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Anforderungen an ein Gutachten zur Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Diabetes

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VGH München, Beschluss v. 19.03.2019 – 11 CS 19.57 Titel:

Anforderungen an ein Gutachten zur Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Diabetes Normenketten:

FeV § 11 Abs. 2, § 46 Abs. 1, Abs. 3 StVG § 3 Abs. 1 S. 1

VwGO § 80 Abs. 5 Leitsatz:

Bei einer insulinpflichtigen Diabeteserkrankung ist nicht plausibel, allein von einem höheren, außerhalb des Zielbereichs liegenden HbA1c-Wert auf eine instabile Stoffwechsellage zu schließen.

Auch sonst begründet eine Überschreitung des HbA1c-Zielbereichs, jedenfalls solange keine Folgeschäden der Diabetes auftreten, nicht ohne Weiteres die fahrerlaubnisrechtlich relevante Befürchtung des Auftretens von Hypoglykämien während der Fahrt. Ein Gutachten, welches ohne nähere Darlegung eine instabile Stoffwechsellage annimmt, ist daher unbrauchbar. (redaktioneller Leitsatz)

Schlagworte:

Entziehung der Fahrerlaubnis für Klassen der Gruppe 2, Diabetes mellitus Typ 1, Qualifikation des

Gutachters, Nachvollziehbarkeit des ärztlichen Fahreignungsgutachtens, Gute Stoffwechselführung, HbA1c- Wert, Führerschein, Sofortvollzug, Stoffwechselführung

Vorinstanz:

VG Ansbach, Beschluss vom 02.01.2019 – AN 10 S 18.2059 Fundstelle:

BeckRS 2019, 6092  

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 2. Januar 2019 wird in Nr. 1 und 2 aufgehoben.

Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr.

I. und II. des Bescheids des Landratsamts R. vom 18. Oktober 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheids der Regierung von M. vom 15. Januar 2019 wird wiederhergestellt.

II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller wendet sich gegen die Anordnung des Sofortvollzugs hinsichtlich der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen C, CE, C1 und C1E und der Verpflichtung zur Abgabe seines Führerscheins.

2

Im Rahmen eines Verfahrens zur Verlängerung der Fahrerlaubnis der Klassen C und CE wurde dem Landratsamt R. (im Folgenden: Landratsamt) bekannt, dass der Antragsteller an Diabetes mellitus Typ 1 leidet. Nach Aufforderung durch das Landratsamt legte der Antragsteller ein ärztliches Attest der ihn behandelnden Ärzte vom 7. März 2018 vor, wonach Hypoglykämien nur bei schwerer Arbeit aufträten. Der HbA1c-Wert liege mit 8,7% nicht im Zielbereich.

3

(2)

Daraufhin forderte ihn das Landratsamt auf, ein Gutachten eines Arztes einer Begutachtungsstelle für Fahreignung oder eines Facharztes für Innere Medizin und/oder Diabetologie mit verkehrsmedizinischer Qualifikation vorzulegen. Das vom Antragsteller vorgelegte Gutachten der TÜV SÜD L. Service GmbH vom 24. August 2018 (Absendedatum) kommt zu dem Ergebnis, der Antragsteller sei trotz Vorliegens einer Erkrankung nach Nr. 5.4 der Anlage 4 zur FeV zwar (unter Auflagen) in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Fahrerlaubnisgruppe 1 gerecht zu werden. Aufgrund der instabilen Stoffwechsellage gelte dies jedoch nicht für Fahrzeuge der Fahrerlaubnisgruppe 2. Eine ausreichende Adhärenz liege nicht vor. Der Antragsteller habe angegeben, vor vier Jahren bei schwerer körperlicher Arbeit eine schwerere Hypoglykämie erlebt zu haben. Er habe sich jedoch selbst versorgen können. Einmal monatlich erfahre er leichte Hypoglykämien und interveniere dann sofort. Er spritze sich Insulin zumeist nach dem Essen. 2017 hätten die HbA1c-Werte durchgängig oberhalb des therapeutischen Zielbereichs gelegen. Angesichts der berichteten Gewohnheit, Insulin erst nach der Nahrungsaufnahme zu spritzen, der Nichteinnahme des ärztlich verordneten Lipidsenkers und des durchgängig über dem therapeutischen Zielbereich liegenden Langzeitblutzuckerwerts sei aktuell nicht von einer ausreichenden Compliance und daher von fehlender Fahreignung für Gruppe 2 auszugehen.

