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Archiv "Die Zukunft der Medizin" (27.02.1975)

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen

Fortsetzung und Schluß

Dies aber ist nun der Grund, war- um ich den „physischen Optimis- mus" durch einen „psychologischen Pessimismus" ersetze: Es ist nir- gends eine Kraft zu erblicken, wel- che Mentalitäten ändert. Höchstens der physische Zwang der Diktatur scheint das zu können. Die Hoff- nung einiger optimistischer Sozio- logen, es gelte, Änderungen der Gesellschaft einzuführen, welche die gesellschaftlichen Ursachen von Krankheit und gesundheits- schädigendem Verhalten mindern, ist völlig utopisch. Ein Rezept hier- zu ist nirgends zur Hand. Mir scheint daher das verbreitete Zu- kunftsbild wenig realistisch, die wachsenden technischen Erfolge der Medizin, der Medizin in Chrom und Lack sozusagen, würden wei- ter zu steigern sein. Sie werden vielmehr im Integral die Schäden, die außerhalb ihres Wirkungsbe- reichs entstehen, nicht kompensie- ren. Das gleiche trifft auf die Phar- mazie zu. Der Nutzen der Pharma- ka wird heute schon durch Neben- wirkungen erheblich einge- schränkt. Fast alle spektakulären pharmazeutischen Erfolge (zum Beispiel der Antibiotika, der Ne- bennierenrindenhormone) erwei- sen sich auf die Dauer begrenzt in ihrer Wirkung und voller Probleme durch Arzneimittelschäden. Zwar retten wir zahllose Menschenleben mit Hormonsubstitution oder Infekt- abwehr. Aber es gehen andere Menschen an Sekundärphänome- nen zugrunde. Nicht als ob wir auf die Erfolge solcher Therapie ver- zichten sollten oder könnten. Kein Gedanke daran, die pharmazeuti- sche Industrie stillzulegen. Aber allzu große Zukunftshoffnungen hinsichtlich einer weiteren Steige-

rung unserer Lebenschancen sind nicht mehr berechtigt. Die pharma- zeutische Forschung ist längst in das Stadium eines beginnenden gi- gantischen Leerlaufs eingetreten.

Wenn also die Kosten aller Neuent- wicklungen (gerade auch in der Pharmaindustrie!) ständig steigen, so wird man voraussagen können, daß endlich der Durchschnittsbür- ger nicht mehr bereit sein wird, steigende Anteile seines Verdien- stes für sinkende medizinische Effi- zienzen zu opfern, vor allem, wenn andere Heilsapostel paramedizini- scher Art billigere und vielleicht sogar wirkungsvolle Konzepte an- bieten.

Vor diesem Hintergrund erschei- nen einige unserer Zukunftsproble- me sekundär, wie das klassenlose Krankenhaus, die finanzielle Lage der Ärzte, das Problem der ärztli- chen Versorgung überhaupt. So dringend Reformen hier wären (die durchzuführen ebenfalls, getreu nach Hans Habe, die Intelligenz der Beteiligten nicht ausreicht): Die personell-finanziellen Fragen wer- den weit überschattet vom Mangel an medizinischen Diensten einfa- cher Art. Insbesondere Kranken- schwestern, doch auch technische Assistenten, Gymnasten, Physio- therapeuten werden seltener. Ihre Standesorganisationen bemerken die politische Macht, die durch die- sen Mangel begründet wird: Sie werden bald Verdienste fordern, welche das finanzielle Prestige der Ärzte entscheidend bedrohen.

Gleich ob eine politische Soziali- sierung kommt oder nicht: Die Ver- staatlichung der Gesundheitsdien- ste löst meines Erachtens keines dieser Probleme, aber die kalte So-

Hippokrates und sein Erbe

wie im Prognostikon durchbricht die wissenschaftliche Theorie erst- mals die überkommene und unge- nügend kontrollierte Vorstellungs- welt der medizinischen Archaik in Krankheitslehre, Klinik und Pro- gnose.

Es ist dies ein erster bemer- kenswerter Vorstoß, und er beein- druckt uns heute auch dort noch, wo er nicht in allem von Erfolg ge- krönt wird. Wegbereiter zu dieser Leistung waren zwei Jahrhunderte lang einige „Politologen", Physio- logen, Mathematiker und auch Ärz- te gewesen, deren Schriften leider entweder verschollen oder nur bruchstückhaft erhalten sind. Aber erst aus dem Werk des Hippokra- tes läßt sich unmißverständlich er- kennen, daß der wissenschaftliche Logos auch in die Medizin einge- drungen ist.

