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Archiv "Gentechnologie und die biologische Zukunft der Menschheit" (27.04.1989)

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DIE ÜBERSICHT

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Die moderne Zivilisation und vor allem unsere Medizin wird Veränderungen in der genetischen Zusammensetzung zu- künftiger Generationen bewirken. Hier gibt es neben den oft diskutierten negativen auch positive Tendenzen, Eine An- wendung von Methoden der Gentechnologie auf den Men- schen wird diese Tendenzen jedoch auch in Zukunft nicht beeinflussen.

Gentechnologie

und die biologische Zukunft der Menschheit

Eine Antwort auf den Beitrag

„Von der Züchtung zur Gentechnologie"

von Dr. K. Mampell in Heft 47/1988 Friedrich Vogel

I

n seinem Beitrag „Von der Züchtung zur Gentechnolo- gie" weist Dr. Klaus Mampell auf Probleme hin, vor die uns die Veränderungen der Le- bensbedingungen in der Neuzeit, vor allem auch die Entwicklung der mo- dernen Medizin, gestellt haben. Er stellt eine Hypothese als Faktum dar, wonach diese Entwicklung zur Folge habe, daß sich das Erbgut der Bevölkerung durch Nachlassen der natürlichen Selektion laufend ver- schlechtere. Eine Rettung sieht er für die Zukunft in der Einführung gesunder Gene in das menschliche Genom durch gentechnologische Methoden. Der Beitrag ist zweifellos

„gut gemeint"; offenbar möchte der Autor helfen, die heute allgemein verbreitete Angst vor den Methoden der Molekularbiologie abzubauen, indem er - wenn auch an einem un- geeigneten Beispiel - auf den unbe- streitbaren Nutzen dieser Methoden hinweist. Aber auch hier gilt - wie so oft - das bekannte Wort unseres Kol- legen Gottfried Benn: Gut gemeint ist das Gegenteil von gut. So hat der Artikel eine Reihe von Leserbriefen ausgelöst, in denen seinen Aussagen leidenschaftlich widersprochen wird, unter anderem auch von Humange- netikern (vgl. Zerres; Wolff, in Heft 10/1989). Und in der Tat - er enthält Behauptungen, die so nicht stehen- bleiben können.

Mehrere Mitarbeiter des Insti- tutes für Humangenetik und Anthropologie Heidelberg hat- ten zu dem Beitrag von Dr.

Mampell eine gemeinsame Le- serzuschrift verfaßt. Diese Zu- schrift war so umfangreich, daß sie erheblich hätte gekürzt wer- den müssen. Aus diesem Grund ist die Redaktion mit Professor Vogel übereinge- kommen, diese Zuschrift durch den nachfolgenden Beitrag zu ersetzen. MWR

Die Erfolge der modernen Medizin werden Folgen für die genetische Zusammensetzung zukünftiger

Bevölkerungen haben

Es trifft zweifellos zu, daß die Medizin „jetzt und schon seit langem zur Veränderung des Erbgutes der Bevölkerung beiträgt." Nicht richtig ist jedoch die These, wonach diese Veränderung immer nur „in einer Richtung", das heißt nach der nega- tiven Seite hin erfolge. Das Problem, wie die Veränderungen der Lebens- bedingungen in der Neuzeit die ge- netische Zusammensetzung zukünf-

tiger Generationen verändern wer- den, ist im Gegenteil äußerst kom- plex und unter Humangenetikern oft diskutiert (vgl. Vogel, 1989; Vogel und Motulsky, 1986). Neben ungün- stigen hat man hier auch günstige Tendenzen ausgemacht. Beide Ten- denzen betreffen alle drei Hauptfak- toren, durch welche die genetische Zusammensetzung von Populationen beeinflußt wird: Die Zahl der (meist schädlichen) Neumutationen; die natürliche Selektion; und schließlich noch zufällige Verschiebungen von Genhäufigkeiten ( = genetic drift).

