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ie St. Vincent Declaration for- dert seit 1989 Maßnahmen zur Reduktion diabetischer Fol- geschäden, das heißt, die Ver- ringerung von Amputationen um mehr als 50 Prozent, der Erblindung wegen diabetischer Augenschäden um mehr als 30 Prozent und des Neuauftretens des terminalen Nieren- versagens wegen Diabetes um mehr als 30 Prozent. Zusätzlich wird eine signifikante Verringerung von gefäß- bedingten Schäden an Herz und Ge- hirn angestrebt (11). Frühzeitiges Er- kennen und adäquates Therapieren des Diabetikers mit vaskulären Risi- ken ist heute relativ einfach und ko- steneffizient möglich. Diabetiker mit erhöhter Urin-Albuminausscheidung gelten als Hochrisikogruppe (1, 3).Zur Einschätzung des Diabetes- problems in der Bevölkerung gibt es nur hochgerechnete Daten aufgrund lokaler Erhebungen. Danach muß mit vier Millionen Diabetikern, davon zir- ka 90 Prozent Typ-II-Diabetikern, ge- rechnet werden. Der Anteil der Typ-I- Diabetiker wird auf fünf bis acht Pro- zent geschätzt (5). Patienten mit Typ I- Diabetes und solche, deren Typ-II-Dia- betes bis zum mittleren Alter manifest wird, entwickeln in 30 bis 40 Prozent ei- ne diabetische Nephropathie (8).
Diabetiker bilden den größten Anteil von Patienten, die derzeit in ein Nierenersatzprogramm aufge- nommen werden. Im Vergleich zu anderen Dialysepatienten haben Diabetiker eine deutlich schlechtere Prognose. Die Sterblichkeit von Dia- betikern mit diabetischer Nephropa- thie ist in allen Stadien der Nephro- pathie infolge kardialer, zerebraler und infektiöser Komplikationen be- sonders hoch. Sie kann jedoch durch angemessene und effektive Interven- tionen halbiert werden. Dies ge- schieht derzeit nicht in ausreichen- dem Maße (2).
Die Komplexität der diabeti- schen Folgeerkrankungen erfordert eine intensive Kooperation von nie- dergelassenen Ärzten, Diabetologen und Nephrologen mit dem Ziel, ge- fährdete Patienten frühzeitig zu er- kennen und erfolgreich zu behandeln.
Der Behandlungserfolg ist dabei ganz wesentlich von der aktiven Einbezie- hung der Patienten in ihre Therapie abhängig.
Gerade der immense Verlust an Lebensqualität und die hohen Kosten für das Gesundheitssystem lassen die- se Kooperation besonders lohnens- wert erscheinen. Deswegen hat sich diese Initiative gegründet und schlägt die im folgenden aufgelisteten Maß- nahmen vor.
Screening und Identifikation
Zum Ausschluß einer diabeti- schen Nephropathie genügt nach dem zwölften Lebensjahr ein jährli- ches Screening mit dem Nachweis ei- ner physiologischen Albuminaus- scheidung in einer beliebigen Urin- probe (normal: < 20 mg/l). Bei patho- logischem Screeningergebnis sollte im Laufe von drei Monaten zur weite- ren Diagnose einer Nephropathie mindestens zweimalig eine erhöhte Albuminausscheidungsrate nachge- wiesen werden (zum Beispiel > 30 mg im 24-Stunden-Urin).
Bei Patienten mit Typ-II-Diabe- tes beweist selbst ein mehrfacher Nachweis einer Mikroalbuminurie (zum Beispiel 30 bis 300 mg/24 Stun- den) nicht unbedingt das Vorliegen ei- ner diabetischen Nephropathie, sagt aber in jedem Fall ein erhöhtes Risiko
für kardio- und zerebrovaskuläre Er- krankungen vorher (12). Der Nach- weis einer Makroalbuminurie (zum Beispiel > 300 mg/24 Stunden) spricht hingegen vor allem bei gleichzeitigem Vorliegen einer diabetischen Retino- pathie mit hoher Wahrscheinlichkeit für eine diabetische Nephropathie.
Neben der Untersuchung des Urins sollten weitere Parameter dokumen- tiert werden (siehe unten „Gesund- heits-Paß Diabetes“).