Darin liegt die wahre Bedeu- tung der Epidemienbücher und des Prognostikons — trotz aller Mängel, die wir uns nie verhehlt haben.

Hippokrates hat in diesen Schriften ein Zusammenwirken von wissen- schaftlicher Theorie und Empirie angestrebt und teilweise auch er- reicht, das von späteren Ärzten als vorbildlich empfunden worden ist, sogar von solchen, die die hippo- kratische Herkunft dieses Ideals längst vergessen hatten. Wir erblik- ken darin das Urbild der abendlän- dischen Medizin oder deren „Idee"

im platonischen Sinn. Aus diesem Grunde wäre es angebracht, wenn die medizinische Fakultät den ech- ten hippokratischen Schriften die- selbe Bedeutung zuerkennte wie die rechtswissenschaftliche Fakul- tät sie dem römischen Recht ein- räumt. Hippokrates ist zwar nicht der „Vater der Medizin" — wie oft behauptet wurde —, wohl aber der Vater der wissenschaftlich-theore- tischen Medizin.

Professor Christian Lichtenthader (Vorabdruck aus dem in Kürze im Deutschen Ärzte-Verlag erscheinen- den Buch „Geschichte der Medi- zin".)

THEMEN DER ZEIT

Die Zukunft der Medizin

Hans Schaefer

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 9 vom 27. Februar 1975 597

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Die Zukunft der Medizin

zialisierung, die vom Schwinden der Dienstbereitschaft der Massen ausgeht, ist eine Macht, der sich niemand widersetzen könnte. Nur ein drastisches Sinken des Wohl- standes könnte einen Wandel brin- gen, aber es wäre mehr als töricht zu glauben, dieser Wandel werde in der Restauration alter Vorrechte enden. Die Unordnung der Welt, ihr fundamentales diabolisches Prinzip (diaballein = durcheinanderwer- fen!) besteht im obligaten und un- gezügelten Egoismus der Men- schen. Er ist auch der obligate To- tengräber der klassischen Medizin, die ja gerade auf den christlichen, antiegoistischen Tugenden der Hil- fe, des Dienens, des eigenen Ver- zichtens aufbaute.

Nun läßt sich gegen diese Progno- se ein entscheidender Einwand machen, der so lautet. Es scheint als ob das wirtschaftliche Wachs- tum einem Grenzwert zustrebe, den zu überschreiten die Umweltsi- tuation verbietet. Machen wir die (keineswegs sichere) Annahme, daß die Menschen bereit sind, die Mühsal solch umweltfreundlichen Verhaltens auf sich zu nehmen, das heißt für ein schadfreies Leben und eine uns ästhetisch derzeit befrie- digendere Umwelt die Produktion einzuschränken. Es entsteht dann sofort das Problem der Arbeitslo- sigkeit. Es werden also neue Pseu- domärkte erfunden werden müs- sen, auf denen etwas verkauft wird, was nicht produziert wurde. Eine solche Ware ist die menschliche Dienstleistung. Man kann das, nach Fourastie, auch so ausdrücken, daß in Zukunft die Zahl der Dienst- leistungsunternehmen zugunsten der Primär- und Sekundärproduk- tion wächst. Der sogenannte tertiä- re Leistungssektor nimmt stetig zu.

In diesem Sektor finden sich nicht viele Formen von Dienstleistungen, deren Expansion uns nützlich er- scheint. Jedenfalls aber gehören Gesundheitsdienste zu ihnen. Um es noch primitiver auszudrücken:

Wenn die Menschen nichts Einträg- licheres mehr zu tun haben, wer- den sie Zeit finden, sich mit ihrer Gesundheit zu beschäftigen. Die- sem Trend kommt natürlich die

Tatsache entgegen, daß in der künftigen Ära die „Beschwerden"

zunehmen werden, zumal „Unbe- hagen als Krankheit" eine schon heute täglich wichtiger werdende Rolle spielt. Es könnte in der Tat immer mehr aus unserer zivilisier- ten Welt ein einziges gigantisches

Krankenhaus werden.