Um gleich mit den ungünstigen Tendenzen in der natürlichen Selek- tion anzufangen, die den Autor of- fenbar am meisten beunruhigen: Der Zunahme der Erbkrankheiten infol- ge besserer Behandlung. Daß Träger genetisch bedingter Erkrankungen heute häufiger überleben und sich öfter fortpflanzen können als früher, trifft für einige Erkrankungen zu; al- lerdings würde man sich als medizi- nischer Genetiker wünschen, daß noch bei wesentlich mehr Erbkrank- heiten wirklich befriedigende Thera- pie-Erfolge erzielt würden - dann brauchten wir uns nämlich nicht mit den ethisch außerordentlich unbe- Institut für Humengenetik und Anthro- pologie (Direktor: Professor Dr. med.

Dr. h. c. Friedrich Vogel) der Ruprecht- Karls-Universität Heidelberg

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friedigenden Problemen der „sekun- dären Prävention" durch pränatale Diagnostik und anschließenden Schwangerschaftsabbruch herumzu- schlagen.

Aber selbst an dem, nach Mam- pells Meinung „krassen" Beispiel, dem Retinoblastom, kann man zei- gen, daß die Dinge in Wirklichkeit viel komplexer liegen. In der Praxis der genetischen Beratung kann man zwei Situationen unterscheiden — Fälle, in denen ein erhöhtes Risiko für ein erwartetes Kind schon be- kannt ist, und andere, in denen es nicht bekannt ist. Zur ersten Katego- rie gehören alle solchen, in denen bereits mindestens ein weiterer Fall unter nahen Verwandten, meist El- tern oder Geschwistern, aufgetreten war. Hier kann man bei gefährdeten Kindern durch regelmäßige augen- ärztliche Untersuchung das Auftre- ten eines Tumors schon beim ersten erkrankten Auge so früh erkennen, daß eine Heilung praktisch mit Si- cherheit möglich ist — meist unter Er- haltung des Augenlichtes selbst am erkrankten Auge.

Bei der zweiten, größeren Kate- gorie ist ein besonderes Risiko nicht vorauszusehen, weil in der Familie noch kein Fall mit dieser Krankheit aufgetreten ist. Hier wird die Dia- gnose später gestellt; so ist es viel- fach nicht möglich, das befallene Au- ge zu retten. Es muß enukleiert wer- den. Man wird nun aber das andere Auge um so sorgfältiger überwachen und es, wenn es erkrankt, in der Re- gel unter Erhaltung der Sehfähigkeit heilen können. Nun sind keineswegs alle Fälle von Retinoblastom domi- nant erblich; im Gegenteil: Die Mehrzahl der einseitigen Fälle ist nicht erblich. Trotzdem führt die bessere Heilbarkeit auch der erbli- chen Fälle im Laufe der Zeit — eine gleichbleibende Mutationshäufigkeit vorausgesetzt — zu einer Zunahme; — jedenfalls dann, wenn nicht andere Faktoren gegensteuern. Ein solcher Faktor ist jedoch die Aufklärung der Betroffenen durch genetische Bera- tung.

Wir können in zunehmendem Umfange beobachten, daß Men- schen, die ihr genetisches Risiko kennen, aus diesem Grunde völlig von sich aus und aus eigenem Inter-

esse auf Kinder verzichten. Geneti- sche Beratung wird durchgeführt nicht um dieses Zieles — und über- haupt nicht um irgendwelcher „euge- nischer" Ziele willen, sondern um den ratsuchenden Familien bei der Lösung ihrer individuellen Probleme zu helfen. Oft — keineswegs immer — wird sich diese individuelle Hilfe aber auf längere Sicht positiv für die Bevölkerung auswirken, indem die Zahl von Genen, die bestimmte Krankheiten hervorrufen, sich ver- mindert.

Die zystische Pankreas- fibrose (Mukoviszidose) und das

Hardy-Weinberg-Gesetz

Das gilt zunächst nicht für das zweite Beispiel, das Mampell an- führt: Die zystische Pankreasfibrose (Mukoviszidose). Diese Krankheit ist autosomal rezessiv erblich; das heißt, die Patienten sind homozygot für dieses Gen. Sie besitzen es also in doppelter Dosis und müssen von je- dem Elternteil ein solches Gen er- erbt haben. Leider sind hier die the- rapeutischen Möglichkeiten noch sehr begrenzt. Immerhin können manche der Patienten das Erwachse- nenalter erreichen und auch selbst Kinder haben.

