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Archiv "Zukunft des Sozialstaates: Mehr Medizin wagen" (06.03.2015)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 112

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Heft 10

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6. März 2015 A 413

KOMMENTAR

Dr. med. Pedram Emami, MBA, Vorstand der Ärztekammer Hamburg

D

ie Medicin ist eine sociale Wis- senschaft, und die Politik ist weiter nichts, als Medicin im Grossen“, wird der Arzt und Politiker Rudolf Vir- chow gerne zitiert. In der Tat hat die Medizin immer eine prägende Rolle in den Diskussionen um die Zukunft des Sozialstaates gespielt. Andererseits üben aber auch Politik und Wirtschaft einen erheblichen Einfluss auf die Me- dizin aus. So waren die Veränderungen der Krankenhauslandschaft in diesem Jahrtausend politisch getrieben und

ökonomischer Natur. Immer mehr mer- kantile Elemente sollen Einzug in das Gesundheitswesen finden; der Wandel des Krankenhauses zu einem gewöhn- lichen Betrieb wird von dem Glauben vorangetrieben, dass wirtschaftlich fo- kussiertes Denken im Gesundheitswe- sen zu Kostensenkung und zu Quali- tätsverbesserung führt.

Derweil stellt sich dieser Irrglaube als Ursache für eine Entwicklung he- raus, im Zuge derer – bei im Übrigen weiterhin steigenden Ausgaben – eine Diskussion über die Berechtigung von Indikationen, steigenden Eingriffszahlen und Qualitätsaspekten entstanden ist.

In einem solchen System fungiert die Ökonomie eben nicht als Mittel zum Zweck, sondern droht zum Selbstzweck zu werden – und dies in einem Umfeld, in dem es um sovielmehr geht als um Wertschöpfung, Gewinnbestreben und Leistungszahlen.

Als natürliche Folge dieser ökono- misch orientierten Entwicklung im Ge- sundheitswesen hat auch die Ärzte- schaft einen Wandel vollzogen: Sie hat das Diktum der Ökonomie nicht nur to- leriert, sondern sich ihr ungewollt und unbewusst unterworfen, als sie sich durch Protest und Demonstration von Verdi loslöste und für mehr Arbeitneh- merrechte stark machte. Dabei ging es längst nicht ausschließlich um altruisti-

sche Belange wie Patientenwohl und Gemeinwesen. Vielmehr suchten ange- stellte Ärzte die Emanzipation, um nicht länger auf Arbeitnehmerrechte verzich- ten zu müssen; war es doch in der Ver- gangenheit ausgerechnet das Pflicht- bewusstsein gegenüber dem Patienten, das immer wieder zur Erpressung der Ärzteschaft missbraucht wurde. Als Folge hieraus bekannte sich die Ärzte- schaft im Krankenhaus erstmals und eindeutig zum Dasein als Arbeitneh- mer. Waren sie bis dahin die inhaltlich

führenden Köpfe und das Verwaltungs- und das Rechnungswesen stützende Elemente zum Funktionserhalt im Kran- kenhaus, so bestimmten fortan letztere die Geschicke des Krankenhauses.

Mit der Betonung der gewerkschaft- lichen Funktion des Marburger Bundes (MB) bekannten sich nun nicht nur die Ärzte, sondern auch ihre Standesver- treter dazu, Bestandteile eines „moder- nen“ Unternehmens zu sein. Diese Ver- änderung der Selbstwahrnehmung als Arbeitnehmer gipfelte schließlich in der Inanspruchnahme des Streikrechts zur Durchsetzung besserer Arbeitsbedin- gungen, aber auch finanzieller Interes- sen und Wünsche; wobei Ersteres zwar primär dem Arzt, aber mittelbar natür- lich auch dem Patienten zugutekam und -kommt.

Die Gefahr einer ausschließlich ge- werkschaftlichen Orientierung des MB besteht jedoch darin, dass die aktive und gestaltende Rolle als Meinungs- bildner im Gesundheitswesen endgültig gegen eine passive „Angestelltenpositi- on“ aufgeben wird. Wir sollten vielmehr noch einen Schritt weiter gehen und uns nicht nur individuell als Ärztinnen und Ärzte, sondern auch als Interes- senvertretung mit der Frage auseinan- dersetzen, in welcher Form weitere Veränderungen unserer Aufgaben als Verband zu definieren sind.

Voraussetzung dafür ist aber die Er- kenntnis um die Bedeutung der Spra- che und der Spielarten der Ökonomie:

Es ist unsere Pflicht, sie zu lernen, sie zu verstehen und sie vollends zu be- herrschen, um dann bewusst und sachkundig im Sinne des Patienten wie auch des Beitragszahlers nicht nur Strukturen des Krankenhauses, son- dern auch des Gesundheitssystems insgesamt mitzugestalten. Wir sollten uns dabei endgültig von der von Angst und Skepsis geprägten Verweigerungs-

haltung der letzten Dekaden lösen und erkennen, dass dieselbe Sprache zu sprechen, noch lange nicht bedeutet, dieselben Ziele zu verfolgen.

Ganz entscheidend ist dabei aber auch das Bekenntnis zur Medizin über das rein ärztliche hinaus als Bekenntnis zum Sozialen und zum gesellschaftli- chen Zusammenhalt in Zeiten ökono- mischer Unsicherheit und des allge- meinen Gefühls von sozialer Ungerech- tigkeit und Zukunftsangst. Ein wesentli- cher Aspekt ist hier die aktive Anre- gung eines breiten gesellschaftlichen Diskurses darüber, was die Bevölke- rung vom Gesundheitswesen erwartet:

Welche Aufgaben werden verlangt?

Welcher Umfang an Leistungen wird vorausgesetzt? Und welche Rolle spielt das Gesundheitswesen im Kontext des sozialen Gefüges?

Wir Ärzte haben uns ab 2005 ge- häutet, emanzipiert und die Verantwor- tung für uns selbst übernommen. Es ist Zeit, uns noch deutlicher und klarer da- rüber hinaus auch zu unserer wichtigen Rolle in der Gesellschaft zu bekennen und endlich für einen sinnvollen Um- gang mit Ressourcen zu sorgen. Um es klar zu sagen: Es gab genug Ökonomie und Politik in der Medizin, jetzt ist es Zeit für mehr Medizin in der Ökonomie und in der Politik: Es ist an der Zeit, Vir- chow beim Wort zu nehmen.

ZUKUNFT DES SOZIALSTAATES

Mehr Medizin wagen

T H E M E N D E R Z E I T

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