So etwas hatte schon Goethe vor- ausgeahnt, der unter dem 27. Mai 1787 ins Tagebuch seiner italieni- schen Reise eintrug: „Auch ... hal- te ich es für wahr, daß die Humani- tät endlich siegen wird; nur fürchte ich, daß zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des anderen humaner Krankenwärter sein werde."

Es wäre vermessen, in diesem komplizierten Wirkungsgefüge De- tailphänomene voraussagen zu wollen. Es kommt eben immer an- ders als man denkt, und gerade in deletären Situationen werden die Menschen teils bereit, Opfer zu bringen, teils äußerst anfällig für Wundertäter im Gewand wissen- schaftlicher Erfinder. Was die Sen- kung des allgemeinen Wohlstandes vermag, das haben wir bei den leichten Wirtschaftskrisen der letz- ten Jahre gespürt. Selbst der Schwesternmangel, so bedrohlich er heute scheinen könnte, ist nur ein Phänomen übersättigter Öko- nomie. Die Schwesternschulen sind auf ein Jahr bereits im voraus be- legt, so konnte man jüngst lesen, und der Drang in sozial relevante Berufe mit menschlichen Kontak- ten sichert den paraärztlichen Be- rufszweigen der Medizin vermutlich immer einen Zulauf. Der Mensch ist ein Gesellschaftswesen, er braucht den sozialen Kontakt.

Schwierigkeiten lassen sich durch Reformen des Besoldungswesens vielleicht beherrschen. Die Medizin war und wird bleiben ein absolut das Denken der Menschen beherr- schendes Tätigkeitsfeld.

Um so schlimmer freilich könnte es mit der wachsenden Wundergläu- bigkeit werden, die in allen Krisen- zeiten hervorbricht. Wenn die Zei- chen der Zeit nicht trügen, treten

die ersten Risse im Krug der Wis- senschaftsgläubigkeit bereits zuta- ge. Es ist denkbar, daß Wissen- schaft als gesellschaftliches Phä- nomen rascher verpönt wird, als sich das unsere derzeitige Schul- weisheit träumen läßt.

Das hat nun freilich für die Medizin bestimmte und höchst einschnei- dende Konsequenzen. Es war schon bislang, in der Hochzeit ei- ner verwissenschaftlichten Medizin in naturwissenschaftlichem Gewan- de, beinahe unverständlich, wie be- harrlich sich jene Strömungen er- halten haben, die wir Kurpfuscher- tum nennen. Sie sind von der Medi- zin der Universitäten nicht im ge- ringsten beeinträchtigt worden. So- bald das allgemeine Wissen- schaftsverständnis in seiner die Mentalität der Massen formenden Kraft weiter nachläßt, müssen die Heilslehren der Parawissenschaft nur um so stärker werden. Die Su- che der Menschen nach Hilfe in ih- rer Not war zu allen Zeiten von ei- nem glaubensmäßig begründeten Zweig der Heilkunst befriedigt wor- den. Das hat Lain Entralgo nachge- wiesen. Dieser im Prinzip nicht mehr wissenschaftliche Zweig der Medizin wird kräftig unterstützt durch • die begrenzten Erfolge der Medizin. Diese begründen sich zwar in der Tatsache, daß Krank- heit als Folge falschen Verhaltens nicht durch Pillen zu heilen ist. Die Paramedizin hält aber Heilweisen parat, die nicht einmal immer falsch sind. Der Siegeszug Seba- stian Kneipps und seine Bestätigung durch die Epidemiologie der Ame- rikaner in so manchen Punkten sollte uns zu denken geben. Die Zeit der Wunderkuren ist nicht nur nicht zu Ende. Sie scheint einer neuen Blüte entgegen zu gehen.

Auch dies gehört zum Bild einer Medizin der Zukunft.

Der „Utopos"

Wenn wir unsere Gedanken bis an das erreichbare Ende des Vorher- sehbaren schweifen lassen, also eine „Utopie" der Medizin ersin- nen, die bis in den fernsten Blick- 598 Heft 9 vom 27. Februar 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Die Zukunft der Medizin

