Von Silvia tellenbach, Freiburg
Die Türkei ist einer der letzten Mitgliedsstaaten im Europarat, die die
Todesstrafe noch kennen und die das Protokoll Nr. 6 des Europarats von
1983 nicht unterschrieben haben, das die Mitgliedsstaaten zur Abschaf¬
fung der Todesstrafe verpflichtet. Das kommt immer wieder zur Sprache,
wenn die Türkei intemational wegen ihrer Menschenrechtssituation kriti¬
siert wird, aber auch in der Türkei selbst ist die Todesstrafe alles andere
als unumstritten und von Zeit zu Zeit gehen die Wogen der Diskussion in
der Öffentlichkeit hoch.i Es ist nicht die Absicht dieses Beitrags, die
Argumentadon dieser Diskussion darzustellen. Nur kurz sei bemerkt, daß
sie sich - soweit sie sich nicht sowieso in kurzen Zeitungsstatements
erschöpft - im wesendichen in den argumentativen Bahnen hält, die uns
aus der europäischen Diskussion vertraut sind. 2 Die Befürworter der
Todesstrafe scheinen sich in der Defensive zu befinden; eindeutige, unbe¬
dingte Befürworter finden sich kaum, vielmehr heißt es bei den Gegnern
einer Abschaffung meist, die Türkei sei leider zur Zeit noch nicht auf
einem Niveau der gesellschaftlichen Entwicklung, das eine Abschaffung
der Todesstrafe erlauben würde.3
Wie es nun mit der Todesstrafe in der Türkei in der Rechtswirklichkeit
aussieht, wird in dieser Prinzipiendiskussion - fast möchte man sagen
verständlicherweise - wenig beachtet, obwohl dem doch in der Praxis
erhebliche Bedeutung zukommt, und zwar nicht nur in der Türkei selbst,
sondem z.B. auch für die Bundesrepublik. Deutsche Behörden und Ge¬
richte weisen nämhch nicht aus und liefem nicht aus, wenn zu befürchten
ist - und zwar konkret - daß der Ausgewiesene oder Ausgelieferte in
1 So etwa zuletzt im Herbst 1990, nachdem der damalige Staatsminister Kefeciler ge¬
äußert hatte, um dem wachsenden Terror vorzubeugen, sollte bei einigen der im Parla¬
ment liegenden Todesurteile ein Vollstreckungsgesetz ergehen (vgl. näher S. TELLEN¬
BACH: Todesstrafe in der Türkei. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 11 (1991), S. 87-89).
2 Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen. E. ARTUK: Ölüm cezasi, Prof. Dr. Jale Ald-
pek'e Armagan. Konya 1991, S. 145-175 (150 ff); E. CANAK; ölüm cezasi, Cagi-
miz ve Türkiye. In; Manisa Barosu Dergisi 10 (1991), Heft 38, S. 6-58 (24 ff).
3 Vgl. statt anderer den ehemaligen Jusüzminister Necati Eldem bei: CANAK (Anm.
2). S. 48.
Cornelia Wunsch (Hrsg.): XXV. Deutscher Orientalistentag, Vorträge,München 8.-13.4.1991
(ZDMG-Suppl. 10). - © 1994 Franz Steiner Veriag Stuttgart
seinem Heimatland mit dem Tode bestraft wird, und auf deutschen Amts-
schreibdschen stapehen sich seit Jahren die Fähe, wo es für eine Entschei¬
dung genau darauf ankommt.