Nehmen wir einmal an, Homo- zygote eines rezessiven Erbleidens würden durch ärztliche Therapie in den Stand gesetzt, sich normal fort- zupflanzen. Jeder Homozygote wür- de dann zwei derartige Gene an die nächste Generation vererben. Nun sind aber die allermeisten Gene für rezessive Erbkrankheiten nicht in Homozygoten, sondern in Heterozy- goten vorhanden: Es gilt das soge- nannte Hardy-Weinberg-Gesetz. Die

„Genhäufigkeiten" von zwei Allelen A, a seien p und q (p + q = 1).

Dann haben die Genotypen AA (normal Homozygote), Aa (Hetero- zygote) und aa (homozygote Kranke) die Häufigkeiten p 2, 2pq, q2. Die zy- stische Fibrose ist das häufigste re- zessive Erbleiden in der nordwesteu- ropäischen Bevölkerung; hier gilt et- wa q2 = 1:2500. Daraus folgt: 2pq

1:25. Das heißt, etwa jeder 25. in

unserer Bevölkerung ist für das Gen für zystische Fibrose heterozygot.

Findet er zufällig einen heterozygo- ten Partner, so hat jedes Kind dieses Paares ein Risiko von 25 Prozent, homozygot und krank zu sein.

Möchte Mampell wirklich aus diesem Grunde jedem 25. Gesunden in unserer Bevölkerung „nahelegen, sich sterilisieren zu lassen?" Das kann doch wohl nicht sein Ernst sein.

Schließlich kennt man heute noch ein paar hundert weitere rezessive Erbkrankheiten — manche von ihnen noch völlig unbehandelbar. Wir ha- ben gute Gründe zu vermuten, daß jeder Mensch heterozygot für eines oder mehrere Gene ist, die homozy- got zu einer solchen Krankheit füh- ren (Vogel u. Motulsky, 1986). Sol- len wir uns deshalb alle sterilisieren lassen? Und wo sollen dann die zu- künftigen Menschen herkommen?

Dagegen gibt es heute die Möglich- keit, bei Paaren, wo beide Partner wissen, daß sie heterozygot für das Gen für zystische Fibrose sind, mit Hilfe molekularbiologischer Metho- den die Krankheit des erwarteten Kindes schon in der frühen Schwan- gerschaft zu diagnostizieren. Ange- sichts der in der Tat sehr unbefriedi- genden Therapiemöglichkeiten ist es nicht zu verwundern, daß sich viele von ihnen im Falle einer positiven Diagnose zu einem Schwanger- schaftsabbruch entschließen.

Die Zukunft von Genen für autosomal-rezessive Erbleiden

Nehmen wir aber an, diese Krankheit wäre wirklich befriedi- gend behandelbar; die Geburt von Homozygoten würde nicht verhin- dert, und sie würden eine normale Zahl von Kindern haben. Würde die- ses Gen dann in unserer Bevölke- rung über längere Zeit hin in seiner Häufigkeit zunehmen? Nicht einmal das ist sicher. Einerseits bestände ei- ne Tendenz zur Zunahme durch die natürliche Mutationsrate, wenn He- terozygote wie Homozygote sich

„normal", das heißt, dem Bevöl- kerungsdurchschnitt entsprechend fortpflanzten. Diese Tendenz würde A-1196 (36) Dt. Ärztebl. 86, Heft 17, 27. April 1989

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sogar noch etwas verstärkt, da wir in den hochindustrialisierten Ländern jetzt eine glückliche Zeit durchleben, in der rezessive Erbleiden ganz be- sonders selten sind. Ihre Häufigkeit liegt jetzt insgesamt unterhalb des genetischen Gleichgewichtes zwi- schen Mutation und Selektion. Das ist darauf zurückzuführen, daß im Laufe der letzten zirka hundert Jah- re der Anteil der Ehen zwischen na- hen Verwandten, zum Beispiel Vet- ter und Cousinen, stark zurückge- gangen ist. Dadurch hat sich das Ri- siko entsprechend vermindert, daß Homozygote herausspalten. In Zu- kunft muß das ganz allgemein zu ei- ner Vermehrung rezessiver Gene in Heterozygoten und im Laufe von ei- nigen hundert Generationen auch wieder zu einem Anstieg in der Zahl der Homozygoten führen — wenn nicht andere Mechanismen eine ge- genläufige Tendenz auslösen.

