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leonie achtnich Literatur im Fieber Zur Poetik der Temperaturen bei Conrad, Woolf, Joyce und Th. Mann Universitätsverlag winter Heidelberg

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achtnich Literatur im Fieber

ine Schlüsselmetapher der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts ist das Fieber, dem als Überschreitung der Normaltemperatur kulturelle Symbolkraft zukommt. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen Fieberdarstellungen aus dieser Umbruchszeit:

ansteckendes Tropenfi eber in Joseph Conrads Novelle The Shadow- Line. A Confession (1917), transformatives Fieber in Virginia Woolfs The Voyage Out (1915), wiederkehrendes Fieber in James Joyce’ A Portrait of the Artist as a Young Man (1916) und chronisches Fieber in Thomas Manns Der Zauberberg (1924).

Diese Fiebernarrative bringen gleichermaßen Schreibverfahren der krisenhaften Aufl ösung wie solche der produktiven Neuschöpfung hervor. Das Fieber wird so als poetologische Metapher etabliert, die aus der Medizin in die Literatur eingeht und textuelle Strategien zur Darstellung und Überwindung von Krisen ausstellt. Durch die Einbettung des Fiebers in das Metaphernfeld der Temperaturen leistet die Arbeit einen wertvollen Beitrag zur Kulturpoetik der Moderne.

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Universitätsverlag

winter

Heidelberg

Literatur

im Fieber

leonie achtnich

Zur Poetik der Temperaturen

bei Conrad, Woolf, Joyce und Th. Mann

Liter atur im Fieber

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beiträge

zur literaturtheorie und wissenspoetik

Herausgegeben von annette simonis linda simonis markus winkler Band 20

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Universitätsverlag

winter

Heidelberg

Literatur im Fieber

Zur Poetik der Temperaturen

bei Conrad, Woolf, Joyce und Th. Mann

leonie achtnich

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isbn 978-3-8253-4761-1 D 188

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2020 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany

Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier.

Den Verlag erreichen Sie im Internet unter:

www.winter-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dissertation der FU Berlin

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Danksagung

Diese Arbeit hätte nicht entstehen können ohne die Betreuung und Begleitung durch Prof. Claudia Olk und die Zweitbegutachtung durch Prof. Anne Fleig, denen ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. Für ihre freund- liche Mitarbeit in der Kommission danke ich auch Prof. Michael Gamper und Prof.

Georg Witte sowie Prof. Caroline Torra-Mattenklott für ihr Interesse an der Arbeit. Meinen Studierenden danke ich für die guten Nachfragen, die sie mir in Seminaren gestellt haben. Über die Jahre habe ich viel Unterstützung durch meine Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin erfahren, die mich durch fachliche und freundschaftliche Gespräche, durch Austausch und Inspiration, durch das Lesen einzelner, mehrerer oder gar aller Kapitel sowie durch Teilnahme an allen Schritten des Arbeits- prozesses bereichert haben. Dafür und für eine gute Zeit auch jenseits der akademischen Welt danke ich Elisabeth Bonapfel, Anne Enderwitz, Marlene Dirschauer, Henrike Krause, Eva Murasov, Esther von der Osten, Björn Quiring, Julia Weber, Kathrin Wittler und Marlies Zwickl. Für ihre Teilnahme und Unter- stützung möchte ich auch Christiane Alberts, Julia Schneider, Lisa MacKenzie und Maria Rönnefarth von Herzen danken. Mein Dank gilt außerdem meinen Eltern, meiner Schwester Marthe und meinem Bruder Lorenz, die mitgefiebert haben, und natürlich Sasha, der nie müde wurde, mir zuzuhören.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung ... 9

1 Fiebernde Körper und fiebernde Texte ... 21

1.1 Der subversiv fiebernde Körper ... 21

1.2 Fieber als poetologische Metapher... 33

1.3 Zur poetologischen Bedeutung des Fiebers um 1900 ... 39

2 Ansteckende Fieber in Joseph Conrads The Shadow-Line ... 45

2.1 Die Erzählsituation in The Shadow-Line ... 47

2.2 Der Fieberdiskurs im Tropenkontext ... 50

2.3 Das Zusammenspiel von Temperatur und Handlung ... 55

2.4 Ansteckende Erzählverfahren ... 60

2.5 Verfall oder Disziplin: Mr Burns und Ransome ... 63

2.6 Das Fieber als Bedrohung des Erzählens ... 67

2.7 Fieber- und Erzählkrise ... 70

3 Transformatives Fieber in Virginia Woolfs The Voyage Out ... 77

3.1 On Being Ill und die Poetik des literarischen Krankseins ... 81

3.2 Unterschwellige, äußere und innere Hitze ... 85

3.3 The Voyage Out und Daisy Miller ... 92

3.4 Poetik des Lesens unter dem Einfluss der Hitze ... 95

3.5 Grenzgänge und Wendepunkte ... 97

3.5.1 Infektion: die Reise zum Ursprung ... 97

3.5.2 Intertextuelle Ansteckung: Miltons Comus ... 101

3.5.3 Infektion der Erzählverfahren ... 104

3.6 Nach dem Fieber: Rückkehr zur Normaltemperatur ... 109

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4 Wiederkehrendes Fieber in James Joyces A Portrait of the Artist as a