Darum soll einmal dieser Aspekt etwas näher betrachtet werden, und
zwar zunächst die Gesetzeslage und dann die Entscheidungspraxis. Das
türkische Strafgesetzbuch (Gesetz Nr. 765 vom 1.3.1926) gilt allgemein
in der Türkei, obwohl bis heute etwa 50 Änderungsgesetze erlassen wur¬
den, als ein völlig veraltetes Gesetz, das aus vielen Gründen modemen
kriminalpolidschen Erfordemissen nicht mehr entspricht. Seit Mitte der
80er Jahre wird an einem neuen Gesetzbuch gearbeitet; zwei Entwürfe
wurden 1987 und 1989 bereits vorgelegt* und in der Öffendichkeit disku¬
tiert, zum Erlaß eines neuen Gesetzes ist es aber nicht gekommen und wird
es in absehbarer Zeit wohl auch kaum kommen. Stattdessen wurden in den
letzten Jahren besonders dringhch erscheinende Anliegen unabhängig von
dem großen Plan eines neuen Strafgesetzbuches immer wieder durch
einzelne Ändemngsgesetze aufgegriffen. Das Ändemngsgesetz Nr. 3679
vom 21. November 19905 schaffte nun mit einem Schlage 15 der vorher
27 Todesstrafdrohungen des Strafgesetzbuches ab, so daß das Strafgesetz¬
buch derzeit noch 12 Tatbestände mit einer Todesstrafdrohung enthält,
wozu noch einige Tatbestände im Militärstrafgesetzbuch und weiteren
Nebengesetzen kommen. Diese Abschaffung war, kurz gesagt, eine "Ent-
rümpelungsaktion". In allen Fällen handelte es sich um Tatbestände,
wegen denen es seit über 30 Jahren keine Hinrichtungen mehr gegeben
hatte, damnter auch den vielgenannten Art. 141 I Satz 2 StGB, der die
Leitung mehrerer kommunistischer Organisationen mit dem Tode bestrafen
sollte, aber in den 39 Jahren seines Bestehens nie die Vollstreckung eines
Todesurteils zur Folge hatte. Für die deutsche Praxis ist insbesondere von
Bedeutung, daß sämtliche Todesstrafdrohungen wegen Rauschgiftdelikten
abgeschafft und durch lebenslange Freiheitsstrafen ersetzt wurden. Welche
Dimension dieses Problem hat, zeigt die Tatsache, daß an die 90% der in
Deutschland im Gefängnis sitzenden Türken dort im Zusammenhang mit
Rauschgiftdelikten einsitzen und sich, wenn sie nach ihrer Entlassung in
die Türkei abgeschoben werden sollen, in oft jahrelangen Gerichtsver¬
fahren mit allen Mitteln dagegen wehren. Regelmäßig wurde die Behaup¬
tung vorgebracht, sie hätten, wenn sie in die Türkei zurückkehren müßten.
^ Türk Ceza Kanunu Tasansi. Ankara 1987; Türk Ceza Kanunu öniasansi. Ankara
1989.
5 Eingehend zu diesem Gesetz TELLENBACH: op. dt. (Anm. 1), S. 87.
ein zweites Strafverfahren zu erwarten - was häufig stimmt^ - und hätten
dann mit der Todesstrafe zu rechnen. Gewiß, bei dem Türken, der am
Hauptbahnhof einer deutschen Großstadt einige Gramm Marihuana kaufte,
war die gesetzliche Lage immer klar, eine Verurteilung zum Tode kam
nicht in Frage. Aber hatte er eine harte Droge, Heroin oder eine der son¬
stigen im Gesetz genannten harten Drogen, - und sei es in geringer Menge
- aus dem Türkeiurlaub mitgebracht und hatte er dabei auch noch seine
Frau zum Mitmachen überredet, die am Grenzübergang in Kapikule herz¬
klopfend auf dem Beifahrersitz saß, aber eben doch mitgemacht hatte, weil
man sich von dem Erlös der Aktion endlich die ersehnte Videoanlage
anschaffen könnte, so war das in der Sprache des Gesetzes ein organisier¬
ter Schmuggel harter Drogen (Art. 403 StGB) - für eine Organisation rei¬
chen zwei Personen -, auf die die Todesstrafe stand. Das bedeutete eben,
daß kleine und vor allem große Händler harter Drogen immer wieder unter
Hinweis auf eine drohende Todesstrafe in der Türkei jahrelange Verfahren
führten, um einer Abschiebung zu entgehen.
Wie aber kommt es nun, daß es wegen der doch so häufigen Rausch¬
giftdelikte seit Jahrzehnten nicht zu einer Hinrichtung gekommen ist? Dazu
müssen wir uns jetzt den Gerichten und dem Verfahren zuwenden.
