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Archiv "LEITSYMPTOM: Hypochondrisch" (02.04.1986)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Aktuelle Medizin

Zur Fortbildung

LEITSYMPTOM

Hypochondrisch

Klaus Windgassen

Aus der Klinik für Psychiatrie

(Direktor: Professor Dr. med. Rainer Täfle) der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

C ast die Hälfte der gesunden I Menschen weist funktionelle Beschwerden auf, ohne allerdings deswegen einen Arzt zu konsultie- ren oder diese Beschwerden über- haupt auch nur als krankhaft zu werten (Tölle und Ladas, 1982).

Dem steht der häufig pejorativ als Hypochonder bezeichnete Patient gegenüber, den auch die unauf- fälligen Untersuchungsbefunde sorgfältigster Diagnostik nicht von seiner Sorge befreien können, an einer ernsten Krankheit zu leiden.

Definition

Das hypochondrische Syndrom ist gekennzeichnet durch die ängst- liche Selbstbeobachtung der Kör- perfunktionen und eine oftmals ausgeprägte Krankheitsfurcht, häufig verbunden mit qualvollen Phantasien und phantastischen Körpervorstellungen. Unter Ver- lust der natürlichen Selbstver- ständlichkeit kann es zu einer ein- seitig die Gesundheit betonenden Lebensweise kommen. Die Aus- prägung der hypochondrischen Befürchtungen und Beschwerden reicht von leichtem Zweifel an der leiblichen Integrität bis zu wahn- hafter Gewißheit, krank zu sein.

„Der eigene Leib wird zur Welt, was notwendigerweise dazu führt,

Es gibt keine nosologische Entität

„Hyperchondrie". Hypochondri- sche Syndrome treten bei einer Reihe psychiatrischer Krankheits- bilder auf. Kontraindiziert ist jede irrationale somatische Maximal- diagnostik. Sie verkennt den krankhaften Charakter hypochon- drischer Beschwerden und verzö- gert oder verhindert gar ei- ne wirksame Behandlung. Erst die Differentialdiagnose hypo- chondrischer Syndrome eröffnet den Zugang zu den bestehenden therapeutischen Möglichkeiten.

daß die Außenwelt an Interesse verliert." (Blankenburg, 1983).

Symptomatik

Besonders häufig sind die Hohlor- gane des Verdauungs- und Uroge- nitaltraktes Gegenstand hypo- chondrischer Selbstbeobachtung, weiterhin Herz und Zentralnerven- system. In ängstlicher Erwartung werden die jeweiligen vegetativ gesteuerten Organfunktionen ver- folgt. Da autonome Regulationen auch durch emotionale Einflüsse moduliert werden, kann allein die unphysiologische Aufmerksam- keitszuwendung eine harmlose

Funktionsänderung von Herz- schlag oder Darmperistaltik bewir- ken. Im Rahmen eines Circulus vi- tiosus wird dies gleichsam als Be- leg der hypochondrisch befürch- teten und erwarteten Erkrankung gewertet.

Die Organwahl kann durch die im Mittelpunkt der populärwissen- schaftlichen Berichterstattung stehenden Krankheiten beeinflußt werden. Auch die Residualsym- ptomatik überstandener Krank- heiten kann in selteneren Fällen den Anknüpfungspunkt hypo- chondrischer Beschwerden bil- den. Die durch die körperliche Er- krankung bedingten Funktionsab- weichungen werden dann hypo- chondrisch fehlinterpretiert. Häu- figer findet sich in der Anamnese eine entsprechende Erkrankung eines nahen Angehörigen oder ei- ner anderen wichtigen Bezugsper- son des Patienten.

„Die quälende, reflektierende Rückwendung zum eigenen Leib tritt an die Stelle der tragenden Gelebtheit" (Bräutigam, 1956) und bestimmt auch die Begegnung mit dem Arzt: Sie ist beschränkt auf die ängstliche Schilderung von vermeintlichen Krankheitssympto- men; unauffällige Untersuchungs- befunde einer wie sorgsam und aufwendig auch immer durchge- Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 14 vom 2. April 1986 (37) 945

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Hypochondrisch

führten Diagnostik können die Frage nach der Krankheit als Aus- druck einer existentiellen Vertrau- enskrise (Wulff, 1958) nicht beant- worten und den Patienten beru- higen. Sie dienen allenfalls als Ausgangspunkt weiterer Nachfor- schungen.