Intervention und Behandlungsziele
Das Erreichen der Interventions- und Behandlungsziele kann auch da- zu beitragen, die hohe Sterblichkeit zu senken und die Lebensqualität zu verbessern. Zur Prävention des Nie- renversagens sind grundsätzlich fol- gende Therapieziele anzustreben.
Als gesichert gelten:
1 gute Stoffwechseleinstellung (HbA1c < 7,5 Prozent ohne schwere Hypoglykämien) (10)
1 dauerhafte Normalisierung des Blutdruckes (<< 140/90 mmHg) (4).
Zusätzlich werden als positive In- terventionsmöglichkeiten diskutiert:
1Nikotinabstinenz (9)
1zusätzliche Therapie zur Re- duktion des kardiovaskulären Risikos
1ACE-Hemmer-Therapie (7) 1Normalisierung der Proteinzu- fuhr (auf zirka 0,8 g/kg Körperge- wicht) (13).
Diese Behandlungsziele sind ent- sprechend Alter und Komorbidität zu modifizieren. Für jeden Patienten sind individuelle Behandlungsziele in Kooperation zwischen niedergelasse- nem Arzt, Diabetologen und Nephro- logen und selbstverständlich dem Pa- tienten festzulegen und zu dokumen- tieren.
A-1944
M E D I Z I N
(48) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 28–29, 14. Juli 1997 KURZBERICHT
Effektive Erkennung und Behandlung von Diabetespatienten mit hohem Risiko
Rüdiger Landgraf Rosita Meisel Wolfgang Pommer
Überlegungen für eine
strukturierte Kommunikation
Strukturierte intensive Schulun- gen sind untrennbarer Teil der Thera- pie und unabhängig vom Diabetestyp.
Interdisziplinäre Kooperation
Die Betreuung des Diabetikers ist eine interdisziplinäre Aufgabe.
Die Aufgabe des primär behandeln- den Arztes ist das Erkennen und Dokumentieren diabetischer Kompli- kationen (Gesundheits-Paß Diabetes der Deutschen Diabetes Gesell- schaft) und die Überwachung der Therapie.
Eine konsiliarische Mitbetreu- ung von Diabetologen ist anzustre- ben, wenn
1der Stoffwechsel nicht mit ei- ner durchschnittlichen Senkung des HbA1c um etwa ein Prozent inner- halb von drei Monaten bis zu einem Zielbereich von unter acht Prozent verbessert werden kann
1schwere Hypoglykämien auf- treten, die eine Injektion von Gluka- gon (sc, im, iv) oder Glukose (iv) er- forderlich machten, und
1weitere relevante diabetische Folgeschäden auftreten oder vorhan- den sind.
Eine konsiliarische Mitbetreu- ung von Nephrologen ist notwendig, wenn
1 Blutdruckwerte trotz sechs- monatiger Therapie im Mittel über 140/90 mmHg liegen
1eine rasch progrediente Mi- kroalbuminurie erkennbar ist
1eine Albuminurie von mehr als 0,3 g/Tag auftritt oder das Serum- kreatinin auf Werte über 1,3 mg/dl an- steigt.
Besondere Probleme des niereninsuffizienten Diabetikers
Die Progression einer Nierenin- suffizienz macht eine intensive nephrologische Betreuung notwendig, da der niereninsuffiziente Diabetiker ein Höchstrisikopatient ist, gefährdet durch rasche Progression der Retino- pathie und der koronaren Herz- erkrankung. In dieser Phase müssen zusätzlich renale Begleiterkrankun-
gen (Anämie, renale Osteopathie, urämische Dyslipidämie und andere) behandelt und eine Hepatitis-B-Imp- fung durchgeführt werden.
Besondere Sorgfalt gilt der Aus- wahl des für den Diabetiker geeigne- ten Nierenersatzverfahrens. Beide Dialyseverfahren (Hämo- und Perito- nealdialyse) und die Transplantation
sind für Diabetiker geeignet und soll- ten in Abstimmung mit dem Patien- ten ausgewählt werden.
