildeten Welt ge- gen Kopernikus und seinen Pro- pheten Galilei war ein Ausfluß die- ses Narzißmus (wie Freud es nennt) und nicht etwa eine Intrige der katholischen Kirche, die an die- ser Entwicklung nur am Rande be- teiligt war. Lassen Sie uns also die emotionale Verwobenheit un- serer Zukunftsperspektiven skiz- zieren.

Unsere Träume

Unser Lieblingswunsch ist längst Realität geworden: die Beherr- schung der Natur. Was wirklich sonst nur Inhalt von Träumen war:

Das Gefühl des Dahinfliegens ohne jede körperliche Schwere ist Wirk- lichkeit. Wir drücken auf einen Knopf, und Hunderte von Tonnen bewegen sich auf diesen Befehl.

Wer als medizinischer Gutachter heute noch „Schwerarbeit" im Sin- ne des Gesetzes kontestieren soll- te, der müßte auf andere Kennzei- chen ausweichen, auf Streß, Mono- tonie, deren Folgen freilich ge- sundheitlich weit schädlicher sind, selbst wenn auch die schwere Kör- perarbeit keinesfalls den Glanz der Lebensverlängerung beanspruchen darf, den man in der Rehabilita- tionstherapie heute dieser Arbeit zuschreibt.

Dieser technische Traum bringt überall in unserem Beruf Wunder

hervor, täglich neu und überra- schend. Das Werk, dessen Beginn wir hier feiern, wird unter anderem immer wieder von dieser Wunder- welt, die in nie gekanntem Ausmaß den Defekt des Leiblichen mit

„Prothesen" heilt, Zeugnis ablegen müssen, Prothesen im griechi- schen Wortsinn: Maschinen, die für etwas anderes eintreten, das die Natur vernichtet hatte, gleich ob es Hormone, Herzklappen, künstliche Glieder, künstliche Nieren sind. Die Funktion der Kraftmaschinen in un- seren Organen ist imitierbar ge- worden, sei es physikalisch, sei es chemisch. Das einzige, was noch nicht imitierbar, ersetzbar ist und es vermutlich niemals vollständig sein wird, ist die Leistung jener Or- gane, die das „information enge- neering" bewirken, um in der Spra- che der Technik zu reden. Sinnes- organe und zentrale Schaltungen sind nicht reparierbar. Aber auch hier wurden zwei Wege gebahnt, deren Erfolg noch nicht abzusehen ist: die Unterstützung der Sinne durch Sinnesverstärker, wie es die Hörapparate sind, und durch Sin- nestransformatoren, wie die Appa- rate, welche dem Blinden über Ta- sten und Hören einen Anschluß an die normale Welt der Erfahrung ge- statten. Es ist ferner der neue Weg der Übung defekter zentraler Lei- stungen, begrenzt zwar, aber nicht aussichtslos und gerade in der Prävention des postnatalen Trau- mas von Erfolgen gekrönt, die man sich nie hätte träumen lassen. Wir können weit mehr wieder erlernen, als wir je geglaubt hatten.

Das Wunder der operativ und ap- parativ heilenden Medizin wird er- gänzt durch die gewaltigen Fort- schritte einer technisch sich ver- vollkommnenden Psychosomatik.

Ich bin mir darüber klar, daß hier Widerspruch entsteht, und ich möchte keinen Moment mißver- standen werden. Jene spekulative Theorie der Medizin, die Weit- brecht vor Jahren mit Recht in sei- nem Büchlein gegen die Psychoso- matik verspottete, ist ebenso pro- blematisch wie jene spekulative Medizinsoziologie, die uns nicht nur mit falschen Statistiken (zum

Beispiel über Unfallzahlen bei uns und in Ostblockstaaten) hinters Licht führt, sondern alle Krankheit aus gesellschaftlichen Ursachen mit der Konsequenz ableitet, um gesünder zu werden, müßte die Gesellschaftsordnung geändert werden. Ich meine vielmehr jene experimentell durchgetestete Psy- chosomatik, deren Thesen sich seit Jahren im Tierversuch ebenso er- härten ließen wie das Gedankenge- bäude der sogenannten Schulme- dizin durch die Pathophysiologie.

Die Wirkungsflüsse von Streß, Aufregung, fear and resentment, Angst, Hetze, Einsamkeit, um nur einige Faktoren dieser experimen- tellen Ergebnisse zu nennen, sind neurophysiologisch, hormonell und phänomenologisch gleich gut der Erfahrung zugänglich gemacht worden. Es gibt das, was ich eine Soziophysiologie zu nennen vor- schlage, und läßt sich im Tierver- such behandeln. Wir wissen zum Beispiel, wie ein Infarkt, eine Hy- pertonie oder ein Ulcus ventriculi zustande kommt. Es dürfte zu den größten Erfolgen der gegenwärti- gen Medizin gehören, daß die Ver- haltensphysiologie diese experi- mentelle Grundlegung einer So- ziopsychosomatik nunmehr liefert.