Vorkommen

und Differentialdiagnose

Es gibt keine nosologische Entität

„Hypochondrie" (Wollenberg, 1904). „Hypochondrisch kann nur eine besondere Erfahrung der ei- genen Leiblichkeit sein." (Pflügge, 1960). Die Differentialdiagnose der durch diesen besonderen Erfah- rungsmodus gekennzeichneten hypochondrischen Syndrome um- faßt eine Reihe psychiatrischer Störungen und Krankheitsbilder.

Neurotische Entwicklung Im Rahmen neurotischer Störun- gen kann es an Krisenpunkten der inneren Entwicklung zu einer

„Konkretisierung von Angst im Leib" (Bräutigam, 1956) kommen.

Es sind oftmals gerade diese hy- pochondrischen Patienten, die dem Arzt Probleme aufgeben:

Sonstige gravierende seelische Symptome scheinen zu fehlen, und sie konfrontieren den Unter- sucher in gut informierter Weise mit vielen Vorbefunden und den

„Schwachstellen" der bisherigen Diagnostik. Den Arzt nötigen diese Kranken oft zu technisch sehr auf- wendigen diagnostischen Maß- nahmen.

Melancholie

Bei dem melancholisch Kranken wird die genaue Untersuchung ne- ben den hypochondrischen Be- schwerden die mehr oder minder deutlich ausgeprägten, charakteri- stischen Störungen von Affektivi- tät und Antrieb erkennen lassen.

Weiterhin können sogenannte Vi- talsymptome feststellbar sein; die Anamnese kann häufig auch

durch den phasenhaften Ver- lauf weitere Hinweise geben.

Schizophrene Psychosen Bei diesen Kranken erscheinen die Befürchtungen häufig bizarr oder sind mit sogenannten Leibhalluzi- nationen vergesellschaftet. Auch können die befürchteten Krank- heiten und leiblichen Veränderun- gen von Patienten als Folge äuße- rer Einflußnahme empfunden und geschildert werden. Gerade jugendliche Patienten können zu Beginn der Psychose die Erschüt- terung ihrer Existenz vorrangig als schwer zu charakterisierende leib- liche Veränderung erleben. In je- dem Fall wird man sorgfältig auf schizophrene Störungen des Denkens, des Antriebs und der Af- fektivität zu achten haben.

Psychoorganische Syndrome In der Regel wirken hier organisch bedingte Leistungseinbuße und Reaktion des Patienten auf die veränderten Möglichkeiten der Le- bensgestaltung zusammen. Psy- chischer Befund und gezielte Ex- ploration erlauben die richtige Diagnose; diese wird allerdings verfehlt, wenn die Relevanz des psychoorganischen Syndroms in der Differentialdiagnose hypo- chondrischer Beschwerden unbe- rücksichtigt bleibt. Klinisch-neu- rologischer Untersuchungsbefund und die Ergebnisse neuroradiolo- gischer Untersuchungen, insbe- sondere der Computertomogra- phie, können im Einzelfall weitere diagnostische Hinweise liefern, ebenso die Testpsychologie.

Einige begriffliche

und klinische Abgrenzungen Eine Reihe von psychiatrischen Krankheitsbildern und Syndromen wie Dysmorphophobie, De- realisations- und Depersonalisa- tionssyndrome oder Phobien sind von hypochondrischen Beschwer- debildern zu unterscheiden. In der

Praxis sind vor allem die folgen- den Abgrenzungen von Bedeu- tung.

Konversionsreaktionen

Hier prägen funktionelle Störun- gen mit Ausdrucks- und Symbol- charakter das Krankheitsbild, nicht die Angst vor der Krankheit.

Die sogenannte Rentenneurose Hier stehen weniger die Sorge um Gesundheit noch die Furcht vor Krankheit im Zentrum der Auf- merksamkeit als eine meist relativ geringfügige Beeinträchtigung. Es kommt zu einer Überbewertung der resultierenden Leistungsein- schränkung. Diese idealtypische Akzentuierung darf jedoch nicht vergessen lassen, daß Übergänge vorkommen.