Eine Lebensverlängerung bei größtmöglicher Lebensqualität ist nur durch die Wahl des geeigneten Nie- renersatzverfahrens möglich. Auch im
Stadium der Nierenersatztherapie ist die Vorsorge und adäquate Therapie neu auftretender oder fortschreiten- der diabetesspezifischer und diabete- sassoziierter Komplikationen obligat.
Kooperationsmodelle
Niedergelassene Ärzte, die Dia- betiker betreuen, etablieren eine re- gelmäßige Kooperation mit einem Diabetologen und Nephrologen, die in der Behandlung dieser Hochrisiko- patienten erfahren sind. Sie stellen si- cher, daß alle Diabetiker regelmäßig untersucht und Patienten mit entspre- chendem Risikoprofil vorgestellt wer- den.
Der Diabetologe stellt sicher, daß Patienten mit einer Albuminurie mit mehr als 0,3 g/Tag oder einem erhöh- ten Serumkreatinin dem Nephrolo- gen vorgestellt werden.
Der Nephrologe stellt sicher, daß alle Diabetiker einem Diabetologen vorgestellt werden bei
1 nicht optimaler Stoffwechsel- einstellung (hohes HbA1c, Hypo- glykämie)
1 anderen diabetischen Folge- schäden (wie Retinopathie, schwere Neuropathie, diabetischer Fuß).
Eine strukturierte Kommunika- tion bildet die unverzichtbare Grund- lage dieser Kooperation. Gemeinsa- me Therapiekonzepte und deren Er- gebnisse sollten regelmäßig doku- mentiert und den mitbehandelnden Ärzten mitgeteilt werden. Diese Er- gebnisse können so auch eine rationa- le Grundlage für Qualitätszirkel bil- den. Die oben geschilderten Aus- führungen wurden in modifizierter Form kürzlich publiziert (6).
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-1944–1945 [Heft 28-29]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser.
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Rüdiger Landgraf Diabeteszentrum Klinikum Innenstadt Universität München
Ziemssenstr. 1 80336 München
A-1945
M E D I Z I N
Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 28–29, 14. Juli 1997 (49) KURZBERICHT
An der Erarbeitung dieses Textes waren beteiligt:
Dr. Harald Bergrem, St. Vincent-Fellow, WHO Euro Professional, World Health Or- ganisation, Regional Office for Europe, 8 Scherfigsvej, 2100 Kopenhagen, Däne- mark
Dr. Arno Brandt, Institut für Medizin, Infor- matik und Biostatistik, Bachtelenweg 3, 4125 Riehen-Basel, Schweiz
Dr. Hans-Herbert Echterhoff, Detmolder Str.
25, 33617 Bielefeld
Dr. Martin Gottsmann, Kreiskrankenhaus Traunstein, Cuno-Niggl-Str. 3, 83278 Traun- stein
Prof. Dr. Rüdiger Landgraf, Diabeteszentrum Klinikum Innenstadt, Universität München, Ziemssenstr. 1, 80336 München
Dr. Gustav Meincke, Feldstr. 125, 24105 Kiel
Rosita Meisel, Mitglied im Verband der Dia- betesberater e. V., Baxter Deutschland GmbH, Nephrologische Therapie, Hertzstr.
30, 76275 Ettlingen
Dr. Dr. Klaus Piwernetz, Direktor, DiabCare Office WHO/IDF Euro, Kobellstr. 3, 80331 München
Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Pommer, Humboldt- Krankenhaus, Innere Medizin III, Nieren- und Hochdruckkrankheiten, Am Nordgra- ben 2, 13509 Berlin
Dr. Rolf Renner, Diabeteszentrum Kranken- haus Bogenhausen, Englschalkinger Str. 77, 81925 München
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. E. Ritz, Klinikum der Universität Heidelberg, Sektion Nephrolo- gie, Bergheimer Str. 56a, 69115 Heidel- berg
Priv.-Doz. Dr. Peter T. Sawicki, Universität Düsseldorf, Klinik für Stoffwechselkrankhei- ten und Ernährung, Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf
Priv.-Doz. Dr. Helmut Walter, Städt. Kran- kenhaus Nürnberg-Südklinikum, Medizini- sche Klinik 4, Breslauer Str. 201, 90471 Nürnberg