A-3464 (28) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 51–52, 22. Dezember 1997
U
m den stationären Sektor nicht gänzlich ins Chaos stürzen zu lassen, hat das britische Ge- sundheitsministerium für die- sen Winter einen „Nothaushalt“ für den staatlichen Gesundheitsdienst aufgestellt. Durch Einsparungen an anderer Stelle sollen rund 250 Millio- nen Pfund (725 Millionen DM) zusätz- lich in den Gesundheitsdienst fließen.Der „Nothaushalt“ ist einzigartig in der jüngeren Geschichte des Na- tional Health Service (NHS). „Wir müssen jetzt handeln, damit im Win- ter nicht plötzlich eine Versorgungs- krise da ist“, sagte Gesundheitsmini- ster Frank Dobson in London. „Diese Regierung wird alles in ihrer Macht Stehende tun, damit Patienten ver- nünftig versorgt werden!“ Dobson er- wartet, daß vor allem der stationäre Sektor im kommenden Winter Tau- sende Patienten zusätzlich behandeln muß. Krankenhauseinweisungen stei- gen traditionell während der kalten Jahreszeit deutlich an.
In den vergangenen Jahren war es zwischen November und März im- mer wieder zu Versorgungsengpässen in den rund 2 000 NHS-Kliniken ge- kommen. Kranke mußten in Notbet- ten auf den Fluren untergebracht wer- den, da es an Betten auf den Stationen fehlte. Beobachtungen in großen Lon- doner Krankenhäusern zeigen, daß bereits jetzt – im Spätherbst – Notbet- ten auf Krankenhausfluren aufgestellt werden müssen. Durch den „Not- haushalt“ hofft Gesundheitsminister Frank Dobson, das Schlimmste doch noch abzuwenden. Eines der Proble- me im stationären Sektor ist, daß nach 18 Jahren konservativer Regierungen Tausende Krankenhausbetten aus Kostengründen stillgelegt wurden.
Diese Betten fehlen jetzt.
Das Verteidigungs- und das Han- delsministerium wurden von Premier- minister Tony Blair angewiesen, rund 250 Millionen Pfund, umgerechnet rund 725 Millionen DM, einzusparen.
Das eingesparte Geld soll direkt in den National Health Service fließen.
Der britische Ärztebund (British Medical Association) sowie die größte Krankenpflegergewerkschaft (Royal College of Nursing) hatten in den vergangenen Wochen mehrfach vor bevorstehenden stationären Ver- sorgungsengpässen gewarnt.
Lob von Ärzten und Pflegepersonal
„Wir sind erleichtert, daß das Ge- sundheitsministerium handelt und mehr Geld in das Krankenhauswesen pumpen wird“, sagte der Sprecher der British Medical Association (BMA), James Johnson. „Der Nothaushalt ist eine gute Nachricht für Patienten, Ärzte und Pfleger.“ Das Royal Col- lege of Nursing (RCN) lobte den
„NHS-Nothaushalt“ als „Rettung in letzter Minute“. „Es ist wichtig, daß das zusätzliche Geld unverzüglich be- reitgestellt wird, damit Krankenhäu- ser rechtzeitig vor Winterbeginn still- gelegte Betten und Stationen wieder eröffnen können“, so RCN-General- sekretärin Christine Hancock.
Weder die BMA noch das RCN gehen normalerweise großzügig mit Lob der jeweiligen Regierung um.
Die Tatsache, daß jetzt beide Organi- sationen der Gesundheitspolitik der neuen britischen Labour-Regierung offen applaudieren, zeigt nach Mei- nung von Beobachtern, wie sehr sich die Zeichen seit dem Wahlsieg Tony Blairs im Mai 1997 gewandelt haben.
Anders ist die Haltung der briti- schen Apothekerverbände. Sie haben die Regierung in jüngster Zeit mehr- fach kritisiert, Wahlversprechen nicht gehalten zu haben. Die Kritik bezieht sich vor allem auf Labours 180-Grad- Drehung in Sachen Preisbindung für verschreibungsfreie Arzneimittel.
Unterdessen überraschte Ge- sundheitsminister Dobson kürzlich mit der Ankündigung, NHS-Kran- kenhäusern erlauben zu wollen, zu- sätzliche Betten in britischen Privat- kliniken zu mieten. In Großbritanni- en gibt es rund 11 000 Betten in Pri- vatkliniken. Nach Angaben der größ- ten privaten Krankenversicherung im Land, Bupa, steht derzeit jedes zweite private Krankenhausbett leer.
Frank Dobson gilt als Gegner privater Krankenfürsorge. Die Tatsa- che, daß der Labour-Minister jetzt den staatlichen Hospitälern eine Ko- operation mit dem Privatsektor er- laubt, zeigt nach Meinung gesund- heitspolitischer Beobachter, wie kri- tisch die Lage ist. Die ersten NHS- Krankenhäuser haben inzwischen da- mit begonnen, Patienten in privaten Betten unterzubringen. Es zeichnet sich ab, daß die Staatskliniken vor- zugsweise Patienten zur Konvales- zenz in private Krankenhäuser schicken. Das ist billiger, als die NHS- Patienten im Privatsektor operieren zu lassen. Trotz staatlicher Gesund- heitsfürsorge verfügt heute rund jeder zehnte Engländer über privaten Krankenversicherungsschutz. Labour schaffte bereits kurz nach der Re- gierungsübernahme diverse steuerli- che Abschreibungsmöglichkeiten für PKV- Beiträge ab. Die Arbeiterpartei steht aus ideologischen Gründen auf Kriegsfuß mit der privaten Kranken- fürsorge. Kurt Thomas, London
T H E M E N D E R Z E I T BLICK INS AUSLAND