Vielleicht erstaunt es, daß ich nicht längst die Fortschritte der Diagno- se gerühmt habe. Die Fortschritte der Diagnostik bewegen sich aber in eine Richtung, die aus mehreren Gründen problematisch ist. Da hier eines der wichtigsten Probleme ei- ner zukünftigen Medizin liegt, las- sen Sie uns einen Moment bei ihm verweilen.

Diagnostische Technik

Eine Diagnose ist im Grunde in der Medizin nie mehr als eine „Hand- lungsanweisung" für den Arzt ge- wesen, eben das, was die Götter vor die Therapie gesetzt haben.

Nun kann diese Handlungsanwei- sung zwei sehr verschiedene theo- retische Grundlagen haben. Deren erste ist, daß die Diagnose die Ätiologie oder (im zumeist vorlie- genden Falle) das Spektrum der

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 8 vom 20. Februar 1975 521

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen

Die Zukunft der Medizin

Ätiologien einer nnultifaktoriellen Genese feststellt. Im Idealfall kann der Arzt dann die Ursache der Krankheit bekämpfen, bei Infekten zum Beispiel Antibiotika geben oder Abwehrkräfte therapeutisch herstellen. Diese Möglichkeit der Beseitigung von Ätiologien ist aber, wie gesagt, nur im Idealfall möglich. Die große Mehrzahl von Ätiologien läßt sich nicht (mehr) beseitigen, da entweder der Prozeß der Krankheit bereits läuft oder die Ätiologie nicht ausschaltbar ist.

Läuft der Prozeß, so kann die Dia- gnose nur die pathogenetischen Abläufe in ihrer Maschinerie erfas- sen, und der Arzt kann einige die- ser Wirkungsflüsse unterbrechen.

Bekanntlich nennen wir solche Therapie oft ebenfalls kausal. Sie ist im Grunde aber nur symptoma- tisch.

Wir wollen nun nicht spitzfindig sein. Für unser Problem einer Me- dizin der Zukunft ist aber die Sach- lage in folgender Hinsicht bedeut- sam: Diagnose bedeutet in der bis- herigen Medizin in der Regel die Suche nach dem „Sitz" der Krank- heit, so wie es bereits Morgagni 1761 in seiner Schrift „de sedibus et causis morborum" vorgedacht hatte. Da dieser Sitz gerade bei

„internen" Erkrankungen verhüllt zu sein pflegt, ist die internistische Diagnostik in der Tat so etwas wie ein Kriminalstück, was den Reiz und die dem Fach eigentümliche Spannung der inneren Medizin ausmacht. Die technische Zu- kunftsentwicklung der Medizin wird hier sicher weitere Möglichkeiten zu den derzeit schon vorhandenen hinzufügen, und das Vorhandene grenzt bereits ans Phantastische.

Das Grundprinzip solcher Diagno- stik besteht darin, die Änderungen biologischer Funktionen, welche uns die Pathophysiologie vermuten läßt, meßbar zu machen. Wenn man bedenkt, wie beharrlich sich gerade fundamentale Funktionen wie das Minutenvolumen, die Ge- fäßweite, die intrakardialen Strö- mungsverhältnisse, Widerstände und Wandkonfigurationen, die Ma- gen- und Darmbewegungen, die

Funktionen der Blasenentleerung, die Integrität innerer Organwan- dungen, des Magens etwa, der di- rekten Beobachtung entzogen ha- ben, dann versteht man, was in sol- cher Funktionsdiagnostik die Ultra- schallmessung, die Kathetermetho- den, die Kontrastdarstellung der Arterien, die Heidelberger Magen- kapsel, die Gastrokamera, die Bla- sen- und Ureterspiegelung mit Glasfibern für uns Ärzte bedeutet haben. Es bleibt noch viel zu tun.

Doch was auch immer geschehen mag: Die bisherige Erfahrung lehrt, daß die Erfassung abnormer Zu- stände sich immer stärker auf die Früherkennung verlagert und da- durch technisch schwieriger_und fi- nanziell aufwendiger wird. Zwar gibt es von dieser Regel Ausnah- men, wie zum Beispiel die Bestim- mungsmethoden des Harnzuckers oder die Fermentdiagnostik des In- farktes, aber sie bestätigen nur die Regel, daß einer jeden Verfeine- rung der Beobachtung die in nach oben gekrümmter Kurve ansteigen- den Kosten der gesetzlichen Kran- kenversicherung entsprechen, die selbst dann annähernd exponenti- ell zunehmen, wenn man sie in Prozent des Bruttosozialproduktes ausdrückt.