Solche Mechanismen gibt es aber. Nur zwei sollen erwähnt wer- den:

Rezessive Gene sind in ver- schiedenen Bevölkerungen meist verschieden häufig. Auch in Abwe- senheit unterschiedlicher Selektions- faktore a können sich solche Häufig- keitsunterschiede entwickeln — nur durch zufällige Verschiebungen von Genhäufigkeiten ( = „genetic drift").

Nun tendieren aber moderne Bevöl- kerungen mehr und mehr dazu, sich zu vermischen. Das muß zu einer

„Verdünnung" von Genhäufigkeiten führen, wenn in den Ausgangsbevöl- kerungen, die sich vermischen, ver- schiedene Gene häufig waren. Wie man aber mit Hilfe von Unterstufen- mathematik leicht ermitteln kann, wird der Unterschied zwischen q und q2 um so größer, je niedriger die Genhäufigkeit q wird (vgl. oben das Hardy-Weinberg-Gesetz). Die Ver- mischung führt also dazu, daß alle Homozygoten der betroffenen Gene seltener werden. Für das Gen für zy- stische Fibrose gilt das zum Beispiel, wenn etwa Nordwesteuropäer sich stärker mit Südeuropäern vermi- schen oder wenn in den USA eine stärkere Vermischung der weißen mit der schwarzen Bevölkerungs- gruppe eintritt.

O

Bei der letzten Betrachtung wurde davon ausgegangen, daß die

(gesunden) Heterozygoten keiner Selektion unterliegen, und daß die Häufigkeit einer Krankheit in der Bevölkerung durch ein Gleichge- wicht zwischen Mutationsrate und Selektion gegen die homozygot Kranken verursacht sei. Gerade bei der zystischen Fibrose trifft das je- doch wahrscheinlich nicht zu. Wie nämlich gerade neuere molekularge- netische Untersuchungen zeigen, ge- hen die in Nordwesteuropa gefunde- nen Mutationen auf sehr wenige, vielleicht sogar auf eine einzige Mu- tation zurück. Die Mutationshäufig- keit ist unbekannt, aber sie könnte niedrig liegen. Dann muß die große Häufigkeit dieses Gens eine andere Ursache haben — wahrscheinlich ei- nen Selektionsvorteil der Heterozy- goten in Anpassung an die besonde- ren Lebensbedingungen, wie sie in früheren Jahrhunderten und Jahr- tausenden gerade bei uns geherrscht haben. Diejenigen Selektionsfakto- ren, die in der Vergangenheit die ge- netische Zusammensetzung unserer Bevölkerung vor allem bestimmt ha- ben, haben sich unter dem Einfluß der modernen Zivilisation — und un- serer Medizin — wesentlich verän- dert. Neben der Ernährung waren es vor allem die Infektionskrankheiten.

Selektion durch Infektionskrankheiten Das bringt uns auf einen weite- ren wichtigen Aspekt, der bei Pro- gnosen über unsere genetische Zu- kunft behandelt werden sollte. Be- kanntlich starb noch vor 200 Jahren auch bei uns etwa die Hälfte aller Menschen im Laufe von Kindheit und Jugend, also vor Erreichung des fortpflanzungsfähigen Alters, und zwar meistens an Infektionen (für zahlreiche Einzelheiten vgl. Imhof, 1988). So ist es nur vernünftig, mit dem berühmten englischen Geneti- ker J. B. S. Haldane anzunehmen, daß die genetische Zusammenset- zung der heutigen Menschheit weit- gehend in Anpassung an diese Selek- tion entstanden ist.