Young Man ... 115

4.1 „A queer feeling“: körperorientiertes Erzählen ... 120

4.2 Fieber und Sprache in der Krankheitsepisode ... 123

4.3 Hitze, Begehren und Lust... 126

4.3.1 „Hot tears“: Schmerz und Sprache ... 126

4.3.2 „An incommunicable emotion“: verstecktes Begehren ... 128

4.3.3 „Unrest“: auf- und abflammendes Begehren ... 130

4.4 Verbotenes Fieber: Hitzebilder in der Predigt ... 132

4.5 Ausbruch aus der Askese: verdrängte Hitze ... 135

4.6 Ein Fieber der Sprache ... 139

5 Chronisches Fieber in Thomas Manns Der Zauberberg ... 143

5.1 Das Zauberbergfieber im kulturellen Kontext ... 148

5.2 Hitze und Verdrängung: Manifestationen des Seelenlebens ... 151

5.3 Infektion und Abweichung: der Textanfang ... 155

5.4 Ausbruchsfantasien: Fieber als Gesellschaftsflucht ... 159

5.5 Fieberextreme: Mynheer Peeperkorn ... 164

5.6 Sprachliche Verfahren der Fiebersenkung ... 167

5.6.1 Fieberdiagnostik und Begriffsschwierigkeiten ... 168

5.6.2 Das Thermometer als fiebernder Körper ... 170

5.7 Das „Fieber der Materie“ als poetologische Reflexion ... 174

5.8 Die chronische Fieberkrise... 177

Schlussbetrachtung ... 183

Literaturverzeichnis ... 189

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Einleitung

Im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (1927–1942) findet sich unter Fieber die Definition, dieses sei ein Heilvorgang, „der sich ,austoben‘“ müsse, es sei Ausdruck einer „wilde[n] Bewegung“1, es werde „von Dämonen geschickt oder ha[be] selbst ein unheimliches Eigenleben“2. In diesen Beschreibungen spiegelt sich die jahrhundertealte Vorstellung vom Fieber als einem schwer greif- baren Phänomen wider, das den Körper heimsucht und ihn in einen außerge- wöhnlichen Zustand versetzt, womöglich unter Beteiligung übernatürlicher Kräfte. Das Fieber (oder auch im Plural: die Fieber) gehört seit Jahrhunderten zum festen Bestandteil medizinischer Theorie ebenso wie der literarischen Imagination. So alltäglich ist das Phänomen, dass es im allgemeinen Sprach- gebrauch nicht nur die bloße Erhöhung der Körperkerntemperatur bezeichnet, sondern auch als Metapher für andere Zustände verwendet wird, die einem Fieber ähnlich sind oder sich gewinnbringend mit ihm vergleichen lassen. So bezeichnet das Fieber sowohl im Alltags-, als auch im literarischen Diskurs krisenhafte Zustände, eine gesteigerte Aufregung, übertriebene Anspannung oder leiden- schaftliche Besessenheit.3 In diesen Kontexten wird der medizinische Ursprung meist vergessen. Nur selten wird dann an die kritische Phase der Krankheit gedacht, die dem Begriff des Fiebers eigentlich inhärent ist. In der Literatur werden die vielseitigen Bedeutungen des Fiebers eingesetzt, um krisenhafte Zustände und deren Verlaufsformen in eindringlicher und prägnanter Bildsprache zum Ausdruck zu bringen. Oft betrifft das Aspekte des Erzählens selbst: Was geschieht, wenn Erzählinstanzen plötzlich einem Fieber ausgesetzt sind? Was bedeutet es, wenn das Erzählen selbst in eine Krise gerät? Die Verbindung zwischen den literarischen Fieberdarstellungen und dem literarischen Schreiben will diese Arbeit für die literarische Moderne in Europa nachzeichnen und damit das Fieber als literarische Schlüsselmetapher des frühen zwanzigsten Jahrhunderts herausarbeiten.

Die Literatur verzeichnet seit Jahrhunderten schillernde Inszenierungen des Fiebers, die dem medizinischen Kontext mal mehr, mal weniger verhaftet sind.

1 Fieber, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. von Hanns Bächtold- Stäubli, Berlin/Boston [1929] 2011, Sp. 1446–1460, 1446 und 1447 (zuletzt zugegrif- fen am 10. März 2020).

2 Ebd.: Sp. 1450.

3 fever n.1., in: OED Online (zuletzt zugegriffen am 10. März 2020).

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Insbesondere in den Jahren um 1900 finden sich zahlreiche Fieberdarstellungen in der Literatur, vor allem in den Texten der Autorinnen und Autoren, von denen diese Studie ausgeht und die gleichzeitig für die europäische Moderne von zentraler Bedeutung sind: Joseph Conrad, Virginia Woolf, James Joyce und Thomas Mann. Diese in den Texten behandelten Fieber lassen sich auch als literarisches und poetologisches Programm lesen. Denn die ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts werden als eine radikale Neuordnung von Erzählweisen und -formen der Literatur begriffen, als eine fundamentale Infragestellung von literarischen Konventionen und aufgrund einer – von physikalischen, kulturellen, technologischen und psychologischen Entdeckungen und Entwicklungen befeuerten – Beschleunigung des Lebens, die unter dem Begriff Moderne oder Modernismus eine ganze Bandbreite heterogener Entwicklungen und Erfahrungen zu bündeln sucht. Robert Musil beschreibt in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) die Jahrhundertwende um 1900 deswegen mit den folgenden Worten: „Aus dem ölglatten Geist der zwei letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich plötzlich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber erhoben“4. Musils „beflügelnde[s] Fieber“ fasst dabei in einem Bild gleich- zeitig den möglichen krisenhaften und pathologischen Verfall, der mit diesen Entwicklungen einhergeht, wie auch die befreiende Neuordnung jener ererbten Schreibtraditionen des neunzehnten Jahrhunderts, die von einer neuen Generation von Autorinnen und Autoren als restriktive Darstellungspolitik zunehmend abgelehnt werden. Damit beschreibt die Literatur jene umfassenden und als krisenhaft wahrgenommenen Umwälzungen anhand eines ebenso prägnanten wie vielseitigen Bildes medizinischen Ursprungs.

