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Archiv "Baden-Württembergischer Ärztetag: Der Arzt – kein Erfüllungsgehilfe der Politik" (29.07.2005)

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P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 3029. Juli 2005 AA2067

D

ie baden-württembergischen Ärzte hoffen, dass nach der vorgezogenen Bundestagswahl auch ein Rich- tungswechsel in der Gesundheitspolitik erfolgen wird. Es müsse Schluss sein mit einer kurzatmigen, in sich nicht konsi- stenten gesundheitspolitischen Interven- tion allein zulasten der Leistungserbrin- ger und derjenigen, die seit Jahren be- trächtliche Sparopfer erbracht haben.

Die Mandatsträger der Landesärztekam- mer Baden-Württemberg setzen auf mehr Klarheit und Berechenbarkeit so- wie austarierte gesetzliche Rahmenbe- dingungen, damit die Ärzte in Praxis und Klinik sich wieder ihrer eigentlichen Auf- gabe zuwenden können.

Fatal wäre es, wenn sofort nach den Septemberwahlen erneut eine uferlose Struktur- und Rationalisierungsdebatte vom Zaum gebrochen würde. Jetzt sei es notwendig, die Finanzen aller Soziallei- stungszweige zu konsolidieren, Obsoletes und reprivatisierbare Leistungen aus dem Pflichtleistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu entfer- nen, damit Gestaltungsfreiräume ge- schaffen werden können. Dringlich sei ei- ne Finanzreform der GKV unter Berück- sichtigung der Nachhaltigkeit und Verläss- lichkeit der Finanzierung auch bei sich dramatisch verschlechternden demogra- phischen Rahmenbedingungen.

Mehrheitlich bezeichneten die Dele- gierten während der 6. Vertreterver- sammlung der Landesärztekammer am 9. Juli in Freiburg das umlagefinanzierte System der GKV als überholt. Die Fi- nanzierung der GKV müsse aufgegeben und die ausschließliche Lohnbezogen- heit überwunden werden. Allerdings sei es wenig realistisch, die beiden wider- streitenden Reform-Optionen – Bürger- versicherung versus solidarische Ge- sundheitsprämie – in ihrer ursprüngli-

chen, konzeptionell überhaupt noch nicht ausgegorenen Version weiter zu verfolgen. Es seien auch Mischmodelle und alternative Lösungen zu prüfen.

Letztlich sei jener Lösungsansatz von der Ärzteschaft zu unterstützen, der eine gute individuelle, bedarfsgerechte und nachhaltig finanzierbare Patientenver- sorgung ermögliche. Dies schließe eine angemessene Beteiligung der Versicher- ten an ihren Krankheitskosten unter Berücksichtigung sozialer Gesichts- punkte aber nicht aus. Die Ärzteschaft könne keinen Reformansatz befürwor- ten, der ausschließlich auf vordergrün- dige Mittelbeschaffung ausgerichtet sei und die Gesamtbevölkerung unter Ein- schluss der Beamten und Selbstständi- gen in die Versicherungspflicht ohne Entscheidungsalternativen zwinge. Al- lein aus Wettbewerbsgründen sei eine leistungsfähige private Krankenversi- cherung (PKV) unverzichtbar, stellte

Ärztekammerpräsidentin Dr. med. Ulri- ke Wahl heraus.

Der Vizepräsident der Landesärzte- kammer, Dr. med. Maximilian Zollner, Bundesvorsitzender des NAV-Virchow- Bundes, sagte, im Blick auf das Modell der Bürgerversicherung, es sei eine Illu- sion, die GKV durch die Einbeziehung der Beamten und der Selbstständigen sanieren zu können. Die Zwangsversi- cherten lösten auch Ansprüche aus; ins- besondere die Leistungsansprüche der kleineren und mittleren Beamten über- stiegen oftmals die Zusatzeinnahmen.

Zollner wies außerdem auf die Lücken im sozialen Netz hin. Fast 200 000 Menschen hätten keinen Versi- cherungsschutz. Das Problem könne sich durch Hartz IV verschärfen: Ar- beitslose könnten den Versicherungs- schutz verlieren, wenn sie keinen An- spruch auf Arbeitslosengeld II oder So- zialhilfe haben. Das treffe auf jene zu, die jetzt kostenfrei in der Familienmit- versicherung versichert seien oder jene, die mit einem Partner zusammenleben, der Einkommen oder Vermögen hat.