4

Nachdem das Landratsamt dem Antragsteller zunächst die Möglichkeit eingeräumt hatte, ein weiteres Gutachten eines Facharztes mit verkehrsmedizinischer Qualifikation erstellen zu lassen, er jedoch innerhalb der hierfür gesetzten Frist keinen Gutachter benannt hat, entzog ihm das Landratsamt mit Bescheid vom 18.

Oktober 2018 unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis der Klassen C, CE, C1 und C1E und verpflichtete ihn zur Abgabe des Führerscheins. Die Nichteignung des Antragstellers stehe aufgrund des vorgelegten Gutachtens fest.

5

Den gegen diesen Bescheid eingereichten Widerspruch hat die Regierung von Mittelfranken mit

Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 2019 zurückgewiesen. Über die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Ansbach noch nicht entschieden. Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 2. Januar 2019 abgelehnt. Die Nichteignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen der Fahrerlaubnisgruppe 2 ergebe sich aus dem ärztlichen Gutachtens vom 24. August 2018. Das Gutachten sei schlüssig und nachvollziehbar und begegne keinen inhaltlichen Bedenken. Personen mit hohem Hypoglykämierisiko, die auf Insulingaben angewiesen seien, wären erst nach Einstellung, d.h. stabiler Stoffwechselführung über drei Monate und entsprechender Schulung, wieder zum Führen von Fahrzeugen der Fahrerlaubnisgruppe 2 geeignet.

6

Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt, lässt der Antragsteller unter Vorlage eines ärztlichen Attests vom 5. Februar 2019 ausführen, er habe zu keiner Zeit irgendein Problem im Straßenverkehr gehabt. Von ihm gehe auch keinerlei Gefährdung aus. Die

Qualifikation der untersuchenden Ärztin des TÜV werde bezweifelt. Hypoglykämien würden nur bei schwerer Arbeit auftreten. Hierzu zählte jedoch das Fahren eines LKWs nicht. Im Übrigen liege die letzte schwere Hypoglykämie bereits fünf Jahre zurück. Er sei seit Jahren in ärztlicher Behandlung bei

Spezialisten, auf seine Stoffwechselerkrankung eingestellt und im Umgang mit der Krankheit vertraut.

Hypoglykämien und eine schwere Unterzuckerung seien in den letzten 12 Monaten nicht aufgetreten.

7

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.

II.

8

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

9

1. Der Senat geht - wie zuletzt die Beteiligten selbst (Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vom 28.2.2019 und der Landesanwaltschaft Bayern vom 7.3.2019) - davon aus, dass der Antragsteller (entgegen der ersten Auskunft des Verwaltungsgerichts vom 20.2.2019 gegenüber der Regierung von Mittelfranken) vor Ablauf der Monatsfrist seit der Zustellung des Widerspruchsbescheids

(3)

Klage erhoben hat und dass der Bescheid des Landratsamts vom 18. Oktober 2018 daher nicht

bestandskräftig geworden ist. Des Weiteren legt der Senat den Antrag des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vom 4. Februar 2019, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherzustellen, im Interesse des Antragstellers dahingehend aus, dass dieser nach Zurückweisung des Widerspruchs die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der am 18. Februar 2019 eingelegten Klage (Az. AN 10 K 19.00326) begehrt.

10

2. Der so verstandene Antrag hat in der Sache Erfolg. Dem vorgelegten Gutachten der Begutachtungsstelle für Fahreignung TÜV SÜD L. Service GmbH vom 24. August 2018, auf das sich der Antragsgegner stützt, kann nicht mit hinreichender Sicherheit entnommen werden, dass der Antragsteller ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 ist.

11

a) Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. August 2017 (BGBl I S. 3202), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung vom 3. Mai 2018 (BGBl I S. 566), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gilt dies insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 der FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisinhabers begründen, kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnen (§ 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV). Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung bestehen insbesondere, wenn Tatsachen bekannt werden, die auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Anlage 4 oder 5 hinweisen (§ 11 Abs. 2 Satz 1 FeV).