Häufig umgingen die Gerichte ein Todesurteil bei einem Rauschgift-
ebenso wie bei anderen Delikten mit Hilfe des Art. 59 II StGB. Dieser
enthält einen sog. unbenannten Strafmilderangsgrund. Das Gericht kann
also die Strafe mildem, d.h. hier von Todesurteil auf lebenslänglich, wenn
es irgendwelche Gründe sieht, die eine leichtere Strafe für angemessen
erscheinen lassen. Türkische Gerichte machen von dieser Vorschrift bei
der Todesstrafe wie auch bei den anderen Strafdrohungen ausgiebigen
Gebrauch, es ist geradezu der Rechtskniff, um die allgemein als sehr
hoch, zu hoch empfundenen Strafen zu mildern. Wenn man die höchst¬
richterliche Rechtsprechung durchsieht, so stellt man fest, daß die Richter
- gerade um den Ausspruch einer Todesstrafe zu umgehen -, noch Milde-
mngsgründe finden, wo kein deutsches Gericht sie mehr entdecken
würde. Aber letztlich ist ein richterlicher Strafmilderungsgrund eben doch
Ermessenssache des betreffenden Gerichtes und daher nie mit Sicherheit
vorausberechenbar.
Ist es nun tatsächlich zu einem Todesurteil gekommen, so geht es
automatisch von Amts wegen in die Revision an den Obersten Gerichtshof
° Ist Rauschgift aus der Türkei ausgeführt und nach Eieuischland mitgebracht worden, so ist immer mit einer emeuten Strafverfolgung zu rechnen, weil die Tal als türkische In¬
landstat gUi. Wurde das Rauschgift dagegen in Deutschland erwortien, so gilt seit dem Gesetz Nr. 3756 vom 6.6.1991 der Ne-bis-in-idem-Satz.
(Art. 305 StPO); wird es auch dort bestätigt und rechtskräftig, so ist es
damit immer noch nicht vohstreckbar. Dazu bedarf es noch eines weiteren
Schrittes. Erst muß es dem Parlament zugeleitet werden, und dieses muß
ein besonderes Gesetz erlassen, das das Urteil für vollstreckbar erklärt
(Art. 87 Verfassung). Dabei ist das Parlament keineswegs an die Rechts¬
lage gebunden, sondem kann Gnadengesichtspunkte bei seiner Entschei¬
dung einbeziehen. Das türkische Parlament hat, worauf wir noch später zu
sprechen kommen, seit 1984 kein VoUsu-eckbarkeitsgesetz mehr erlassen.
Ein solches Gesetz würde im übrigen wie jedes andere Gesetz im tür¬
kischen Amtsblatt veröffendicht und enthält neben dem Namen des Ver¬
urteilten auch die Bezeichnung der Gesetzesartikel, auf denen das Urteil
bemht.
Wenn man nun die Statistik bettachtet, wieviele vollstreckte Todes¬
strafen es in den letzten 50 Jahren in der Türkei gegeben hat, so läßt sich
bereits seit der zweiten Hälfte der 40er Jahre ein deutlicher Rückgang der
vollstreckten Todesstrafen ausmachen. Während bis dahin mit gewissen
Schwankungen mit etwa 15 vollstreckten Todesurteilen pro Jahr zu rech¬
nen war, betmg der Durchschnitt in den Jahren von 1945-1964 etwa 6,
wobei der Rückgang noch deudicher whd, wenn man berücksichdgt, daß
in den Jahren 1960-64 die Zahlen über 20 lagen, was auf die polidsche
Situadon zurückzuführen sein dürfte. Sieht man die Jahre seit 1965 an, so
gab es, abgesehen von einer Hinrichtung 1967, Hinrichtungen nur in den
Jahren 1971 und 72 sowie 1980-84, also nach den jeweiligen Interven¬
tionen des Militärs.'
Wenn man nun noch einmal die Zeit von 1980-84 etwas genauer
betrachtet, so stellt man fest, daß zwischen dem 12. September 1980 und
dem 4. Oktober 1984, dem Tag, an dem das bislang letzte Vollstreckbar¬
keitsgesetz erlassen wurde (Gesetz Nr. 3052), 55 Vollstreckbarkeits-
gesetze verabschiedet wurden, die Zahl der Hinrichtungen dagegen mit 50
etwas kleiner war. Einer der Fälle, in denen trotz Erlaß eines Vollstreck- barkeitsgesetzes keine Hinrichtung erfolgte, ist übrigens der des Ali Agca,
der wegen Mordes an einem Journalisten zum Tode vemrteilt war. Zu dem
Zeitpunkt, zu dem der Nationale Sicherheitsrat, damals anstelle eines
Parlaments, das Vollstreckbarkeitsgesetz erließ (Gesetz Nr. 2630 vom
' Vgl. dazu im einzelnen für die Zeit bis 1975 die Angaben bei N. GÜRELLl: Ceza Hukukumuzun Elli Yillik Uygulamasinda ölüm Cezasinin ve Hürriyeti Baglayici Ceza- larin Degerlendirilmesi. In: Degi^en Toplum ve Ceza Hukuku Kargisinda TCK'nun 50.