punkt vordringt, so werden wir gut daran tun, den Pfaden bisheriger Entwicklung zu folgen. Ihre Extra- polation führt uns freilich eine Rei- he spektakulärer Aspekte vor Au- gen. Sie lassen sich auf einen ge- meinsamen Nenner bringen, wenn wir sagen, daß die technischen Möglichkeiten, ungeahnt wie sie zu sein pflegen, die Prozeduren der Medizin noch lange beherrschen werden, soweit es sich um die „of- fizielle" Medizin, die staatlich kon- zessioniert ist, handelt. Die Kran- kenhäuser werden größer, unper- sönlicher, die Labortechnik entklei- det das Arzt-Patient-Verhältnis wei- ter der individuellen und seeli- schen Kontakte, der Computer dringt in alle Bereiche vor, die Per- sonenkennzahl ermöglicht auch den Zugriff zu allen persönlichen Daten, die Intimsphäre reduziert sich, die Kosten steigen, die Quali- tät der diagnostischen und thera- peutischen Methoden wird stärker kontrolliert werden, kurz: Die Ge- sundheitsfabrik steht vor der Tür.

Die poliklinische, zentrale Diagno- stik wird die Bemühungen der praktischen Ärzte ersetzen, teils wegen der Kostenlawine, teils we- gen der Qualitätskontrolle. Das be- deutet bereits eine weitgehende Vergesellschaftung der ärztlichen Tätigkeit. Sie erfolgt Schritt für Schritt und engt den Raum einer wohl noch lange Zeit offiziell kon- zedierten Freiheit des ärztlichen Handelns im praktischen Vollzuge ein. Gesundheit (oder besser:

Krankheit) wird ein weithin verwal- teter, gelenkter Prozeß sein. Ver- mutlich wird sich sogar kaum je- mand darüber aufregen, ebenso- wenig wie über die Eingriffe in den ärztlichen Sektor des Krankenhau- ses, welche von allen politischen Parteien befürwortet werden, also in ihren Tendenzen der Sozialisie- rung kein etwa auf eine Partei be- schränktes Programm sind. Dies ist die Extrapolation der augenblick- lich beobachtbaren Veränderun- gen. Ich gestehe, die Analyse könn- te geistreicher sein und mit einer größeren Menge spektakulärer Hy- pothesen glänzen. Wer den Glanz solcher Hypothesen, die vor 20 Jahren geäußert wurden, heute be-

trachtet, bemerkt jedoch, wie ro- stig er geworden ist. Mit solchen Phantasien erntet der Redner zwar Erfolg, aber er verfehlt die Realität.

Das ist der Grund, warum ich so nüchtern bleibe.

Wir sollten nun angesichts selbst so maßvoller Prognosen eine ele- mentare Tatsache nicht übersehen:

So sehr auch Trägheitsgesetze in dieser Entwicklung vorherrschen mögen, alle Politiker sind zugleich Patienten, und wenn nicht in einer Diktatur ein neues Klassensystem entsteht, wie das in sozialistischen Ländern überall bemerkbar ist, so wird in demokratischer Machtausü- bung sich die in der genetischen Anlage des Menschen begründete Forderung nach gewissen minima- len Existenzbedingungen vermut- lich durchsetzen. Es lohnt den Ver- such, sich über diese unabdingba- ren „Bedürfnisse" des Menschen einige Gedanken zu machen.

Der Mensch korrigiert den Trend Unter den sozialen Eigenschaften des Menschen, welche die Praxis der Medizin berühren, sind es vor- wiegend drei, die mir eine dominie- rende Rolle zu spielen scheinen:

die Hilfs- und Schutzsuche in der persönlichen Not, die Scham mit ihrem Bestreben nach Angleichung der eigenen Erscheinung an das gesellschaftliche Normenverständ- nis (das in seiner sachlichen Be- stimmtheit freilich äußerst variabel und kulturabhängig ist), und der Wunsch nach autoritärer Füh- rung. Alle drei sind, wie man sogleich erkennt, Grundlage eines jeden Herdenverhaltens und also Ausfluß der Tatsache, daß der Mensch ein Zoon politikon ist. Die- se drei Eigenschaften, übersetzt in Bedürfnisse hinsichtlich einer Struktur der medizinischen Versor- gung, würden also fordern: erstens einen Arzt (oder ein Mitglied der medizinischen Institutionen mit of- fenbarem Sachverstand), der dem Individuum unmittelbar gegenüber- tritt. Die „Institution" leistet nicht, was nur das verantwortliche Indivi- duum, das Leittier einer „Herde"

leistet. Zweitens Diskretion, Intim- sphäre dort, wo das Normenbild tangiert wird, insbesondere in der Krankheit und hier ganz besonders in der psychischen Krankheit. Drit- tens den Arzt als Führerpersönlich- keit, der einem sagt, was zu tun ist.