Die Situation verschärft sich ange- sichts folgender Tatsachen: Jede Therapie kommt im Grunde zu spät. Prävention wäre also die Ide- allösung der modernen Medizin.

Diese Prävention hätte nur Sinn, wenn sie sich auf häufige Krank-

heiten richtet. Es sind nur wenige Krankheiten, welche häufig vorkommen. Unter den Todesursachen sind eigentlich nur die Kreislaufkrankheiten, Bron- chitis und Lungenkarzinom, andere bösartige Tumoren, Leberzirrhose und Verkehrsunfälle anzuführen.

Von all diesen Krankheiten gibt es aber keine wirksamen Methoden der Früherkennung, wohl aber eine gut fundierte ätiologische Theorie.

Es gibt nur fünf Krankheitsgrup- pen, mit den häufigsten Krankhei- ten weitgehend identisch, welche an Häufigkeit als Todesursache er- heblich zunehmen und dadurch die sinkende Lebenserwartung der

Männer ausschließlich bedingen:

der Infarkt, das Bronchialkarzinom und die Bronchitis, die Leberzir- rhose und die Verkehrsunfälle. Von allen fünf Krankheitsgruppen ist er- wiesen, daß die Ätiologie fast aus- schließlich soziale Faktoren sind, und zwar vornehmlich solche eines gesellschaftlich vorgeprägten fal- schen Verhaltens. Diese Ätiologien sind: psychosozialer Streß, Fehl- ernährung, Rauchen, Alkohomiß- brauch, Fehlverhalten im Verkehr und Luftverschmutzung. Die Reihen- folge deutet die Größe der jeweili- gen relativen Risikoträchtigkeit an.

Um diese dominierenden Ätiologi- en der Krankheiten festzustellen, bedarf es keiner aufwendigen ap- parativen Diagnostik. Der Fragebo- gen ist das geeignete Meßinstru- ment. Was die diagnostische Effi- zienz anlangt, wäre also die soge- nannte Labormedizin nicht auf dem besten Weg.

Man darf aber die Lage, wenn auch wohl etwas überspitzt, so ausdrük- ken: Alle jene zahllosen Krankhei- ten, bei denen es nicht gelungen

ist, sie durch gesundheitsgerechtes Verhalten von Gesellschaft und In- dividuen zu verhindern, kann man nur symptomatisch diagnostizieren und behandeln. Und diese Diagno- stik wird, je früher sie zum Ziel füh- ren soll, um so aufwendiger. Wir selbst verhalten uns gesundheits- schädigend, werden aber unter- schiedlich rasch davon krank. Um diese Unterschiede der Individuen in ihrer „Selbstschädigung" recht- zeitig zu erfassen, geben wir Mil- liardenbeträge aus. Diese Situation muß sich im Laufe der kommenden Jahrzehnte verstärken, da die ätio- logischen Faktoren mit der wach- senden Technisierung der Welt ebenfalls wachsen, die Ansprüche an eine Behandlung solcher Selbstschädigungen steigen, die Möglichkeiten dieser Behandlung in Diagnose und Therapie sich ver- bessern und verteuern. Wir treiben uns mit Vorsatz und sozusagen se- henden Auges in eine immens wachsende Kostenlawine, die be- kanntlich jeder selber bezahlen muß, gerade auch der ärmste Ar-

522 Heft 8 vom 20. Februar 1975 DEUTSCHES ARZTEBLA'IT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

beiter. Es werden, so offenbar kürzlich wieder, riesige Summen zur sorgfältigen Betonierung der falschen diagnostischen Straßen von der Regierung bereitgestellt.

Wir betreiben unter der Flagge des Sozialismus die Expropriierung ge- rade der Ärmsten, die ihr Geld da- für am wenigsten aufbringen kön- nen, sich selbst vorsätzlich zu schädigen, und für die Kosten des allgemeinen wohlstandsbedingten Unverstandes dennoch mitleidslos zur Kasse gebeten werden.

Das ist die nüchterne Wahrheit, eine Teilwahrheit natürlich, wie das für alle Aussagen über Teilproble- me zutrifft, welche letztlich nur im größeren Zusammenhang beurteil- bar sind.

Die Prognose der Medizin

Um sich der Wahrheit des Ganzen besser anzunähern, gelte es also, der Medizin eine Art totaler Pro- gnose zu stellen. Nun möchte ich gerade diese Totalprognose mit ei- ner Wahrscheinlichkeitsbetrach- tung beginnen, welche den Totalef- fekt dieser Medizin im Auge hat. Es wird in Zukunftsbetrachtungen im- mer wieder behauptet, wir gingen teils einer besseren Welt entgegen, teils werde unser Leben sich schon bald auf 100, wenn nicht 150 Jahre verlängern und dabei lebenswert bleiben.