Ylll ve Gelecegi Sempozyumu. Istanbul 1977; für die Zeit danacli REHA ÖZ; Ben Devletim Asarim. Istanbul 1989.
12.3.1982), war er längst geflohen und saß bereits wegen des Attentats auf Papst Johannes Paul II. in einem itahenisehen Gefängnis.
Nach Delikten ist Mord (Art. 450 StGB) mit 39 Nennungen der häu¬
figste Strafgrund, Überlegung das meistgenannte Mordmerkmal, aber
auch Blutrache, Verbergen einer Straftat u.a. kommen vor. An zweiter
Stelle in der Häufigkeit kommt Verfassungsumsturz (Art. 146 I StGB),
nämlich in 11 Fällen, die aus fünf Verfahren stammen (Gesetz Nr. 2476
vom 23.6.1981, 2631 vom 12.3.1982, 2792 vom 28.1.1983, 3049 vom
3.10.1984 und 3052 vom 4.10.1984). In all diesen Fällen hatte das
Gericht es für erwiesen angesehen, daß die Verurteilten Menschen getötet
hätten,* da aber hinter Art. 146 alle anderen Straftaten zurücktreten, wer¬
den auch die Tötungsdelikte nicht mehr gesondert ausgewiesen.^ Weiter¬
hin sind vier Fälle aus zwei Verfahren gem. Art. 149 II StGB zu ver¬
zeichnen (Gesetz Nr. 2308 und 2309 vom 4.10.1980), der erfolgreichen
Aufforderung zu einem bewaffneten Aufstand oder zu einem Gemetzel,
wobei auch hier die Taten Menschenleben gekostet hatten. Nach dem
Separadsmusartikel (Art. 125 StGB) wurde ein Vollstreckbarkeitsgesetz
erlassen (Gesetz Nr. 2794 vom 28.1.1983), nämlich gegen den Armenier
Levon Ekmekgiyan, der 1982 das weltweit beachtete Attentat auf dem
Flughafen von Ankara verübt hatte, das 9 Todesopfer und 78 Verletzte
gefordert hatte. Wegen kurdischem Separatismus wurde in dem genannten
Zeitraum kein Todesurteil für vollstreckbar erklärt. Die Zahl der Tat¬
bestände, nach denen später tatsächlich vollstreckte Todesurteile verhängt
wurden, war in dieser Zeit also auf vier beschränkt.'O
Daß das türkische Parlament seit 1984 kein Vollstreckbarkeitsgesetz mehr erlassen hat, heißt allerdings nicht, daß seitdem keine Todesurteile
mehr verhängt worden sind. Vielmehr hat das dazu geführt, daß bis zum
Frühjahr 1991 über 250 Todesurteilei' beim Parlament aufgelaufen sind,
über die einfach nicht entschieden wurde. Mit diesem Schwebezustand
* Die neuere Rechtsprechung des Militärkassationshofs hat die Erfordemisse für eine Erfüllung des Art. 146 (und Art 125) sehr verschärft. Voraussetzung für eine Bestra¬
fung nach Art. 146 I ist numnmehr, daß die Täter als Mitglieder einer bewaffneten Ban¬
de gehandelt haben, deren Stärke und organisatorische Gesamtheit auf das ganze Land bezogen die Tat als gefährlich erscheinen ließ und daß als Einzeltaten Tötungen, Raub¬
überfälle oder Taten von entsprechendem Gewicht vorliegen; Ständige Rechtsprechung, Entscheidungsnachweise bei TELLENBACH; op. cit. (Anm. 1), S. 88.