Für die Nichtversicherten entfalle die Kopfpauschale, zum Nachteil für die vertragsärztliche Vergütung.

Kapitalgedeckte Versicherung

Einzelne Delegierte plädierten für die Umstellung der umlagefinanzierten GKV auf eine teilkapitalgedeckte Ver- sicherung analog zur so genannten Rie- ster-Rente in der privaten Altersvorsor- ge oder der 1995 gestarteten privaten Pflegepflichtversicherung (die inzwi- schen mehr als zehn Milliarden Euro Alterungsrückstellungen thesauriert hat). Auch im Eckpunktepapier der So- zialdemokraten deute sich ein Umden-

Baden-Württembergischer Ärztetag

Der Arzt – kein Erfüllungsgehilfe der Politik

Ärztekammerpräsidentin Dr. med. Ulrike Wahl

plädiert für einen Richtungswechsel in der Gesundheitspolitik.

Ulrike Wahl: „Ich hoffe, dass die Vernunft siegt und dass die Gesundheitspolitik der neuen Regierung realitätsorientiert, pragma- tisch und vor allem unideologisch sein wird.“

Foto:Kolster/LÄK Baden-Württemberg

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ken insoweit an, als zwar private und ge- setzliche Pflegeversicherung zu einer Bürgerpflegeversicherung zusammen- geführt werden sollen, aber sukzessive ein Kapitalstock nach Äquivalenzprin- zipien gebildet werden soll.

Bei der Podiumsdiskussion unter dem Motto „Wohin steuert die Medi- zin?“ am 8. Juli plädierten sowohl Re- präsentanten der Ärzteschaft als auch Geschäftsführer von regionalen Kran- kenkassen dafür, die GKV als eine Grund- beziehungsweise Vollversiche- rung zu erhalten, aber Abstriche beim Leistungskatalog zu machen. Sämtliche Patienten hätten einen uneinschränk- baren Anspruch auf eine gute und schnelle Behandlung ohne größere Wartelisten, so Ulrike Wahl. Den Versi- cherten müsse die Teilhabe am medizi- nischen Fortschritt garantiert werden.

Allerdings sei nicht alles, was technisch und wissenschaftlich möglich ist, auch finanziell innerhalb des gesetzlichen Sy- stems darstellbar.

Dr. Dorothea Siems, Fachredakteurin der Tageszeitung „Die Welt“, die beim Podium auch die Rolle des Patientenan- waltes übernahm, wünschte sich mehr Wahl- und Entscheidungsmöglichkei- ten, etwa bei Komfortleistungen und vor allem beim Zahnersatz. Der Patient müsse sich uneingeschränkt auf den Ex- pertenrat des medizinischen Fachman- nes – des Arztes – verlassen können.

Formen der Rationierung habe es schon immer gegeben, allerdings mit unter- schiedlichem Wirkungsgrad. Die Ärzte-

repräsentanten kritisierten, dass die Po- litik keine Skrupel habe, den täglichen Einsatz der Ärzte und deren Ethos zu missbrauchen, um Subventionen zugun- sten des Systems einzufordern. Die Krankenhausärzte leisteten beispiels- weise Jahr für Jahr 60 Millionen unbe- zahlte Überstunden, was einem Volu- men von 15 Milliarden Euro entspricht.

Ähnlich sehe die Situation im Ver- tragsärztesektor aus: Im Bereich der

Kassenärztlichen Vereinigung Nord- württemberg (Stuttgart) seien im ver- gangenen Jahr Leistungen im Wert von 60 Millionen Euro erbracht worden, die nicht bezahlt wurden. Die Kassenärztli- che Vereinigung Hessen hat hochge- rechnet, dass das unbezahlte Leistungs- volumen der Vertragsärzte 2004 rund 200 Millionen Euro erreichte.

Prof. Dr. med. Peter Sawicki, Direktor des Instituts für Qualität und Wirtschaft- lichkeit im Gesundheitswesen, sagte, es müsse Schluss gemacht werden mit der Dialektik, Qualität und Wirtschaftlich- keit gegeneinander auszuspielen. Medi- zinische Implementation und Routine- anwendung müssten allerdings wissen- schaftliche Aspekte berücksichtigen. So- lange es gehe, müsse die Rationierung aus dem Gesundheitswesen herausgehal- ten werden. Kein Arzt dürfe in die Rolle gedrängt werden, darüber zu entschei- den, welche Leistungen innerhalb des ge- setzlichen Systems gewährt werden.