Dieses programmatische Fieber wird im Folgenden anhand von vier literarischen Werken untersucht. Dabei erscheint es zunächst nicht thematisch gebunden. Es tritt in verschiedenen Erscheinungsformen und Kontexten auf, hat somit gleich an mehreren Themen der europäischen literarischen Moderne Anteil und kann damit als Querverbindung zentraler Topoi begriffen werden. Nicht nur als Sammelbezeichnung in Bezug auf die meist mit Fieber einhergehenden Tropenkrankheiten, die die europäische Imagination in Kunst und Literatur beschäftigen, sondern auch in Verbindung mit der Tuberkulose, die in den Sanatorien geheilt wird, oder der Spanischen Grippe, die von 1918 bis 1920 in Europa wütete, findet sich das Fieber wieder. Gleichermaßen bekommt der unspezifisch fiebernde Körper auch als Irritationsfläche medizinischer und wissenschaftlicher Erkenntnis Aufmerksamkeit, da neue moderne medizinische Verfahren an seiner Uneindeutigkeit zu scheitern scheinen. Da das Fieber als ein allgemeines Symptom für einen pathologischen Zustand des Körpers gehandelt und damit universal als Begleiterscheinung von pathologischen Prozessen sowie als körperliche Abwehrreaktion gegen Infektionen begriffen wird, ist es als ein

4 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften 1, in: Robert Musil Gesamtausgabe in zwölf Bänden, hg. von Walter Fanta, Salzburg 2016, S. 84.

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11 Sammelphänomen zu verstehen, das eher generelles Anzeichen von Krankheit als von spezifischer Symptomatik ist. Die Faszination der Moderne für das Fieber prägt nicht nur die literarischen Texte selbst, sondern tritt auch in anderen ästhetischen oder poetologischen Schriften auf und verweist somit auf das poetologische Potenzial des Fiebers: immer wieder werden anhand der literarischen Fieberdarstellungen auch genuin literarische Fragen behandelt, was es zu einem der prägenden Bildfelder einer produktiv krisenhaften Epoche macht.

Es kann damit als wesentliche Ressource einer modernen Poetik beschrieben werden, mit der die Texte einen tatsächlichen oder auch vermeintlichen Krisen- zustand sichtbar machen sowie gleichzeitig Möglichkeiten des Umgangs mit und der Überwindung von demselben erproben. Die vorliegende Arbeit möchte diesem Krisendiskurs anhand einer seiner wesentlichsten Metaphern folgen und erarbeiten, wie und auf welche Weise in den literarischen Fieberdarstellungen Krisen konzipiert, literarisiert und bearbeitet werden.

Wesentlich für die moderne Bearbeitung des Fiebers ist dessen Teilhabe an verschiedenen kultur- und literaturgeschichtlichen Diskursen, die in den Bearbeitungen der hier analysierten Autorinnen und Autoren in den Blick genommen wird. Das Vorkommen des Fiebers in der Literatur im frühen zwanzigsten Jahrhundert fällt mit einem Fortschritt des medizinischen Fieber- diskurses zusammen, der das Phänomen von seiner engen Verknüpfung mit der Vorstellung einer lebensbedrohlichen und meist radikal ansteckenden Krankheit löst, wie sie über Jahrhunderte in der Medizin vertreten wurde. Das Fieber kann zwar potenziell bedrohlich sein – gerade wenn es im Plural als ‚die Fieber‘

epidemischen Charakter annimmt – aber es kann auch nur als Begleiterscheinung einer harmlosen Erkältung auftreten oder gar als Zeichen einer nervösen Grund- stimmung, wie es Thomas Mann in dem hier behandelten Roman Der Zauberberg auftreten lässt. Gemeinsam ist den verschiedenen literarischen Fieber- darstellungen das Spiel mit einer sich implizit abzeichnenden Normaltemperatur, deren Überschreiten als Ausnahmezustand inszeniert wird. Die Temperatur- schwankungen innerhalb der Texte markieren das Fieber so als die potentiell bedrohliche Überschreitung einer sich normativ abzeichnenden Grenze der

‚Normaltemperatur‘, jenseits derer die Gefahr der Überhitzung und des Verfalls sichtbar werden. Gleichzeitig werden aber auch Chancen von Genesung und Neuordnung denkbar. Ausgehend von diesem Bild, das in seiner Doppeldeutung von Zerfall des Alten auf der einen Seite und radikaler Erneuerung auf der anderen einen wesentlichen Aspekt moderner Literatur darstellt, werden literarische Texte untersucht, die im Fieber eine eigene Sprache der Temperaturen entwickeln.

Wenn sich gerade modernistische Texte des Motivs bedienen, so geschieht das nicht nur aus einem Interesse für das medizinische Feld heraus, wie es sich für die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts vielfach konstatieren lässt und wie es häufig als Begründung angeführt wird, wenn Krankheit in der Literatur als

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thematisch-motivisch abgetan wird.5 Vielmehr lässt sich das Fieber als ein Bildspender betrachten, mit dem sich vielfältige heterogene Krisenphänomene greifbar machen lassen. Die Jahre um die Jahrhundertwende sind von massiven Veränderungen in Technologie und Kultur gekennzeichnet: neue Erkenntnisse über Raum und Zeit in der Physik, medizinische Errungenschaften, die Psycho- analyse, weitgreifende soziale und kulturelle Umformungen verändern die Lebenswirklichkeit in einer Weise, die sich auch in Kunst und Literatur nieder- schlägt.6 In der Moderne, so halten es Einführungen mitunter fest, können

„keinerlei akzeptierte Garantien, Normen oder Vorbilder mehr in Anspruch genommen werden“7.