Im Laufe der Evolution hat sich unter anderem das überaus komple- xe System der Immunabwehr heraus- gebildet. In diesem System kennt

man nun heute eine große Zahl leichterer oder schwererer genetisch bedingter Schwächen. Früher führ- ten sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zum frühen Tod der betroffenen In- dividuen; heute, — im Zeitalter der Antibiotika-Behandlung, — werden sie oft überlebt. Muß das, wenn auch im Laufe sehr langer Zeit, zu einer langsamen Erosion unseres Immun- systems führen — so ähnlich, wie etwa der Grottenolm im Laufe vieler tau- send Generationen in den Karsthöh- len des Balkans seine Sehfähigkeit verloren hat? Für den, der sich um die weitere Zukunft Gedanken macht, sind hier in der Tat Sorgen am Platze. Allerdings — ein Nachlas- sen der Selektion durch Infektions- krankheiten hat nicht nur negative genetische Folgen. Ihnen stehen auch positive Tendenzen gegenüber.

So gibt es bekanntlich in den Subtropen und Tropen zahlreiche Menschen, die an einer leichteren oder schwereren Krankheit der Ery- throzyten leiden, die durch Störun- gen im Proteinanteil des Hämoglo- bins verursacht wird. Synthesestö- rungen der Hb-Ketten führen zu den Thalassämien. Die Synthese struktu- rell abweichender Hb-Ketten hat Hämoglobinopathien zur Folge (für Details, vgl. Vogel u. Motulsky, 1986). Warum sind diese Krank- heiten dort so häufig und bei uns nicht? Diese Frage wurde schon vor über 30 Jahren für die Sichelzellan- ämie präzise beantwortet: Die Hete- rozygoten, die nur geringe hämatolo- gische Anomalien zeigen, sind ge- genüber dem Plasmodium falcipa- rum, dem Erreger der tropischen Malaria, resistenter als normale Ho- mozygote. Sie starben in früheren Zeiten seltener an Malaria. So konn- te das Sichelzellgen häufiger werden und es spalteten mehr Homozygote heraus, die an der schweren Sichel- zellanämie litten. Wie sich inzwi- schen herausgestellt hat, führte ein ähnlicher Selektionsmechanismus auch dazu, daß andere Hämoglobi- nopathien und Thalassämien in ma- lariainfestierten Bereichen unserer Erde häufig wurden — immer mit der Folge, daß homozygot Kranke (oder doppelt Heterozygote) vermehrt her- ausspalteten. Die Natur hatte gewis- sermaßen einen Kompromiß ge-

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schlossen, bei dem das bessere Über- leben der Mehrzahl damit bezahlt wurde, daß eine Minderzahl von Menschen an einer schweren erb- lichen Krankheit zugrunde ging.

Sobald nun die Malariasterblich- keit zurückgeht, verschwindet auch der Selektionsvorteil der Heterozy- goten. Da aber die Homozygoten nach wie vor einen Nachteil haben, muß die Genhäufigkeit abnehmen.

Das Nachlassen der Selektion bringt also für zukünftige Generationen einen Vorteil mit sich: gefährliche Krankheitsgene werden seltener.

Wir haben gute Gründe anzuneh-

Einflüsse auf die Mutationshäufigkeit

Und so ist es auch in anderen Bereichen. Betrachten wir den — ne- ben der Selektion — zweiten wichti- gen Evolutionsfaktor, die Mutation.

Die Mehrzahl der Mutationen sind schädlich. Viele sind „neutral", das heißt, sie bringen weder einen Nut- zen noch einen Schaden mit sich; nur ein kleiner Teil erweist sich in der Evolution als nützlich. Es liegt also in unserem Interesse, die Mutations- rate so niedrig wie möglich zu halten.