12

b) Der Antragsteller leidet seit vielen Jahren an Diabetes mellitus Typ 1 und spritzt deshalb täglich Insulin.

Bei medikamentöser Therapie mit hohem Hypoglykämierisiko (z.B. Insulin) setzt die Fahreignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2 (Fahrerlaubnisklassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E und FzF) nach Nr. 5.4 der Anlage 4 zur FeV eine gute Stoffwechselführung ohne schwere Unterzuckerung über drei Monate und eine ungestörte Hypoglykämiewahrnehmung voraus.

13

aa) Grundlage für die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sind nach Anlage 4a zur FeV die Begutachtungs-Leitlinien für Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 (VkBl. S. 110) in der Fassung vom 15. September 2017 (VkBl. S. 884). Die Untersuchung ist anlassbezogen und unter Verwendung der von der Fahrerlaubnisbehörde zugesandten Unterlagen über den Betroffenen vorzunehmen. Der Gutachter hat sich an die durch die Fahrerlaubnisbehörde vorgegebene Fragestellung zu halten (Nr. 1 Buchst. a der Anlage 4a zur FeV). Das Gutachten muss in allgemeinverständlicher Sprache abgefasst sowie

nachvollziehbar und nachprüfbar sein. Die Nachvollziehbarkeit betrifft die logische Ordnung (Schlüssigkeit) des Gutachtens. Sie erfordert die Wiedergabe aller wesentlichen Befunde und die Darstellung der zur Beurteilung führenden Schlussfolgerungen. Die Nachprüfbarkeit betrifft die Wissenschaftlichkeit der Begutachtung. Sie erfordert, dass die Untersuchungsverfahren, die zu den Befunden geführt haben, angegeben und, soweit die Schlussfolgerungen auf Forschungsergebnisse gestützt sind, die Quellen genannt werden (Nr. 2 Buchst. a der Anlage 4a zur FeV).

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bb) Diesen Anforderungen an die Nachvollziehbarkeit wird das vorgelegte Gutachten vom 24. August 2018, soweit es von einer Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 ausgeht, nicht gerecht.

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(1) Entgegen der Auffassung des Antragstellers kann allerdings der Gutachterin die erforderliche Qualifikation zur Erstellung des Gutachtens nicht von vornherein abgesprochen werden.

16

(4)

Richtig ist zwar, dass die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung sowohl in ihrer bis einschließlich 23.

Mai 2018 als auch in ihrer ab 24. Mai 2018 geltenden Fassung für die Gruppe 2 bei Therapie mit höherem Hypoglykämierisiko grundsätzlich eine fachärztliche Begutachtung durch einen Facharzt für Innere Medizin und/oder Diabetologen (Fassung bis 23.5.2018) bzw. durch einen Facharzt mit nachgewiesener

diabetologischer Qualifikation, in der Regel Facharzt für Allgemeinmedizin oder Innere Medizin (Fassung ab 24.5.2018), vorsehen. Ob die Verfasserin des Gutachtens vom 24. August 2018, die als Ärztin und Diplom- Psychologin sowie Gutachterin für Verkehrsmedizin ausgewiesen ist, diese Qualifikation besitzt, erscheint fraglich, kann jedoch dahinstehen. Zum einen handelt es sich bei der Regelung zur Qualifikation in den Begutachtungsleitlinien nur um eine Empfehlung, von der daher in begründeten Fällen abgewichen werden kann. Zum anderen hat das Landratsamt dem Antragsteller in seiner Gutachtensanordnung vom 23. Mai 2018 ausdrücklich freigestellt, entweder das Gutachten eines Arztes einer Begutachtungsstelle für Fahreignung oder das Gutachten eines Facharztes für Innere Medizin und/oder Diabetologie mit verkehrsmedizinischer Qualifikation beizubringen. Der Antragsteller hat eine Begutachtungsstelle für Fahreignung beauftragt. Grundsätzlich müssen auch die Ärzte einer solchen Begutachtungsstelle zu einer Einschätzung der in Anlage 4 zur FeV aufgeführten Krankheiten und Mängel in der Lage sein (vgl. zu den Anforderungen an den medizinischen Gutachter: Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a der Anlage 14 zur FeV). Sollte der beauftragte Gutachter hierzu nicht ausreichend qualifiziert sein, müsste er den Auftraggeber oder die Fahrerlaubnisbehörde darauf hinweisen und die Erstellung des Gutachtens ablehnen.