Die Wasserscheide zwischen den Jahrhunderten führt zu einer Rede von der Poetik der Krise, die sich in Form und Gestaltung literarischer Texte niederschlägt:

„In den mannigfaltigen Konzepten der ästhetischen Moderne von Nietzsche bis Adorno dokumentiert sich das Pathos einer Krisenzeit, die mit Lust und Unbehagen zugleich das Alte destruiert, um Platz für das Neue, das Unbekannte zu schaffen.“8 Gemeinhin wird für die Veränderungen der Literatur um die Jahrhundertwende somit ein Krisenbegriff etabliert, an dessen medizinische Bedeutung diese Arbeit erinnern möchte.9 Denn der Begriff der Krise ist etymologisch eng mit dem Begriff des Fiebers und damit der Krankheit verbunden: Als ‚Krise‘10 bezeichnet ursprünglich Hippokrates die kritische Phase einer fiebernden Krankheit und somit den entscheidenden Wendepunkt, an dem sich der Zustand des oder der Erkrankten maßgeblich ändert.11 Mit diesem medizinisch informierten Krisenbegriff lassen sich, wie diese Arbeit zeigen

5 „Zu diesem Entzauberungsvorgang gehört dann unter anderem auch, daß dabei zugleich die Aufmerksamkeit auf die Medizin in der Literatur und daß die Aufmerksamkeit auf die Kunst in der Medizin erwacht.“ Hans Robert Jauß: Achte Diskussion: Das Unbewusste, Das Kitschige, Das Pathologische“, in: ders.: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München 1968, S. 651–668, 659.

6 Für eine Einführung siehe Stephen Kern: The Culture of Space and Time, 1880–1918, Cambridge (US) 2003.

7 Eckhard Lobsien: Das Literarische Feld. Phänomenologie der Literaturwissenschaft, München 1988, S. 11–12. Einen vergleichenden Überblick zur Moderne bieten die Bände der 1994 erschienenen Reihe Die Literarische Moderne in Europa, herausge- geben von Hans Jochaim Piechotta, Ralph-Rainer Wuthenow und Sabine Rothemann.

8 Moderne, in: Reallexikon der Literaturwissenschaft, hg. von Georg Braungart, Harald Fricke und Klaus Grubmüller u. a., Berlin 2007, S. 620–624, 661.

9 Siehe hierzu auch: Ansgar Nünning: Grundzüge einer Narratologie der Krise: Wie aus einer Situation ein Plot und eine Krise (konstruiert) werden, in: Henning Grunwald, Manfred Pfister (Hrsg.): Krisis! Krisenszenarien Diagnosen Diskursstrategien.

München 2007, S. 48–71, 65.

10 Der Begriff ‚Krise‘ leitet sich vom griechischen Verb krínein ab, was (unter-)scheiden bedeutet. Annika Goeze und Korinna Strobel: Krisenrhetorik, in: Historisches Wörter- buch der Rhetorik Online, hg. von Gert Ueding, Band 10, Tübingen 2012, Sp. 511–530.

11 Siehe einführend Werner Golder: Hippokrates und das Corpus Hippocraticum: eine Einführung für Philologen und Mediziner, Würzburg 2007, S. 121.

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13 möchte, auch die Schreibverfahren und Bewegungen der Literatur fassen, die den Aufbruch, das Loslösen von traditionellen Erzählverfahren und die Auflehnung gegen literarische Konventionen fordern und dabei die mitunter auch radikale Neuordnung suchen.

Die Eigenschaft des literarischen Fiebers, Zustände außergewöhnlicher, oft infektiöser Krisenhaftigkeit greifbar zu machen, deutet auf dessen poetologisches Potenzial hin. Deswegen wird es in dieser Arbeit als Metapher begriffen, die fest in der Sprache fest verankert ist, ohne jedes Mal dezidiert ihren körperlichen oder medizinischen Ursprung zu verraten. Die Linguisten George Lakoff und Mark Johnson bezeichnen in ihrer gleichnamigen Studie solche Metaphern des (körperlichen) Erlebens, die sprach- und weltbildend wirken, auch als „metaphors we live by“12. Dazu gehören räumliche Erfahrungen, ebenso aber auch die Temperaturempfindungen, deren zwei Pole der Hitze und der Kälte Eingang in eine Vielzahl sprachlicher Formulierungen gefunden haben.13 Da in dieser Arbeit die Produktivität solcher Metaphern nicht in der Alltags-, sondern insbesondere in der literarischen Sprache im Vordergrund steht, soll im Folgenden das poetologische Potenzial erörtert werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich das Fieber als Metapher verstehen lässt, die in der literarischen Moderne für dezidiert poetologische Fragestellungen in Anspruch genommen wird. In textnahen Lektüren soll in dieser Arbeit gezeigt werden, dass dem Fieber die Funktion zugesprochen wird, literarische Verfahren zu verbildlichen und Momente textueller Selbstreflexivität zu markieren – ein Zugeständnis, das vor dem Kontext der literarischen Experimente der Moderne von besonderem Interesse ist. Mit jüngeren Studien, die sich mit der Funktion von Metaphern für poetologische Fragestellungen beschäftigen, argumentiert diese Arbeit somit, dass das Fieber im Kontext der Moderne als „poetologische Metapher“14 fungiert. Als solche stellt sie literarische Prozesse des Schreibens, Lesens und Erzählens zum Ausdruck, über sie können „Vorstellungen von Dichtung kognitive Struktur gewinnen und sprachlich vermittelt werden – Vorstellungen, die sinn-, funktions- und identitätsstiftend wirken.“15

Auch die hier betrachteten literarischen Fieberdarstellungen haben eine poetologische Dimension. Sie stellen im und anhand des Fieberwahns die Konstruktionsregeln des Erzählens selbst aus und experimentieren mit Erzähltechniken. Dieser Aspekt moderner Fieber führt eine Traditionslinie fort, die sich mindestens seit dem späten neunzehnten Jahrhundert in der Literatur