Nun bringt die moderne Zivilisation Einflüsse mit sich, die die Mutations- häufigkeit heraufsetzen: ionisieren- de Strahlen und chemische „Mutage- ne". Andererseits aber ist die „spon- tane" Mutationsrate keine Natur- konstante: Für das Vorkommen nu- merischer Chromosomenaberratio- nen in den Keimzellen der Frau steigt zum Beispiel die Wahrschein- lichkeit mit dem Alter an. Einen ähnlichen Anstieg hat man für viele Mutationen einzelner Gene mit dem Alter des Vaters beobachtet. Unsere moderne Lebensweise hat aber zur Folge, daß jedes Paar im Durch- schnitt nur wenige Kinder hat; diese wenigen Geburten drängen sich in einer Altersgruppe zusammen, in der die Mutationswahrscheinlichkeit gering ist. Also wieder eine „günsti- ge" Tendenz. Auch hier steht einer ungünstigen Tendenz (Erhöhung der Mutationsrate) eine günstige, ihre Verminderung, gegenüber.

Wie diese in mehreren Richtun- gen vereinfachte Darstellung zeigen

men, daß die Situation beim Hämo- globin kein Einzelfall ist; wahr- scheinlich ist auch die Anpassung an andere Infektionen über ähnliche Kompromisse verlaufen, die nun- mehr überflüssig geworden sind und sich langsam abbauen. Also eine

„positive" Tendenz.

So gibt es auch hier für den, der auf Grund gegenwärtig erkennbarer Tendenzen in die Zukunft zu blicken versucht, negative wie auch positive Tendenzen; welche von den beiden einmal überwiegen werden, das läßt sich beim besten Willen nicht ab- schätzen.

sollte, ist es keineswegs so, daß unse- re moderne Zivilisation und vor al- lem die Entwicklung von Medizin und Hygiene eine Erhöhung der Erblast und damit eine Vermehrung genetisch bedingter Krankheiten zur Folge haben muß. Den unbestreitba- ren ungünstigen Tendenzen stehen im Gegenteil auch günstige gegen- über; welche auf lange Sicht über- wiegen werden, das hängt von so vie- len Faktoren ab, daß eine Voraussa- ge nicht möglich ist. Eines steht aber fest: Wir passen uns biologisch nicht an irgendeinen hypothetischen Na- turzustand an, sondern an die Welt, in der wir leben. Es kommt also dar- auf an, diese Welt so menschlich wie nur möglich zu gestalten.

Nun aber endlich zur zweiten Frage, die Mampell aufwirft und auch gleich im positiven Sinne beant- wortet:

Kann man die genetische Zusammensetzung der zukünftigen Menschheit durch Genübertragung mit biotechnologischen Methoden verbessern?

Experimentelle Übertragung von Fremdgenen auf künstlichem Wege in das Genom anderer Lebe- wesen oder Zellen ist heute in der Tat bei vielen Arten möglich gewor- den. Man kann entweder ausgewähl- te DNA-Fragmente mechanisch inji- zieren oder sie durch lebende Träger

—etwa Viren — in Zellen hineinbrin- gen und dort auch zur Expression, das heißt, zum Herstellen eines Gen- produktes veranlassen. Das hat Spe- kulationen über die „Verbesserung"

—was immer man sich darunter vor- stellt — künftiger menschlicher Popu- lationen ausgelöst; es hat aber auch Hoffnungen geweckt, man werde einmal erbliche Krankheiten durch Therapie an den Genen selbst sozu- sagen von der Wurzel aus heilen können. Was ist davon zu halten?

Zunächst: Beim Menschen gibt es noch nicht einen einzigen Erfolg, obwohl seit vielen Jahren an dem letztgenannten Problem gearbeitet wird. Deswegen müssen wir uns hier auf theoretische Betrachtungen be- schränken. Man muß vom Konzept her zwei Wege unterscheiden: Gen- therapie an somatischen Zellen und an Keimzellen. Das Ziel der ersten ist es, spezifische DNA in solche Zel- len einzuführen, in denen normaler- weise Gene zur Wirkung kommen, die aber bei den betreffenden Indivi- duen defekt sind. So gibt es einen Enzymdefekt (ADA-Mangel), der zu einer schweren Schädigung der Immunabwehr führt. Das Gen wird normalweise in Knochenmarkszellen exprimiert. So versucht man heute, Knochenmarkszellen von Patienten in Kultur zu nehmen, dann das nor- male ADA-Gen mit Hilfe von Retro- viren in sie einzuführen mit dem Ziel, sie schließlich in den Patienten zu reimplantieren.