17

(2) Des Weiteren setzt die Anordnung der Beibringung eines ärztlichen Gutachtens zur Abklärung von Fahreignungsmängeln bei Diabetes mellitus, anders als der Antragsteller offenbar meint, auch nicht zwingend voraus, dass der Betreffende bereits im Straßenverkehr aufgefallen ist. Vielmehr kann in begründeten Fällen bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte für einen Mangel auch ohne solche Auffälligkeiten die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens angeordnet werden (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 1 und 2 FeV).

18

(3) Allerdings ist das vorgelegte Gutachten vom 24. August 2018 insoweit nicht nachvollziehbar, als es zu dem Ergebnis kommt, der Antragsteller werde „aufgrund der instabilen Stoffwechsellage“ den

Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 nicht gerecht.

19

Nr. 5.4 der Anlage 4 zur FeV setzt für die Fahreignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2 bei medikamentöser Therapie mit hohem Hypoglykämierisiko (z.B. Insulin), also auch beim Antragsteller, eine gute

Stoffwechselführung ohne schwere Unterzuckerung über drei Monate und ungestörte

Hypoglykämiewahrnehmung voraus. Aus welchen Gründen die Gutachterin beim Antragsteller von einer instabilen Stoffwechsellage ausgeht, wird im Gutachten nicht näher ausgeführt. Die angenommenen

Eignungsmängel des Antragstellers begründet die Gutachterin mit dessen Gewohnheit, Insulin erst nach der Nahrungsaufnahme zu spritzen, mit der Nichteinnahme des ärztlich verordneten Lipidsenkers und mit dem durchgängig über dem therapeutischen Zielbereich (bis 7,5%) liegenden Langzeitblutzuckerwert HbA1c.

20

Was unter einer „guten Stoffwechselführung“ zu verstehen ist, wird weder in der Anlage 4 zur FeV noch in den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung erläutert. Sowohl in der früheren, bis 23. Mai 2018

geltenden Fassung der Begutachtungsleitlinien als auch in der ab 24. Mai 2018 geltenden Fassung heißt es in den Leitsätzen in Nr. 3.5 zur Kraftfahreignung bei Diabetes mellitus zunächst, gut eingestellte und geschulte Menschen mit Diabetes könnten Fahrzeuge beider Gruppen sicher führen. Die Gefährdung der Verkehrssicherheit gehe in erster Linie vom Auftreten einer Hypoglykämie mit Kontrollverlust,

Verhaltensstörungen oder Bewusstseinsstörungen aus. Eine ungestörte Hypoglykämiewahrnehmung sei daher Voraussetzung für die Fahreignung. Etwas abweichend von der früheren Fassung heißt es hierzu in der ab 24. Mai 2018 geltenden Fassung, wer nach einer Stoffwechseldekompensation erstmals oder wer neu eingestellt werde, dürfe kein Fahrzeug führen, bis die Einstellphase nach ärztlicher Einschätzung durch Erreichen einer ausgeglichenen Stoffwechsellage (insbesondere bezüglich der Normalisierung des

Sehvermögens sowie der Wahrnehmung von Hypoglykämien) abgeschlossen sei. Weiter heißt es in beiden Fassungen, für das Führen von Fahrzeugen der Gruppe 2 sei grundsätzlich eine stabile

Stoffwechselführung über drei Monate nachzuweisen.