Systeme driften auseinander

Prof. Dr. med. Harald Mau, ehemaliger Dekan der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, stell- vertretender Vorsitzender des NAV- Virchow-Bundes, warnte vor einem Aus- einanderdriften der beiden weitgehend abgeschotteten Systeme der ambulanten und stationären Versorgung. Aufgrund der politischen Rahmenbedingungen müsse den Ärzten und Versicherten klar werden, dass Kooperation und In- tegration sinnvoll und notwendig seien. Hier bedarf es aber nach Überzeugung von Mau logischer, politischer Entscheidungen.

Die Ärzteschaft unterstützt die Forderungen der Kranken- kassen und Versicherten nach ei- nem möglichst barrierefreien Zu- gang zu allen medizinisch notwendigen, qualitätsgesicherten Leistungen. Eine 2-Klassen-Medizin müsse abgelehnt werden. Es sei der Tatbestand der Ratio- nierung erfüllt,wenn nur über Zusatzent- gelte und Zusatzversicherungen notwen- dige Leistungen abgedeckt werden könnten. Es sei durchaus akzeptabel, wenn für bestimmte Spezialleistungen die Arztwahl eingeschränkt und eine Überweisungspflicht gesetzlich vorge-

schrieben werde.Voraussetzung sei es al- lerdings, die Wahlmöglichkeiten zu ver- bessern und das System transparenter zu gestalten. Dem Arzt könne nicht zuge- mutet werden, dass er als Vollzugsperson der Rationierung eingespannt werde und obendrein pseudomedizinische Aus- schlussbegründungen liefern müsse. Hier müsse der Arzt Einhalt gebieten; auch ei- ne überzogene Wartelistenmedizin sei gesundheitspolitisch bedenklich.

Zollner setzte sich für gleiche Finan- zierungsbedingungen im ambulanten und im stationären Sektor ein. Das Geld müsse der Leistung folgen, die dort erbracht werden sollte, wo sie am effektivsten ist. Bedenken hat Zollner gegenüber der Ausgestaltung der Inte- grierten Versorgung gemäß § 140 a f.

SGB V. Es dürfe keine finanzielle Be- vorzugung derjenigen geben, die in die Integrierte Versorgung einbezogen sind. Ein „Abtanken“ aus dem Regelsy- stem zugunsten der Integrationsversor- gung müsse unterbleiben.

Einig waren sich die Delegierten dar- über, dass bei der Implementation der neuen Versorgungsformen (Integrations- versorgung, Medizinische Versorgungs- zentren) die freie Arztwahl nicht einge- schränkt werden dürfe. Inzwischen wür- den bereits mehr als 700 Verträge zur Integrierten Versorgung nach § 140 ff.

SGB V gezählt, oftmals finanziell moti- viert und ausschließlich auf einzelne In- dikationen ohne echte Versorgungsfort- schritte begrenzt. Durch finanzielle Rah- menbedingungen müsse die belegärztliche Tätigkeit als eine „Urform der Integrier- ten Versorgung“ begünstigt werden.Vie- le Facharztgebiete, etwa die HNO-Heil- kunde, seien nicht mehr flächendeckend zu garantieren, wenn die belegärztliche Tätigkeit weiter ausgetrocknet werde.

Geklagt wurde auch über die überbor- dende Bürokratie und den Verwaltungs- aufwand vor allem bei der Umsetzung der Disease-Management-Programme.

Die Verwaltungsbürokratie führe nicht nur zur Berufsverdrossenheit, sondern halte den Arzt auch von der notwendi- gen Patientenzuwendung ab. Heute sei es schon so weit, so Priv.-Doz. Dr. med.

Christian Benninger, Heidelberg, dass junge Kliniker schon in einer DRG-Ver- schlüsselung dächten, ehe sie sich dem Patienten und dem ganzen Krankheits- bild zuwendeten. Dr. rer. pol. Harald Clade P O L I T I K

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A2068 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 3029. Juli 2005

„Medizinische Versorgungszentren in der Regie von Ärzten sollen dazu dienen, dass Ärzte Tür an Tür,

Hand in Hand arbeiten und Versorgungslücken schließen.“

Prof. Dr. med. Harald Mau

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