Es kann aber nicht eindringlich genug gesagt werden, daß es auch nicht den Schatten eines Hinwei- ses dafür gibt, daß diese beiden Prognosen berechtigt sind. Die Menschheit hat noch nie so viel von sich, der Struktur ihrer Gesell- schaft. den soziologischen und physiologischen Grundlagen ihres Verhaltens, von Friedens- und Kon- fliktbedingungen gewußt wie heute.

Wie jeder Blick in eine Tageszei- tung lehrt, nehmen Kriminalität und Bestialität fast auf mittelalterliche Größenordnungen zu, schwindet die Hoffnung auf die Realisierung dessen, was sanftmütige Philoso- phen Humanismus nennen, weiter dahin. Der Terror feiert überall

Die Zukunft der Medizin

Triumphe. Die Kriege sind trotz des nuklearen Patt nicht ausgerot- tet, sondern bestehen in konventio- neller Form weiter, Revolutionen überall an der Stelle von Reformen, das geistige Element der Bevölke- rung ist ohnmächtig wie eh und je, es sei denn, Politiker verstünden sich als Repräsentanten des Gei- stes, was sie nur in wenigen Aus-

nahmen sind.

Die Chancen des Chaos wachsen.

Die Lebenserwartung sinkt, das heißt, die Mortalitäten steigen bei einigen Krankheiten so sehr, daß sie den Gewinn überspielen, der in der Senkung der Mortalität der meisten (freilich meist der seltene- ren) Krankheiten liegt. Das trifft auch auf die weiblichen Individuen zu.

Ich weiß nicht, ob es ein Grund zu Optimismus oder zu Pessimismus sein könnte, wenn man mit guten Gründen feststellen kann, daß für alle diese deletären Entwicklungen realisierbare Gegenmaßnahmen zur Verfügung stünden.

Ich will das „weite Feld" der po- litischen Utopien hier ausklam- mern. Aber ich glaube daran, daß Katastrophen nicht im Sinne des physischen Zwanges notwendig sind. Nicht einmal für unsere Um- weltprobleme trifft das zu, wie ein soeben erscheinendes Buch einer von mir geleiteten Arbeitsgruppe im Umschau-Verlag darlegt. Kei- nesfalls aber ist das Absinken der Lebenserwartung physisch be- gründbar. Es ist eine Folge unse- rer Mentalität.

Wird fortgesetzt

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Hans Schaefer 69 Heidelberg

Im Neuenheimer Feld

AUS DEM BUNDESTAG

Kein neues

Sterbehilfe-Recht

Unter "passiver Sterbehilfe" kann man sehr verschiedene ärztliche Handlungen und Unterlassungen verstehen, deren rechtliche Beur- teilung vom Einzelfall abhängt.

Dies erklärte der Parlamentarische Staatssekretär des Bundesjustizmi- nisteriums, Dr. Hans de With, auf Grund einer Anfrage der CSU-Bun- destagsabgeordneten Frau Ursula Schleicher. De With sagte: „Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang ein Arzt eine Behandlung seines Patienten fortsetzen muß, hängt jeweils von der Ausgestal- tung des konkreten Einzelfalles ab.

Denn nur soweit er im Einzelfall eine Rechtspflicht zum Handeln hat, kommt hier eine Strafbarkeit des Arztes wegen eines Unterlas- sens in Betracht ... In welchem Maße der behandelnde Arzt die heute vorhandenen technischen Möglichkeiten zu einer unter Um- ständen geringen, aber qualvollen Lebensverlängerung nutzen muß, wird man nur von Fall zu Fall ent- scheiden können. Bemerken kann ich hierzu, daß mir aus der höchstrichterlichen Rechtspre- chung keine Urteile bekannt ge- worden sind, die für das Bedürfnis nach einer korrigierenden gesetzli- chen Regelung sprechen würden."

In jüngster Zeit seien in der Dis- kussion auch jene Fälle erfaßt wor- den, in denen den Sterbenden schmerzlindernde, jedoch infolge ihrer Nebenwirkungen zugleich le- bensverkürzende Medikamente verabreicht worden sind. Soweit derartige Mittel aus ärztlicher Sicht zur Schmerzlinderung gegeben werden müssen, scheide nach herrschender Meinung eine Straf- barkeit des Arztes aus. Dagegen werde sich derjenige wegen eines Tötungsdeliktes zu verantworten haben, der seinem unheilbaren Pa- tienten eine Überdosis eines ent- sprechenden Medikamentes gibt, nicht um die Schmerzen zu lindern, sondern um ihn durch den Tod endgültig von seinem Leiden zu

befreien. HC

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 8 vom 20. Februar 1975 523

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