12 George Lakoff and Mark Johnson: Metaphors We Live By, Chicago 1980.

13 Lakoff and Johnson: Metaphors We Live By, p. 57.

14 Katrin Kohl: Poetologische Metaphern. Formen und Funktionen in der deutschen Literatur, Berlin 2007.

15 Kohl: Poetologische Metaphern, S. 3.

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abzeichnet. 16 Dem Fieber kommt in Bezug sowohl auf das Dargestellte als auch auf den Modus der Darstellung oft eine subversive Funktion zu. Dazu trägt schon seine thematisch enge Bindung an Topoi der Wahrnehmung und des Bewusstseins bei. Insbesondere seine phänomenologische Ähnlichkeit zu körperlichen Zuständen der Auf- und Erregung wird von vielen Texten ausgespielt. In der Literaturgeschichte finden sich solche Vorläufer des Fiebermotivs, die oft mit umfassenden Schilderungen eines körperlichen und geistigen Ausnahmezustands, des Wahns oder Traums verbunden sind. Hier lässt sich etwa für die europäische Literaturgeschichte Daniel Defoes einflussreicher Roman Robinson Crusoe (1719) erwähnen, der gerade wegen seines tropischen Kontextes auch in den hier untersuchten Texten widerhallt. An der verzweigten Literatur- und Kultur- geschichte des Phänomens Fieber, die im ersten Kapitel dieser Arbeit skizziert werden soll, zeigt sich die Beteiligung populärwissenschaftlicher, religiöser, medizinischer und literarischer Diskurse, die keineswegs in einem einfach zu konzipierenden Verhältnis zueinander stehen. Aspekte dieser interdisziplinären Vielfalt sind nicht nur die Alltäglichkeit des Phänomens, sondern auch die Auswirkungen des Zustandes auf Körper und Wahrnehmung gleichermaßen.

Diese Arbeit möchte das Fieber nicht nur in der Tradition eines pathologischen Blickes verstanden wissen, der im Wahnsinn neue Erzählverfahren entwirft.

Stattdessen wird argumentiert, dass das Fieber die Spitze einer Reflexion von Literatur über Temperaturen ist. Es stellt gerade die graduellen Übergänge und die Temperaturschwankungen und Zwischenzustände aus, die für das Erzählen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts so bedeutsam sind. Denn in den hier ausgewählten Texten von Joseph Conrad, Virginia Woolf James Joyce und Thomas Mann werden nicht nur fiebernde Figuren dargestellt, es wird vielmehr eine umfassende Temperaturpoetik entworfen. Das Fieber tritt also nicht nur vereinzelt oder punktuell auf, sondern lässt sich als ein wesentlicher Teil des Gesamtgefüges der ausgewählten Texte betrachten, der sich auf verschiedenen Ebenen wiederfinden lässt und der mit der Konstruktion des Erzählten und des Erzählens untrennbar verbunden ist. Dazu gehören auch verwandte Phänomene wie Temperatursteigerungen, Hitze und mit dem Fieber verbundene Krankheits- symptome. Die poetologischen Temperaturlandschaften, die die Texte entwerfen, werden als Reflexionsfläche des Schreibens selbst entworfen. Die Erscheinungs- formen der Temperaturen in den Texten werden im Folgenden als „Metaphern- feld“17 gefasst.

16 In Caroline Pross postum erschienenen Studie zur ‚Dekadenz‘ wird ein neues Interesse an den Jahren um 1900 konstatiert: „Auf der einen Seite gelten die Jahrzehnte vor und nach 1900 als Formierungs- bzw. ‚Gründungsphase‘ der Moderne, auf der anderen Seite machen sich in diesem Zeitraum die Kontinuitäten des ‚langen 19. Jahrhunderts‘

noch besonders nachhaltig geltend.“ Caroline Pross: Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne, Göttingen 2013, S. 8.

17 Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 2004, S. 20.

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15 Der hier behandelte Korpus umfasst Texte aus der Zeit zwischen 1915 und 1924 und damit einer Periode, in der sich die moderne oder modernistische Literatur erst herauszubilden beginnt. Oftmals werden die hier behandelten drei Romane sowie die Novelle retrospektiv als frühe Vertreter der eigentlichen Hochphase der Moderne gehandelt – womit ihnen als Frühwerken (so im Falle von Joyce und Woolf) selten eine eigene, spezifische Poetik zugesprochen wird. Es ist ein Ziel der folgenden Arbeit, gerade die widersprüchliche, ambivalente, fiebrige Schreibarbeit dieser Zwischentexte herauszustellen und damit den Texten der vermeintlichen Zwischen- und Übergangszeit mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Ausgangspunkt der Analyse ist das Fieberphänomen, das der Literatur schon früh eine Ressource für literarische Erkundungen geboten hat, und das gleichzeitig im frühen zwanzigsten Jahrhundert intensiv zur poetologischen Reflexion verpflichtet wird. Diese Arbeit folgt dabei den Spuren dieses ebenso relevanten wie wenig beachteten Metaphernfeldes durch eine Reihe von Texten, die für ein Verständnis der Moderne selten als wesentlich genannt werden, hier aber als konstitutiv herausgestellt werden sollen. Bisher wurden die literarischen Fieber- darstellungen im frühen zwanzigsten Jahrhundert und die damit verflochtenen Erzählverfahren der Hitze in der literaturwissenschaftlichen Forschung wenig beachtet.18 Die literarischen Fieber wurden vornehmlich als Darstellungsformen von Krankheit und deswegen als Teil des sich erst in den letzten Jahrzehnten entwickelnden Forschungsfeldes von Krankheit und Literatur betrachtet oder im interdisziplinären Forschungsbereich von Literatur und Medizin angesiedelt.19 Einen umfassenden Einblick in eine (erweiterte) Medizingeschichte des Fiebers bietet in diesem Zusammenhang die ausführliche Studie des Medizinhistorikers Christopher Hamlin, der in More than Hot. A Short History of Fever (2014) die

18 Für Fundstücke zu einer Motiv- und Stoffgeschichte des Fiebers siehe den Eintrag: Tina Römer und Ines Heiser: Fieber, in: Literatur und Medizin. Ein Lexikon, hg. von Bettina von Jagow und Florian Steger, Göttingen 2005, S. 240–244, 433. Das Lexikon für Literatur und Medizin hält 2005 noch fest, dass das „Fieber aus interdisziplinärer Perspektive“ bislang „ein Desiderat“ sei. Römer und Heiser: Fieber, S. 242.