Wie gesagt, geglückt ist das noch nicht. Schon vor einigen Jahren hatte French Anderson die komplexen Probleme, die mit dieser Methode verbunden sind, eingehend disku- tiert (Anderson, 1984). Vor allem muß natürlich der alte ärztliche Grundsatz „Primum nil nocere"

sorgfältig beachtet werden. Immer- hin — die meisten Humangenetiker sind heute so optimistisch anzuneh- men, daß eine solche somatische Gentherapie in absehbarer Zeit ge- lingen wird — wenigsten bei einer kleinen Zahl von geeigneten Krank- heiten. Ethische Bedenken dagegen werden auch in der Öffentlichkeit kaum vorgebracht.

Ganz anders sieht es aus mit der Gentherapie an Keimzellen und — häufiger diskutiert — an frisch be- A-1200 (40) Dt. Ärztebl. 86, Heft 17, 27. April 1989

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FÜR SIE REFERIERT

fruchteten Zygoten. Sie ist ganz un- gleich problematischer — vor allem, weil der Erfolg nicht zu überwachen ist. Man sieht einen Mißerfolg oft erst, wenn es zu spät ist, das heißt, wenn ein Fetus entstanden ist, bei dem sich die Folgen einer Panne bei der Anwendung der Methode zeigen

— sei es in Form einer schweren Fehl- bildung, einer Wachstumsstörung, eines bösartigen Tumors, oder was immer. Vor allem aber — für diese Methode ist (fast) keine ärztliche In- dikation denkbar. Definierte Erb- krankheiten sind nämlich das Ergeb- nis Mendelscher Aufspaltung, das heißt, die aus den Keimzellen eines Elternpaares gebildete Zygote hat praktisch niemals ein Risiko von 100 Prozent, Träger einer Krankheit zu sein, sondern das Risiko beträgt oft 25 Prozent, manchmal 50 Prozent.

Man müßte also jede Zygote, etwa im Zweizellstadium, einer kompli- zierten Diagnostik unterwerfen, be- vor man sie „manipulierte". Dann aber ist es doch viel einfacher, an Stelle der zunächst ins Auge gefaß- ten Zygote eine „gesunde" Zygote des gleichen Paares zu verwenden.

Vor allem aus den genannten Gründen wird die Gentherapie an Keimzellen und frühen Zygoten von den meisten Humangenetikern abge- lehnt. Sie sehen es auch nicht als be- sonderes Ziel einer Forschung am Menschen an, hier geeignete Metho- den zu entwickeln.

Wie steht es also mit den Aus- sichten, die Genotypen zukünftiger Generationen mit Hilfe der gezielten Genübertragung zu verbessern?

O Somatische Gentherapie hat für die Kinder der Patienten keiner- lei Folgen, denn die Keimzellen wer- den ja nicht verändert.

Q Für Gentherapie an Keim- zellen besteht keine ärztliche Indika- tion; sie verbietet sich auch wegen der damit verbundenen Risiken.

O Selbst wenn sie einmal mög- lich und in Ausnahmefällen einge- führt werden sollte — die Methoden- situation kann sich ja ändern —, dann wäre die Wirkung, auf die Bevölke- rung als Ganzes bezogen, belanglos.