Jedes Gesundheitssystem, welches gegen einen dieser Grundsätze verstößt, wird durch illegale Prakti- ken umgangen, sei es das Cou- vert-System der illegalen Honorie- rung, sei es die Lüge oder die Un- terwerfung unter den Außenseiter oder gar den Quacksalber.

Es scheint mir ausgeschlossen, daß medizinische Strukturen, und seien sie apparativ noch so potent, diese drei Grundanliegen der Men- schen überspielen können. Ein sta- biles Gesundheitssystem wird also immer den persönlichen Arzt er- möglichen müssen. Andernfalls ist es labil. Ich bin der Überzeugung, daß die relative Stabilität unseres derzeitigen Systems in diesen Tat- sachen begründet ist.

Wir dürfen aber im Zusammenhang mit den Bedürfnissen des Men- schen hinsichtlich seiner medizini- schen Versorgung nicht überse- hen, daß eines seiner elementar- sten Bedürfnisse den Einsichten der heutigen Medizin total zuwider- läuft: Der Mensch strebt nach Er- höhung seiner Glücksbilanz. Sein Glück liegt nicht zuletzt im physi- schen Genießen, also in Essen, Trinken, Konsum von Genußgiften aller Art. Steigender Wohlstand und insbesondere steigende Frei- zeit mit steigendem Hang zur Faul- heit und Bewegungsarmut werden den Hang zu solchem Verhalten stärken, insbesondere, da er von allen Faktoren des gesellschaftli- chen Lebens gefördert wird. Über- ernährung und Bewegungsarmut sind Risikofaktoren der Überfluß- gesellschaft. Es kann also nicht eindringlich genug betont werden, daß gegen diese Entwicklung nur eine einzige Kraft mobilisiert wer- den kann: die Verhaltensänderung der potentiellen Patienten, die wir mit Information und Bildung nach bisherigen Erfahrungen nur in sehr geringem Ausmaß erreichen kön-

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 9 vom 27. Februar 1975 599

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Die Zukunft der Medizin

nen. Verhaltensformung ist nach alter Sprachregelung „Erziehung".

Wenn wir Paul Bardts These be- nutzen: „Erziehung ist die Fort- pflanzung der Gesellschaft", und zwar durch Erzeugung konformen Verhaltens.

Erwachsenenerziehung ist ein für unsere Ohren unbequemer Aus- druck. Es muß aber in diesem Zu- sammenhang von den wirksamen Kräften gesprochen werden, wel- che unsere Zukunft beherrschen.

Wenn eine Methode angestrebt wird, welche die von der Laborme- dizin naturwissenschaftlicher Prä- gung nicht mehr erfaßbaren Ge- sundheitsgefahren bekämpfen kann, so nur Erziehung in einem strengen Sinn. Bemerkenswert an dieser Entwicklung wird dann ver- mutlich sein, daß der Durch- schnittsbürger eines Tages die Notwendigkeit solcher Erziehung selber bemerkt, weil deren Unter- lassung zu enormen finanziellen Belastungen des einzelnen führen wird. Dieser gesellschaftliche Druck wirkt dann über das, was man gemeinhin Ethos nennt (Ethos, dem ältesten Wortsinn nach: Land- schaft, und daraus dann das, was in dieser Landschaft als Verpflich- tung gilt). In dieser Entwicklung hebt sich der individuelle Zwang dann gleichsam als allgemein an- erkannte Forderung auf. Der Arzt wird der Mahner des einzelnen, aber auch der Wohltäter der Allge- meinheit, wenn er Verhalten prägt.

Was also immer an Zukunftsphan- tasien bezüglich technischer Su- perstrukturen oder unfreier Über- wachungssysteme ersonnen wer- den mag: Sicher geht der Trend in eine solche Richtung, sicher aber wird er immer wieder in die Rich- tung einer Bedürfnisbefriedigung abgebogen werden. Die Gedanken- losigkeit, mit der man Zukunftsper- spektiven so entwirft, als ob es kei- ne Menschen gäbe, die dabei mit- zureden haben, ist für den Nach- denklichen bedrückend. Die Quint- essenz der korrigierenden Fakto- ren läßt sich auf zwei Begriffe re- duzieren, deren Potenz in der Me- dizin aller Völker und Zeiten nach-

weisbar ist: Die Medizin ist eine elementar humane Wissenschaft und sie gründet sich auf den The-

rapeuten als den persönlich ver- antwortlichen Helfer. Alles andere ist nicht mehr eigentlich Medizin.