19 Die Ansätze des Forschungsfeldes der Medical Humanities einerseits, des Feldes

‚Medizin und Literatur‘ und ‚Krankheit und Literatur‘ andererseits unterscheiden sich durch ihre jeweiligen Perspektivierungen. So nimmt das Feld der Medical Humanities eine interdisziplinäre Perspektive zwischen Geisteswissenschaft und Medizin ein. Siehe für eine Einleitung in das Forschungsfeld: Des Fitzgerald and Felicity Callard:

Entangling the Medical Humanities, in: The Edinburgh Companion to the Critical Medical Humanities, ed. by Sarah Attkinson, Jane Macnaughton, Jennifer Richards, Anne Whitehead and Angela Woods, Vol. 1, Online Resource 2016. Für einen Über- blick: Nicolas Pethes und Sandra Richter: Einleitung, in: Medizinische Schreibweisen.

Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900), Tübingen 2008, S. 2–11. Außerdem das Kapitel „Medizin“ in Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von Roland Borgards, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes und Yvonne Wübben, Stuttgart/Weimar 2013, S. 85–95.

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kulturgeschichtliche und medizinhistorische Relevanz des Themas offenkundig werden lässt.20 Da das Fieber eine Begleiterscheinung verschiedener Krankheiten ist, findet es sich auch am Rande von Studien, die andere, wesentlich durch das Fieber verschlüsselte Krankheitsbilder in der Literatur betreffen. Als Beispiel lassen sich hier Untersuchungen nennen, die das Krankheitsbild der Tuberkulose um 190021 untersuchen. Etwas früher im neunzehnten Jahrhundert findet sich in der Literatur ebenso wie in der Medizin auch das „brain fever“22 als häufige Diagnose.

Von einer solchen diskursanalytisch orientierten Herangehensweise nimmt die vorliegende Studie Abstand. Sie will stattdessen das Fieber in weiterreichende Reflexionen über die Temperaturen in der Literatur einbetten und deren Potenzial für poetologische Fragen aufzeigen. Deswegen werden in den Analysen auch immer wieder Querverbindungen zu den Temperaturen gezogen, wie sie zum Beispiel einzelne Forschungen zu Klima und Hitze oder auch den Tropen ausarbeiten – denn hier spielen die Temperaturen eine zentrale Rolle, ohne dass deren verschiedenen Ausprägungsformen genauer untersucht wurden.23 Damit kann die Arbeit auch einen Beitrag leisten zu einer Literatur- und Kulturgeschichte der Hitze, die eng mit dem hier untersuchten Gegenstand verwandt ist und deren poetische und ästhetische Funktion der Literatur gerade erst in den Blick genommen wird.24 Ebenfalls als Ausgangspunkt zu nennen sind Entwicklungen

20 Christopher Hamlin: More than Hot. A Short History of Fever, Baltimore 2014.

21 Jüngere Untersuchungen im Feld von Literatur und Medizin haben sich auch der syste- matischen Erschließung der literarischen Darstellung bestimmter Krankheiten gewidmet. Zum Teil werden solche Untersuchungen in den Einzelkapiteln aufgegriffen, insbesondere Studien zur Tuberkulose im Kapitel zu Thomas Manns Der Zauberberg.

Für einen Überblick über das Verhältnis einzelner Krankheiten zur Literatur siehe auch:

Epochen/Krankheiten. Konstellationen von Literatur und Pathologie, hg. von Frank Degler, St. Ingbert 2006.

22 Audrey C. Peterson: Brain Fever in Nineteenth-Century Literature. Fact and Fiction, in: Victorian Studies 19.4 (1976), pp. 445–464.

23 Als Anhaltspunkt sollen hier Helmut Lethens Verhaltenslehren der Kälte. Lebensver- suche zwischen den Kriegen (Frankfurt 1994) genannt werden, da dessen ‚Kältetopos‘

und damit einhergehend die Erzählverfahren der Distanz Aufmerksamkeit generiert haben. Die Verfahren der Wärme, die umgekehrt Distanz auflösen, haben dagegen kein Interesse erfahren.

24 Eva Horn hat auf den ästhetischen Aspekt der Hitze prägnant hingewiesen: „The heat metaphor seeks to convey a phenomenal sensibility to an uncanny, complex and unrepresentable process that exceeds our categories of perception and cognition.“ Eva Horn: The Aesthetics of Heat. For a Cultural History of Climate in the Age of Global Warming, in: Metaphora 2 (2018), pp. 1–16, 3. Weiter weist Horn darauf hin, dass gerade Hitze im literarischen Text nur schwer zu vermitteln ist: „Moreover, it means to ask for an aesthetics of heat as the poetic, pictorial, auditive rendering of a state that, despite its overwhelming sensual power and immediate perceptibility, seems difficult to represent in media such as words, images, or sound.“ Ebd. S, 5. Siehe auch Achim

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17 aus anderen Wissenschaften, die den Fieberdiskurs im frühen zwanzigsten Jahrhundert beeinflusst haben. So hat sich um die Jahrhundertwende – und unter dem Einfluss der Entdeckung und Formulierung thermodynamischer Gesetze im neunzehnten Jahrhundert – der Bildbereich der Temperaturen vor dem Hinter- grund fortgeschrittener wissenschaftlicher Erkenntnisse neu positioniert, was auch zu einer Virulenz literarischer Temperaturreflexionen geführt hat.25

Als eigenständiges literarisches Motiv wurde das Fieber in bisherigen Untersuchungen selten betrachtet, mit der Ausnahme von zwei Studien, die das Fieber im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert jeweils in einem spezifischen historischen Kontext untersuchen und an die auch die vorliegende Studie anknüpfen kann.26 Dabei wird deutlich, dass die Darstellung fiebernder Körper in der Literatur schon weitaus früher als in dem hier gewählten Untersuchungs- zeitraum auch mit poetologischen Fragestellungen zu Textform und Darstellungsverfahren verknüpft wurde.

