PROTESTWELLE IN DER TÜRKEI
Türkische Ärzte im Visier
Bei den Protesten gegen Premier Erdog˘an werden Ärzte von der Polizei attackiert. Dahinter steckt auch ein politischer Konflikt.
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asserwerfer und immer wie- der Tränengas: In der Türkei dauern die Demonstrationen gegen die religiös-konservative Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan an. Das Gleiche gilt für die Gewalt der Polizei. Nach Angaben des türkischen Ärzteverbandes Türk Tabipleri Birliği (TTB) wurden seit Beginn der Proteste Ende Mai mehr als 8 000 Menschen verletzt, vier Menschen kamen zu Tode.Begonnen hatte die inzwischen landesweite Protestbewegung als lokaler Konflikt in Istanbul. Dort waren die Menschen im Mai gegen Pläne der Stadtverwaltung vorge- gangen, den zentralen Gezi-Park mit altem Baumbestand zu besei - tigen, um ein Einkaufszentrum zu errichten. Rasch breiteten sich die Proteste auf das ganze Land aus.
Die Demonstrationen richten sich nun generell gegen den autokrati- schen Führungsstil der regierenden AKP und die Einschränkung von Grundrechten.
Mediziner stehen bei diesem schon länger schwelenden Konflikt ebenfalls im Visier der Regierung.
Der Ärzteverband TTB hatte in den vergangenen Jahren wiederholt Kritik an der Erdoğan-Führung ge- übt. Als Reaktion darauf hatte die Regierung Ende vergangenen Jah- res per Dekret eine neue Ärzteorga- nisation ins Leben gerufen. In die- sem „Rat der Gesundheitsberufe“
hat die Regierung eine strukturelle Mehrheit. Die TTB veröffentlichte daraufhin einen internationalen Solidaritätsappell, der vom „Bri- tish Medical Journal“ und anderen Fachzeitschriften weltweit verbrei- tet wurde. Die zentrale Botschaft:
Die Erdoğan-Führung versuche, die Kontrolle über die Ärzteschaft beim Gesundheitsministerium zu zentralisieren und die autonome Selbstverwaltung einzuschränken.
Die Beziehung zwischen dem TTB, anderen unabhängigen Ärzte- organisationen und der Regierung war also ohnehin angespannt, als die massive Protestwelle das Land erfasste. So gerieten die Ärzte rasch selbst ins Visier der Polizei.
Sie griff Dutzende Notlazarette für verletzte Demonstranten an und übte Druck auf den Verband aus,
die Namen behandelnder Ärzte preiszugeben.
Nicht nur der Ärzteverband TTB, sondern insgesamt sechs tür- kische Ärzteverbände übten vor diesem Hintergrund scharfe Kritik an dem massiven Einsatz von Trä- nengas. Die Polizei habe das Reiz- gas „nicht als Mittel zur Kontrolle von Menschenansammlungen, son- dern als chemische Waffe“ einge- setzt, zitierte der deutsche Dienst der Nachrichtenagentur AFP Ümit Bicer vom Verband der Gerichts- mediziner am Donnerstag. Der Arzt verwies darauf, dass Tränengas in die direkte Nähe von Menschen und in geschlossene Räume gefeuert worden sei. Dies sei nach inter - nationalem Recht verboten. Mit
„ernster Sorge“ sieht die türkische Ärzteschaft, dass zwei weitere To- desfälle auf den Einsatz von Trä- nengas zurückzuführen sein könn- ten. Demnach starben ein 47-jähri- ger Angestellter einer Privatschule in der Hauptstadt Ankara an Atem- beschwerden und eine 50-Jährige in Istanbul an einem Herzstillstand, nachdem beide großen Mengen Ein Arzt, der
Verletzte bei den Demonstrationen am 16. Juni in Istanbul versorgt hatte, wird von Polizisten fest -
genommen.
Foto: dpa
P O L I T I K
A 1308 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 26|
28. Juni 2013Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 26|
28. Juni 2013 A 1309 Tränengas ausgesetzt waren. Diebeiden Todesfälle seien bisher nicht in die Opferzahl der Proteste einge- rechnet worden, führt AFP aus. Nach offiziellen Angaben starben bei den Protesten bislang vier Menschen.
Premier Erdoğan ficht das nicht an. Er bezeichnete die verschiede- nen politischen Richtungen zugehö- rigen Demonstranten pauschal als
„Terroristen“ und „Gesindel“. Die Kritik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesaußen- minister Guido Westerwelle (FDP) lässt die türkische Regierung bis- lang unberührt. Inzwischen beschäf- tigt die Debatte auch den Deutschen Bundestag. „Solange nicht endlich die brutale Polizeigewalt gegen die Demonstranten beendet wird und die Verantwortlichen für die Polizei- gewalt strafrechtlich belangt wer- den, ist es unverantwortlich, bei den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei neue Kapitel zu eröffnen“, sagte Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion und stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe.
Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt schilderte der Generalse- kretär der Istanbuler Sektion des TTB, Dr. Hüseyin Demirdizen, die Erlebnisse der vergangenen Wochen aus Sicht der behandelnden Medi - ziner: „Nicht nur freiwillige Kolle- ginnen und Kollegen, sondern auch Hunderte Medizinstudenten, Kran- kenschwestern, Apotheker und an- dere Mitarbeiter aus dem Gesund- heitsbereich haben sich um die Verletzten und die Personen geküm- mert, die infolge des Tränengasein-
satzes gesundheitliche Probleme be- kommen haben“, sagte er. Die Opfer der Polizeigewalt seien in die provi- sorischen Lazarette transportiert und im Bedarfsfall in die Kliniken ge- fahren worden. „Fast alle Verletzun- gen sind auf einige wenige Ursachen zurückzuführen: Die Demonstran - ten wurden von Tränengasgranaten, Gummigeschossen oder dem Was-
serstrahl der Wasserwerfer getrof- fen“, berichtete Demirdizen weiter.
Dem Wasser sei eine nicht näher be- kannte Chemikalie – vermutlich Reizgas – beigemischt worden. Vie- le Personen seien auch in geschlos- senen Räumen dem Tränengas aus- gesetzt gewesen. Andere seien durch Schlagstockeinsatz, Schläge oder Tritte der Polizisten verletzt worden.
„Fast alle provisorischen Lazarette in Istanbul, Ankara, Izmir und ande- ren Städten waren Ziel von Polizei-
übergriffen“, beklagte der Ärztever- treter: „Einige wurden unter Tränen- gaseinsatz geräumt, mehr als zehn Kollegen wurden festgenommen.“
Bereits zu Beginn der Proteste hätten die behandelnden Ärzte und andere Freiwillige versucht, Verletz- ten zu helfen. Zunächst hätten sich die Polizisten auch zurückgehalten.
„Später haben Polizisten bei der Verfolgung der Demonstranten auch dort nicht haltgemacht und versucht , uns bei der Arbeit zu behindern.
Schließlich wurden auch unsere Kollegen und die Helfer zu De- monstranten und deren Unterstüt- zern erklärt“, beschrieb Demirdizen die Eskalation der Lage. Polizisten hätten die Demonstranten bis in die Hotels, die Notaufnahmen der Kran- kenhäuser, Moscheen, Privatwoh- nungen und andere geschützte Orte verfolgt. Auch hätten die Polizei - beamten keine Rücksicht darauf genommen, dass die Verletzten me- dizinische Versorgung brauchten.
Während das brutale Vorgehen der türkischen Polizei in der Eu - ropäischen Union zunehmend für Unruhe sorgt, haben auch Men- schenrechtsorganisationen ihren Ton verschärft. Im Zusammenhang mit den gewaltsamen Räumungen in Istanbul sollen Hunderte Personen verhaftet worden sein, berichtet Am- nesty International. Die türkische Anwaltsvereinigung verfügt über die Namen von mindestens 70 Ver- hafteten, von denen seither jede Spur fehlt. „Amnesty befürchtet Folter und Misshandlung in Haft und Poli- zeigewahrsam“, heißt es auf der Inter - netseite der deutschen Sektion.
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Harald Neuber
Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Dr. med. Frank Ulrich Montgomery, hat das Vorgehen der Polizei gegen Demonstran- ten in der Türkei kritisiert. „Der unangemes- sene Polizeieinsatz in Istanbul und anderen türkischen Städten beunruhigt viele Ärztinnen und Ärzte in Deutschland. Insbesondere das Vorgehen der Polizeikräfte, verletzten De- monstranten den Zugang zu medizinischer Versorgung vorzuenthalten oder medizini-
sches Personal, das verletzten Demonstran- ten zu Hilfe kommt, festzunehmen, ist aus Sicht der Bundesärztekammer völlig inakzep- tabel.“
In einem Schreiben an den Präsidenten des türkischen Ärzteverbandes „Türk Tabipleri Bir- lig˘i“, Dr. Eris¸ Bilalog˘lu, sicherte Montgomery den Ärztinnen und Ärzten in der Türkei die volle Solidarität der deutschen Ärzteschaft zu.
Zudem verurteilte der BÄK-Präsident in einem
Schreiben an Ministerpräsidenten Tayyip Er- dog˘an das Vorgehen der Polizeikräfte gegen Ärztinnen und Ärzte als Verstoß gegen den in- ternationalen Grundsatz der ärztlichen Neutra- lität, wie sie in der Genfer Konvention festge- halten ist. Ärztinnen und Ärzte seien gemäß ih- rer beruflichen Grundsätze den Patienten ge- genüber verpflichtet, sie könnten daher nicht für die Ausübung ihres Berufs rechtlich verfolgt werden.
BUNDESÄRZTEKAMMER KRITISIERT VORGEHEN DER POLIZEI
Foto: C. Kilerci