(5)

21

Nähere Erläuterungen dazu, was unter einer stabilen Stoffwechselführung zu verstehen ist, finden sich in der S2e-Leitlinie ‚Diabetes und Straßenverkehr‘ der Deutschen Diabetes Gesellschaft, 1. Auflage 2017 (veröffentlicht auf der Homepage der Deutschen Diabetes Gesellschaft - DDG). Danach kommt es für eine

„gute oder stabile Stoffwechseleinstellung“ zur Gewährleistung der Fahrsicherheit in erster Linie auf die Vermeidung starker Stoffwechselschwankungen und Hypoglykämien an und nicht auf die Erreichung eines festen HbA1c-Zielwerts (S2e-Leitlinie S. 63). Nach der S3-Leitlinie ‚Therapie des Typ-1-Diabetes‘ der Deutschen Diabetes Gesellschaft, 2. Auflage 2018 (ebenfalls veröffentlicht auf der Homepage der DDG) ist der HbA1c-Wert als Parameter für den Langzeit-Blutzucker in seiner Aussage bezüglich der glykämischen Stoffwechsellage begrenzt, da er auftretende Blutglukoseschwankungen und klinisch relevante Hypo- oder Hyperglykämien nicht abbilde (S3-Leitlinie S. 72). Die Anzahl von Hypoglykämien korreliert nach den DDG- Leitlinien eher mit einem niedrigen HbA1c, wobei allerdings festzuhalten sei, dass auch ein hoher HbA1c- Wert Hypoglykämien nicht zwangsläufig ausschließe (S3-Leitlinie S. 12). In einer Studie habe sich gezeigt, dass die Senkung des HbA1c-Werts zwar das Risiko für diabetesbedingte Folgekomplikationen reduziere, aber gleichzeitig die Gefahr erhöhe, schwere Hypoglykämien zu erleiden (S3-Leitlinie S. 15). Je niedriger der anvisierte Blutglukosebereich sei, desto häufiger träten Hypoglykämien auf. Bei Menschen mit Typ-1- Diabetes seien Hypoglykämien stets die Folge einer absoluten oder relativen Insulinüberdosierung (S3- Leitlinie S. 63). Es müsse daher sehr genau abgewogen werden, ob die Therapierisiken (insbesondere schwere Hypoglykämien) ein strenges HbA1c-Ziel rechtfertigen würden (S3-Leitlinie S. 16).

22

Hiervon ausgehend erscheint es ohne weitere Erläuterungen nicht plausibel, bei einer insulinpflichtigen Diabeteserkrankung allein von einem höheren, außerhalb des Zielbereichs liegenden HbA1c-Wert auf eine instabile Stoffwechsellage zu schließen (vgl. auch BayVGH, U.v. 15.2.2019 - 11 BV 18.2403 - juris Rn. 34).

Auch sonst begründet eine Überschreitung des HbA1c-Zielbereichs, jedenfalls solange keine Folgeschäden der Diabetes auftreten, nicht ohne Weiteres die fahrerlaubnisrechtlich relevante Befürchtung des Auftretens von Hypoglykämien während der Fahrt. Ein hoher HbA1c-Wert kann nach den Ausführungen in den DDG- Leitlinien zwar langfristig Folgeschäden verursachen, die durch eine höhere Dosierung von Insulin zur Senkung des Blutzuckerspiegels vermieden oder verzögert werden können. Allerdings steigt durch eine höhere Insulindosierung das Risiko von Hypoglykämien und damit einhergehenden

Wahrnehmungsstörungen (Nr. 3.5 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Fassung ab 24.5.2018, S. 33). Das Therapieziel eines langfristig niedrigeren HbA1c-Werts kann sich daher für die Fahreignung des Betreffenden negativ auswirken, wenn es sich nur durch eine höhere Insulinzufuhr erreichen lässt.

23

Mit diesen wissenschaftlich fundierten Befunden der DDG-Leitlinien setzt sich das Gutachten nicht

auseinander. Das wäre jedoch für die Nachvollziehbarkeit der angenommenen Fahrungeeignetheit aufgrund einer offenbar aus dem HbA1c-Wert hergeleiteten instabilen Stoffwechsellage erforderlich gewesen, zumal die Gutachterin ausdrücklich konstatiert, dass der Antragsteller über eine ausreichende

Blutzuckerwahrnehmung verfügt und die Risikofaktoren und Notfallmaßnahmen für

Stoffwechselentgleisungen kennt. Inwieweit sich die „Gewohnheit“ des Antragstellers, Insulin erst nach der Nahrungsaufnahme zu spritzen, für die Fahreignung negativ auswirkt, wird im Gutachten ebenso wenig erläutert wie die Relevanz der (vom Antragsteller im Übrigen bestrittenen) Nichteinnahme des ärztlich verordneten Lipidsenkers. Auf eine von den DDG-Leitlinien abweichende Bewertung des HbA1c-Werts lässt auch die gutachterliche Einschätzung schließen, die Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 entfalle, falls sich der HbA1c-Wert der Quartalsuntersuchungen in mehr als einem von vier Fällen oberhalb des

therapeutischen Zielbereichs von 7,5% befinde (S. 11 des Gutachtens).