Konsequenzen

Daraus folgt vieles, das zu erörtern hier die Zeit fehlt. Zwei Konse- quenzen scheinen mir aber beson- ders bemerkenswert. Die erste lau- tet: Dem Arzt fällt in dieser Situa- tion eine kaum noch zu bewälti- gende Aufgabe zu. Löst er sie nicht, in ihren humanen Aspekten, so wird er durch jemanden ersetzt, der die Aufgabe lösen kann. Im Zeitalter sinkender Wertschätzung der Wissenschaft ist die Rolle des nicht-ärztlichen Heilers rasch ge- schaffen. Die ersten Anzeichen ei- ner solchen Entwicklung sind be- reits spürbar. Videant medici Die zweite Konsequenz betrifft den Patienten. Wenn, wie es scheint, Gesundheit weithin eine Sache sei- nes Verhaltens ist, wird die Summe aller Patienten, das heißt die Ge- sellschaft, auf die Dauer gesund- heitsgerechtes Verhalten zur ge- sellschaftlichen Norm erheben. In manchen gesundheitspolitischen Programmen politischer Parteien kündigt sich Derartiges schon an.

Das aber heißt, daß dem potentiel- len Patienten, dem Durchschnitts- bürger, neue ethische Wertungen zur Pflicht gemacht werden. In die- sem letzten Punkt nun verhalten sich alle am gesellschaftlichen Pro- zeß Beteiligten derzeit häretisch.

Diese Häresie entstammt fast ganz der einseitigen Theorie der Krank- heit, die gleichsam die Grundhäre- sie unserer medizinischen Gegen- wart ist. Sie lautet, daß Krankheit ein körperliches Ereignis ist. Ein Menschenleib aber, der neural und hormonal so eng an die Prozesse seines Gehirns und insbesondere an seine Emotionen angekoppelt ist, ist auf das Engste mit seiner geistigen Sphäre verwoben. Das ist zum Beispiel der Grund, warum es eine medizinische Theologie geben

sollte, deren sich der Arzt mit größtem Gewinn über den Seelsor- ger bedienen könnte. Hierzu gibt es kluge Betrachtungen, zum Bei- spiel von Stollberg. Das ist aber ebenso auch der Grund, warum Theologen und Erzieher den Arzt zu Rate ziehen sollten. Es ist end- lich der Grund dafür, daß der so- zial unansprechbare, irreligiöse und rein auf die Sinnenfreudigkeit verwiesene Mensch unserer Zeit ein kranker Mensch ist, krank zu- nächst an seiner Seele und bald dann an seinem Leibe.

Die tiefe Hoffnungslosigkeit, in die man verfallen könnte, wenn man solche Konsequenzen und die Pro- bleme bedenkt, die daraus fließen, und die niemand anzupacken wagt, diese Hoffnungslosigkeit kann nur durch eines gemildert werden:

durch die Einsicht, daß der Mensch nicht nur ein Zoon politikon, son- dern, paradox genug, auch ein ens rationale ist. Er wird die Ursachen seiner Misere einsehen lernen. Die notwendigen Lernprozesse werden aber vermutlich nur durch bittere Erfahrungen in Gang gebracht. Zu- nächst ist also die Zukunft düster.

Sie wäre um so eher zu erhellen, je mehr Menschen sich auch heute schon bereit fänden, der Medizin der Zukunft ohne Angst und vor al- lem ohne Egoismus zu dienen. Die sacra auri fames, der verfluchte Goldhunger, und, was ebenso schädlich ist, der Hunger nach Ge- nuß ohne Grenzen, mag uns eine Zeit lang frommen, letztlich gräbt er unser Grab. Die Zukunftsper- spektive der Medizin verlangt wie- der höhere Lauterkeit von uns al- len. Das wußten große Ärzte zu al- len Zeiten. Ist nicht unsere Aufga- be bedeutend genug, die Medizin in Wissenschaft und Praxis herrlich genug, um uns zu motivieren?

(Nach einem Vortrag bei der Ein- weihung der „Deutschen Akademie für medizinische Fortbildung" am 9. Oktober 1974 in Kassel.)

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Hans Schaefer 69 Heidelberg

Im Neuenheimer Feld

600 Heft 9 vom 27. Februar 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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