9 Vgl. z.B. Askeri Yargitay Dergisi 3 (1985), S. 166; 5 (1987), S. 148.
10 Es gab also auch keine Hinrichtungen wegen miliiärstrafrechdichen oder sonstigen nebenstrafrechüichen Straftaten.
11 Cumhuriyet vom 14.2.1991 gibt 254 Fälle an, diese Zahl könnte sich bis zum
12.4.1991 noch geringfügig erhöht haben.
mußten die Verurteilten großenteils schon seit vielen Jahren leben, eine
menschenrechdich außerordendich fragwürdige Situadon. Zwar wurde sie
auch in der Türkei mit der steigenden Zahl der vorliegenden Urteile als
zunehmend unhaltbar empfunden und war wiederholt Ziel von Gesetzes-
inidadven. So legte z.B. im Februar 1988 der Vorsitzende des Rechtsaus¬
schusses Alpaslan Pehhvanh zusammen mit Mustafa Tajar, einem Berater
der ANAP-Führung, einen Gesetzesentwurf vor, nach dem Todesurteile,
die nicht binnen eines Jahres nach Zuleitung zum Parlament bestätigt
würden, automadsch in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt werden
sollten; die bereits dem Parlament vorliegenden Todesurteile sollten zu
lebenslang umgewandelt werden.l^ Aber diese Inidadve verlief im Sande.
Im Herbst 1989 wurde sie von dem damaligen Jusdzminister Sungurlu
wiederholt, allerdings in abgewandelter und abgeschwächter Form. Nun¬
mehr sollte das ganze Verfahren umgestaltet werden. Die Notwendigkeit
eines VoUstreckbarkeitsgesetzes sollte abgeschafft und Art. 87 der Verfas¬
sung gestrichen werden; dafür sah der Entwurf vor, daß der Verurteilte ein
verfassungsmäßig abgesichertes Recht zuerkannt bekommen sollte, sich
seinerseits mit einem Umwandlungsgesuch an das Pailament zu wenden.
Allerdings soUte jetzt ein Untätigbleiben des Parlaments zu Lasten des Ver¬
urteilten gehen. Wenn das Parlament binnen eines Jahres nicht entschieden
hätte, so soUte der Antrag des Verurteilten als abgelehnt gelten. Als Über¬
gangsregelung für die bereits vorliegenden Todesurteile wurde wiederum
eine Umwandlung in lebenslang vorgesehen, wenn nicht binnen einer
bestimmten Frist eine parlamentarische Entscheidung herbeigeführt würde,
die hier auf zwei Jahre bemessen sein sollte.
In dem Antiterrorgesetz (Gesetz Nr. 3713 vom 12.4.1991) konnte sich
das Parlament schließhch dazu durchringen, im Rahmen einer großange¬
legten Amnestie^'' auch die bereits dem Parlament vorliegenden Todesur¬
teile zu Freiheitsstrafen umzuwandeln.
Wenn wir alles zusammen betrachten, so zeigt sich, daß im Laufe der
letzten Jahrzehnte die Todestrafe im Rechtsleben in der Türkei immer
stärker zurückgedrängt wurde.'^ Die gesetzlichen Möglichkeiten wurden
12 Cumhuriyet vom 18.2.1988.
13 Cumhuriyet vom 15.9.1989.
1^ S. TELLENBACH: Das türldsche Antiterrorgesetz. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik II (1991), S. 162-168 (167).
15 So wm'de mit Gesetz Nr. 3756 vom 6.6.1991 ein Art. 10 a in das türkische Strafge¬
setzbuch eingefügt, nach dem ein Türke oder Ausländer, der im Ausland eine Sü-aftat be¬
gangen hat und dafür in der Türkei vor Gericht gestellt wird, mit der Strafe des Landes zu bestrafen ist, die für ihn günstiger ist. Das bedeutet z.B., daß ein Türke, der in Deutsch¬
land einen Mord begeht und dafür in der Türkei abgeurteilt wird (z.B. Fall Aziz Dakm,
beschnitten, auch die Rechtsprechung wurde zurückhahender, ebenso das
Parlament. Die Gründe dafür sind mannigfaldg. Das Hineinstreben nach
Europa mag dabei eine Rolle gespielt haben, aber wer mit Richtern,
Justizbeamten oder Universitätslehrern zu tun hat, oder wer mit Studenten
von juristischen Fakultäten ins Gespräch kommt, die sofort anfangen, den
deutschen Gast nach dem verfassungsmäßigen Verbot der Todesstrafe in
der Bundesrepublik zu befragen, spürt den Ernst, mit dem sich die
Gesprächspartner mit diesen Fragen befassen und bekommt den Eindruck,
daß man ihnen Unrecht täte, wenn man ihnen nur ein billiges Zweck¬
denken unterstellte.