Darüber hinaus existieren Einzelstudien, die verschiedene Aspekte des Fiebers jeweils für spezifische Texte untersuchen, so zum Beispiel kulturgeschichtliche Überlegungen zur normativen Funktion des Fiebermessens27, diskursanalytische Studien zum ‚Tropenfieber‘28, zur Immunität29 oder Forschungen zur Ästhetik von

Küpper, der konstatiert, dass „[d]ie Wissens- und Literaturgeschichte der Hitze […]

noch unerzählt [ist]“: Hitze: Johann Peter Hebels Kalendergeschichten im Kontext der Wissens- und Literaturgeschichte eines atmosphärischen Phänomens von der Antike bis zur Gegenwart, in: Phänomene der Atmosphäre, hg. von Urs Büttner und Ines Theilen, Stuttgart 2017, S. 433–446, 433.

25 Wesentlich historisch informiert wird das Metaphernfeld von den im neunzehnten Jahr- hundert formulierten Gesetze der Thermodynamik. Am anschaulichsten für eine Arbeit, die keinen diskursanalytischen, sondern eine kulturpoetische Perspektive einnimmt, lässt sich das in der populären Vorstellung des Wärmetods veranschaulichen, die im späten neunzehnten Jahrhundert weit verbreitet war. Der Wärmetod, formuliert von Lord Kelvin, beschreibt eine aus dem Gesetz der Thermodynamik hervorgehende Überlegung für das Universum: Wenn sich die Energie im Universum zunehmend verteilt (Zunahme an Entropie), dann resultiert daraus, dass irgendwann kein Wärme- fluss mehr stattfindet. Der Wärmetod des Universums ist, paradoxerweise, ein Kältetod.

Die Vorstellung wurde insbesondere in der viktorianischen Literatur aufgenommen und verarbeitet. Siehe dazu Allen MacDuffie: Victorian Literature, Energy, and the Ecological Imagination, Cambridge 2014.

26 Zwei Studien betrachten das Fieber jeweils für das achtzehnte beziehungsweise das neunzehnte Jahrhundert: Candace Ward: Desire and Disorder: Fevers, Fictions, and Feelings in English Georgian Culture, Lewisburg 2007; sowie Francesco Manzini: The Fevered Novel from Balzac to Bernanos: Frenetic Catholicism in Crisis, Delirium and Revolution, London 2011.

27 Volker Hess: Der Wohltemperierte Mensch. Wissenschaft und Alltag des Fieber- messens (1850–1900), Frankfurt a. M. 2000.

28 Stephan Besser: Pathographie der Tropen. Literatur, Medizin und Kolonialismus um 1900, Würzburg 2013, S. 15.

29 Johannes Türk: Die Immunität der Literatur, Frankfurt a. M. 2011.

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Krankheit und in der modernen Literatur.30 Diese Überlegungen sollen reflektiert werden, wo es für die Argumentation notwendig erscheint oder wo die Texte selbst eine Kontextualisierung bestimmter Fieberdarstellungen einfordern.31

Das erste Kapitel zeigt auf, dass und in welchem Umfang das literarische Fieber als eine Ressource moderner Poetik verstanden werden kann. Dazu wird zunächst eine kulturgeschichtliche Traditionslinie ausgearbeitet, mit der die Fiebererzählungen in der Moderne perspektiviert werden. Dabei soll auch das Verhältnis von literarischer Darstellung zu medizinischem Wissen beleuchtet werden.32 Es wird Aufgabe der einzelnen Kapitel sein, die jeweilige Konstellation von Fieber und Erzählen der Texte in den Blick zu nehmen. Weiter wird in diesen einführenden Überlegungen die Qualität des Fiebers als poetologische Metapher herausgearbeitet. Dabei soll gezeigt werden, wie das Fieber als textueller

„Transformator“33 Veränderungen der Fokalisierung und der Erzählperspektive mit sich bringt. Im Rahmen einer Hinwendung zu neuen Darstellungsmethoden in der literarischen Moderne34 wird das Fieber zuletzt auch als ein Mittel betrachtet, mit dem neuer erzählerischer Spielraum erschlossen werden kann.

30 Kimberly Engdahl Coates: Exposing the ‘Nerves of Language’: Virginia Woolf, Charles Mauron, and the Affinity between Aesthetics and Illness, in: Literature and Medicine 21.2 (2002), pp. 242–263.

31 Zu den jeweiligen Primärtexten der folgenden Kapitel existieren bisher nur einzelne Studien, die das Fieber oder auch ansatzweise die Temperaturen in den Blick nehmen.

Aufgrund des Forschungsgegenstandes ist eine ganze Reihe disparater Studien zu beachten. Diese können hier im Einzelnen nicht aufgeführt werden, sie werden in den jeweiligen Kapiteln reflektiert.