So enthüllt sich die von Klaus Mam-

pell entwickelte Vorstellung, man könne einem vermuteten geneti- schen Verfall der Menschheit durch Gentherapie entgegenwirken, als Hirngespinst, das sich bei nur etwas näherer Betrachtung in nichts auf- löst. Solche Gehirngespinste zu ver- öffentlichen, ist aber gefährlich: Die Veröffentlichung schadet der Sache, der sie dienen möchte. Bei den Laien

— und wer ist auf solch einem Spe- zialgebiet nicht Laie? — läßt sie näm- lich die Meinung aufkommen, die dort angepeilten Ziele seien auch die Ziele der wissenschaftlichen Hu- mangenetik und ihrer Anwendung in der Medizin. Die Genetik in ihrer Anwendung auf den Menschen be- gegnet heute überall in der Welt ei- nem durch Angst verstärkten Miß- trauen. Diese Angst ist besonders groß bei uns in Deutschland; das ist verständlich, wenn man sich an die unmenschlichen Mißbräuche der Vererbungswissenschaft in der Nazi- zeit erinnert. Die Aufgabe des Wis- senschaftlers und Arztes muß es hier sein, aufzuklären und zu helfen. Bei- träge, wie der von Klaus Mampell bewirken eher das Gegenteil. Sie verwirren und verstärken die Angst.

Literatur

1. Anderson, W. F.: Prospects for human gene therapy. Science 226 (1984) 401-409 2. Imhof, A.: Die Lebenszeit. München. C. H.

Beck Verlag 1988

3. Mampell, K.: Von der Züchtung zur Gen- technologie. Deutsches Ärzteblatt 85, Heft 47 (1988)

4. Vogel, F.: Humangenetik in der Welt von heute. 12 Salzburger Vorlesungen (insbeson- dere Vorlesung Nr. 12) Berlin etc. Springer- Verlag 1989

5. Vogel, F.; Motulsky, A. G.: Human Genetics.

Problems and Approaches (2nd ed.). Berlin etc.: Springer-Verlag 1986

6. Wolff, G.: Leserzuschrift Dtsch. Ärzteblatt 86, Heft 10 (1989)

7. Zerres, K.: Leserzuschrift Dtsch. Ärzteblatt, Heft 10 (1989)

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. h. c.

Friedrich Vogel

Institut für Humangenetik und Anthropologie

der Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 328 6900 Heidelberg

Fructose und Sorbit:

Unnötiges Risiko in der parenteralen Ernährung

In Mitteleuropa werden die Zuckeraustauschstoffe Fructose und Sorbit (außerdem Xylit) immer noch in großen Mengen zur parenteralen Ernährung verwandt, obwohl die physiologische Glucose als relativ

„sicher" gewertet werden muß. Die Gabe von Fettemulsionen vermin- dert das Risiko hyperglykämischer Entgleisungen, die Glucoseintole- ranz ist leichter überwach- und be- handelbar als früher. Somit ist eine wirksame und sichere parenterale Ernährung heute ohne die Zuckerer- satzstoffe möglich, wobei der meist erwähnte Vorteil der Zuckeraus- tauschstoffe der geringere Blutgluco- seanstieg im Vergleich zur Glucose ist; Patienten mit einem Diabetes mellitus benötigen weniger Insulin.

Durch die Verabreichung von Fructose und Sorbit werden Patien- ten mit hereditärer Fructoseintole- ranz (ein Patient auf 20 000 Einwoh- ner) in Todesgefahr gebracht: Hypo- glykämien, Abdominalsymptome, Azidose, Leber- und Nierenversagen und schließlich letaler Schockzu- stand. Mindestens zwölf schwere, meist tödliche Zwischenfälle infolge parenteraler Zufuhr von Fructose oder Sorbit sind vorgekommen, wo- bei die Dunkelziffer an Todesfällen wegen des Nicht-Erkennens eines Zusammenhanges zwischen Nähr- zuckerinfusion und Todesfall deut- lich höher liegen wird. Die festge- stellten Todesfälle haben sich alle in deutschsprachigen Ländern ereig- net, da sich dort die Anwendung von Fructose und Sorbit in der parente- ralen Ernährung konzentriert.

Der Autor fordert daher das

„Verschwinden" fructose- und sor- bithaltiger Infusionslösungen aus den Krankenhausapotheken. mle

U. Keller: Zuckerersatzstoffe Fructose und Sorbit: ein unnötiges Risiko in der paren- teralen Ernährung. Schweiz. med. Wschr.

1989; 119: 101-106

Prof. Dr. U. Keller, Abt. für Stoffwechsel und Endokrinologie, Kantonsspital, CH-4031 Basel

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