Ein Blick auf die anderen Ländern Europas zeigt, daß es geradezu ein
typischer Weg ist, daß die Todesstrafe in Gesetz und Praxis schrittweise
zurückgedrängt wird, schließlich obsolet wird und jahrzehntelang noch
unbeachtet im Gesetzbuch steht, ehe sie eines Tages endgültig entfernt
wird.i6 Hier ist die Bundesrepubhk, die nach schlimmen Erfahrungen die
Todesstrafe in ihrer Verfassung sozusagen abrupt abgeschafft hat, eher die
Ausnahme. Es würde also der Erfahrung vieler anderer Länder entspre¬
chen, wenn die Türkei zunächst durch Rechtsprechung und Gnadeninstanz
danach strebte, die Todesstrafe stillschweigend nicht mehr anzuwenden
und es noch längere Zeit dauerte, bis sie sich offiziell zu einer Abschaf¬
fung entschheßen würde.
Sommer 1992), nicht, wie im türkischen StGB bei Mord vorgesehen zum Tode, sondem nur zu lebenslänglich verurteilt wird, weil das deutsche Recht die Todessüafe abgeschafft hat.
16 Von den Ländem, in denen die Todesstrafe gesetzlich noch besteht, vgl. z.B. Belgien (seit 1863 noch eine Hinrichtung 1918); Irland (letzte Hinrichtung 1954); Griechenland (1972); vgl. dazu ARTUK; op. cit. (Anm. 2), S. 165 mil weiteren Nachweisen; von den Ländem, die sie abgeschafft haben, vgl. z.B. Finnland (letzte Hinrichtung 1926, Ab¬
schaffung der Todessüafe 1949); Dänemark (letzte Hinrichtung 1892, Abschaffung der Todessüafe 1930); Norwegen (letzte Hinrichtung 1875, Abschaffung der Todesstrafe
1905); vgl. dazu L. THIBAULT; La Peine de Mon en France et ä l'Etranger. o.O.
[Paris] 1977, S. 176 ff).
Folgende weitere Beiträge standen im Fachbereich Turkologie auf dem Programm:
Ingeborg Baldauf, Bamberg: Der gadldisdsche Reisebericht: Ein Genre zwischen Bri¬
sanz tmd Banalität
Xenia Celnarovä, Bratislava: Pir Sidtan Abdals Poesie
Suraiya Faroqhi, München: Zwei wohlhabende Frauen aus der anatolischen Provinz im 19. Jahihundert
Christina Fenejan, Bukarest: Die Frage der Grenze zwischen den rumänischen Fürsten¬
tümern und dem Osmanischen Reich
Ingeborg Huhn, Berlin: Neue Perspektiven zu Konsul Wetzstein aus Dokumenten des Merseburger Archivs
Christoph Neumaim, München: Arm und Reich in Quaraferiye - zu den sozialen Ver¬
hältnissen in einer osmanischen Provinzstadt um 1770
Qaudia Römer, Wien: Der osmanische Geschichtssdu-eiber Bostan als Dichter Özgür Sava§9i, München: Gesprochenes Türkisdi und onomatopäische Wörter Thomas Scheben, Spangenberg: Aufstieg und Niedergang des osmanischen Reiches
unter militärhistorischen Gesichtspunkten
Martin Strohmeier, Istanbul: Eine Säuberung unter den ttirkischen Hochschullehrern in den 40er Jahren
Gerhard Vöth, Eisingen: Zur Alewiten-Diskussion in der Türkei
Im Rahmen der Fachgruppe Zentralasien wurden außerdem die folgenden
Vorträge gehalten:
Elisabetta Chiodo, Bonn: A journey to the shrine of Cinggis qayan: ouüine of a field¬
work
Klaus Sagster, Boim: Die Wiederkehr der Helden: Cinggis Khan und langyar heute Märia Salga, Boim: Einige Fragen zur mongcdischen Literatur der Gegenwart
Lore Sander, Beriin: Der Stifter Dhanyasena - dn ungewöhnlicher uigurisch«' Block¬
druck im sino-tibetischen Stil aus dem Museum für Indische Kunst Michio Sato, Morioka: Probleme im mGur hbum von Milaraspa Peter Zieme, Beriin: Buddhistische Magie in alttürkiseher Überlieferung
[Der im Rahmen dieser Fachgruppe von Helmut Eimer gehaltene Vortrag ist auf S. 307- 312 abgedruckt]