32 Für eine medizinhistorische Perspektive siehe Karl Eduard Rothschuh: Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 1978. Für einen allgemeinen Überblick über Medizin in der Literatur der Neuzeit siehe Dietrich von Engelhardt:

Medizin in der Literatur der Neuzeit. Schriften zur Psychopathologie, Kunst und Literatur, Hürtgenwald 1991.

33 Der Begriff wird von Gérard Genette übernommen, der den Fieberwahn literarischer Figuren als „transformateur hypertextuel“ bezeichnet: Palimpsestes: La Littérature au Second Degré, Paris 1982, p. 169.

34 Eine Problematisierung des Moderne-Begriffs sowohl in historischer Hinsicht wie auch als theoretisches Konzept (ebenso wie eine Diskussion des Begriffs Modernismus) ist für die vorliegende Arbeit nicht weiter relevant, da die Perspektive vom Phänomen ausgeht: die Analysen blicken von den literarischen Fieberdarstellungen auf den Kontext, nicht vom Kontext auf das Phänomen. Darin unterscheidet diese Arbeit sich von jenen, die Texten ohne Reflexion das Etikett der ‚Moderne‘ zuschreiben. Da der Begriff ‚modern‘ sich aber dennoch als ein praktikables Instrument für eine komparatistische Analyse eignet, soll er im Folgenden pragmatisch als Zeitabschnitt zwischen 1890 und 1930 verstanden werden, dessen Literatur sich durch eine Pluralität von Darstellungsformen auszeichnet. Für eine Einführung in den ‚Moderne‘-Begriff siehe auch Cornelia Klinger: Modern/Moderne/Modernismus, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart/Weimar 2002, S. 121–167.

Unterschieden wird in der Regel zwischen der ‚deutschen Moderne‘, die etwa bis 1914

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19 Im Anschluss folgen vier Einzelstudien, die jeweils einen eigenen Aspekt des Fiebers in Fieberdarstellungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in den Blick nehmen. Aus dem englischen Sprachraum werden Joseph Conrads The Shadow- Line. A Confession (1917), Virginia Woolfs The Voyage Out (1915) und James Joyces A Portrait of the Artist as a Young Man (1916) untersucht, aus dem deutschen Sprachraum wird Thomas Manns Der Zauberberg (1924) heran- gezogen. Die vier Texte repräsentieren jeweils unterschiedliche erzählerische Inszenierungen des Fiebers. In Conrads The Shadow-Line wird die Infektion mit dem Tropenfieber zum wesentlichen Aspekt der Infragestellung einer westlich- europäischen Normaltemperatur, die gleichzeitig das Fremde als pathologisch und ansteckend markiert. Hier steht der infektiöse Aspekt des Fiebers und die Vermittlung krisenhaften Erzählens im Zentrum der Analyse. Der Mittelteil der Arbeit widmet sich mit Virginia Woolf und James Joyce einer Autorin und einem Autor, deren Fieberdarstellungen als Quellen experimenteller Erzähltechniken fungieren, und die es als zentralen Katalysator modernistischer Schreibweisen verwenden. Die Analyse von Woolfs The Voyage Out verhandelt anhand des Fieberkomplexes die Möglichkeiten und Beschränkungen der Entwicklung einer weiblichen Hauptfigur und stellt damit genretheoretische Fragestellungen in den Vordergrund. Bei James Joyce haben die Fieber eine dezidiert körperlich-sinnliche Dimension und fungieren als Metapher für Prozesse der Innerlichkeit. Das letzte Kapitel wendet sich Thomas Manns Der Zauberberg (1924) zu. Hier wird untersucht, wie Manns chronisches Zauberbergfieber zur inhaltlichen und poetologischen Verlangsamung und Stagnation des Erzählens führt – und damit einen wesentlichen Beitrag zur Poetik der Vorkriegs- und Kriegszeit in Europa leistet.

Das literarische Fieber wird im Folgenden nicht nur als punktuelle Erscheinung begriffen, sondern als ein breit gefächertes Metaphernfeld, das die Körpertemperaturen, die Außentemperaturen und die Differenzen zur Normal- temperatur gleichermaßen einschließt und dessen Systematisierung nicht behauptet werden soll. Im Gegenteil sollen widersprüchliche Tendenzen in der Darstellung des Fiebers gerade als Ausgangspunkt dieser Studie gelten können.

Denn die Referenzen auf Temperaturen, auf Wärmezufuhr oder -transfer in den hier untersuchten literarischen Texten zeichnen sich durch eine große Vielfalt aus, die sich mit einer begrifflichen Unterscheidung kaum separieren lassen. Indem im Folgenden einer Sprache der Temperaturen im Text gefolgt wird, wird auch eine explizite oder implizite Normaltemperatur stets die Lektüre prägen. Dieses Spiel mit der Grenze ist, wie die Arbeit zeigen möchte, in der hier betrachteten Literatur Teil einer Reflexion über ästhetische, narrative, gattungspoetologische und gesellschaftliche Aspekte des Erzählens.

dauert, und dem englischen ‚Modernismus‘, der seine Hoch-Zeit in den frühen 20er- Jahren hat. Ebd.: S. 140–141.

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So wird gezeigt, wie sich ein abstrakter Krisendiskurs gerade in den literarischen Fieberdarstellungen materialisiert und konkretisiert und wie diese als Reflexions- fläche für die Entwicklung von literarischen Erzählverfahren und -techniken her- angezogen werden können. Die Arbeit leistet mit ihrer Untersuchung des Fiebers als poetologischer Metapher einen Beitrag zur Poetik und Kulturpoetik der Moderne, der sich auf das langsame Ansteigen der Temperaturen, auf Misch- und Übergangszonen konzentriert – und der nicht nur die Krise, den Fieberausbruch, die exzessiven Temperaturen in den Mittelpunkt stellt, sondern auch erzählerische Möglichkeiten der Überwindung und Neuordnung konzipiert.

Referenzen

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