24

Zusammenfassend bleibt daher festzuhalten, dass die Schlussfolgerung der Gutachterin, der Antragsteller sei für Fahrzeuge der Gruppe 2 fahrungeeignet, sich nicht hinreichend schlüssig aus dem Gutachten ergibt.

25

(4) Lediglich ergänzend und ohne dass es für die Entscheidung darauf ankommt, weist der Senat darauf hin, dass auch die Vorgehensweise der Begutachtungsstelle, ohne ausdrückliche Anordnung der Fahrerlaubnisbehörde und über deren Fragestellung hinausgehend eine psychologische

Zusatzuntersuchung zur Abklärung des psychophysischen Leistungsvermögens des Antragstellers eigenmächtig durchzuführen und nicht nur zu empfehlen, den Grundsätzen für die Durchführung der

(6)

Untersuchungen und die Erstellung der Gutachten (§ 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Anlage 4a Nr. 1 Buchst a) widerspricht. Das Landratsamt hat die Durchführung einer solchen Zusatzuntersuchung im Einklang mit der Rechtsprechung des Senats (vgl. BayVGH, B.v. 3.5.2017 - 11 CS 17.312 - juris Rn. 33) in seiner

Beibringungsanordnung vom 23. Mai 2018 ausdrücklich vom Ergebnis des Gutachtens abhängig gemacht.

26

3. Die Interessenabwägung ergibt, dass es vertretbar erscheint, den Antragsteller zunächst weiterhin auch mit Fahrzeugen der Gruppe 2 am Straßenverkehr teilnehmen zu lassen. Er ist bisher weder

krankheitsbedingt negativ im Straßenverkehr auffällig geworden noch ist ersichtlich, dass die in Nr. 3.5 der Begutachtungsleitlinien in der ab 24. Mai 2018 geltenden Fassung für die positive Feststellung der

Fahreignung genannten Voraussetzungen (keine wiederholte schwere Hypoglykämie in den letzten zwölf Monaten, ungestörte Hypoglykämiewahrnehmung, regelmäßige Glukoseselbstkontrollen durch den Fahrzeugführer und Verständnis der mit Hypoglykämie verbundenen Risiken, keine anderen Komplikationen der Zuckerkrankheit, Therapieregime, Einstellung und Fahrzeugnutzung stehen der Fahreignung nicht entgegen) nicht erfüllt wären.

27

4. Der Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.

28

Für das weitere Vorgehen weist der Senat darauf hin, dass der Antragsteller trotz der gutachterlichen Mängel weiterhin verpflichtet ist, an der Klärung der Frage mitzuwirken, ob und ggf. wie sich seine Erkrankung auf seine Fahreignung auswirkt (zur Notwendigkeit der Beibringung eines

Fahreignungsgutachtens bei Diabetes mellitus vgl. grdsl. BayVGH, B.v. 3.5.2017 - 11 CS 17.312 - juris Rn.

16-23). Die Zweifel sind auch durch das im Beschwerdeverfahren vorgelegte Attest vom 5. Februar 2019, das nur einen Behandlungszeitraum bis 25. September 2018 abdeckt, nicht ausgeräumt. Zur weiteren Abklärung käme in erster Linie die in den Begutachtungsleitlinien vorgesehene und zwischen den Beteiligten bereits vereinbarte Einholung des Gutachtens eines Facharztes mit verkehrsmedizinischer Qualifikation (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV) in Betracht, wobei die Fragestellung anlassbezogen sein muss (§ 11 Abs. 6 Satz 1 FeV). Entsprechend qualifizierte Diabetologen, auch in der Nähe des Wohnorts des Antragstellers, sind über die Homepage der Deutschen Diabetes Gesellschaft (Arztsuche) zu finden.

29

5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 52 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1 und 46.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 24. Auflage 2018, Anh. § 164 Rn. 14).

30

6. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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