Somatische Erkrankungen Auch der Patient mit einer hypo- chondrischen Fehlhaltung kann eine somatischen Krankheit be- kommen. Wegen der vielfältigen Beschwerden ohne organische Korrelate in der Vergangenheit können aktuelle pathologische Or- ganbefunde übersehen werden.

Häufigkeit

Unser Wissen über die Prävalenz hypochondrischer Syndrome ist noch lückenhaft. In einer Feldstu- die (Dilling, Weyerer und Castell, 1984) litten weniger als ein Pro- zent der Untersuchten an einer hy- pochondrischen Neurose. Der An- teil dieser Patienten am Kranken- gut einer psychiatrischen Klinik liegt nicht wesentlich höher (Bräu- tigam, 1972; Kenyon, 1964).

Handelt es sich also bei der neuro- tischen Fehlentwicklung mit Vor- herrschen hypochondrischer Be- schwerden um ein relativ seltenes Krankheitsbild, so kommen hypo- chondrische Klagen als Begleit- 946 (38) Heft 14 vom 2. April 1986 83. Jahrgang Ausgabe A

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Hypochondrisch

Symptome anderer Neurosen häu- figer vor. Weitaus größer ist der Anteil von Patienten mit hypo- chondrischer Symptomatik unter- schiedlicher Ätiologie in der Allge- mein- oder somatischen Facharzt- praxis. Angesichts der Chronizität vieler hypochondrischer Syndro- me und der bereits skizzierten Tendenz dieser Patienten, auf im- mer neue apparative Untersu- chungen zu drängen, ist die ad- äquate Behandlung dieser Patien- tengruppe auch unter rein ökono- mischen Gesichtspunkten zu for- dern (Barsky und Klerman, 1983).

Literatur

Barsky, A. J.; Klerman, G. L.: Overview: Hypo- chondriasis, bodily complaints, and somatic styles. Am. J. Psychiatry 140 (1983) 273-283 — Blankenburg, W.: Der Leib als Partner. Psy- chother. med. Psychol. 33 (1983) 206-212 — Bräutigam, W.: Analyse der hypochondrischen Selbstbeobachtung. Nervenarzt 27 (1956) 409-418 — Bräutigam, W.: Reaktionen — Neuro- sen — Psychopathien. Stuttgart: Thieme, 1972

— Dilling, H.; Weyerer, S.; Castell, R.: Psychi- sche Erkrankungen in der Bevölkerung. Stutt- gart: Enke, 1984 — Kenyon, F. E.: Hypochon- driasis: A clinical study. Brit. J. Psychiat. 110 (1964) 478-488 — Plügge, H.: Hypochondrische Patienten in der Inneren Medizin. Nervenarzt

31 (1960) 13-19 — Tölle, R.; Ladas, A.: Funktio- nelle Beschwerden — gesund oder krank?

Dtsch. med. Wschr. 107 (1982) 1510-1514 — Wollenberg, R.: Die Hypochondrie. Wien:

Hölder, 1904 — Wulff, E.: Der Hypochonder und sein Leib. Nervenarzt 29 (1958) 60-71

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Klaus Windgassen Klinik für Psychiatrie der Universität Münster

Albert-Schweitzer-Straße 11 4400 Münster

FÜR SIE GELESEN

Konsequenzen für die Praxis

Die heutige Medizin scheint mehr an Krankheiten als an Leiden in- teressiert zu sein. Sie rückt den Beschwerden des Patienten mit modernster Technik zu Leibe. So hilfreich sich dieses Vorgehen in vielen Bereichen erweist, so ohn- mächtig ist es im Umgang mit dem hypochondrischen Patienten.

Wiederholte diagnostische Maß- nahmen unter Einbeziehung der jeweils neusten apparativen Mög- lichkeiten oder invasiverer Verfah- ren beruhigen den hypochondri- schen Patienten nicht.

Oftmals hingegen bewirken sie ei- ne iatrogene Schädigung, sei es infolge somatischer Komplikatio- nen unnötiger explorativer Eingrif- fe oder infolge der iatrogenen Ver- festigung einer hypochondrischen Fehlhaltung. Stets wird darüber hinaus die adäquate Behandlung verzögert.

Damit der Arzt nicht — wie Kehrer formulierte — „die wichtigste und häufigste Gelegenheitsursache hypochondrischer Zustände"

wird, sollte bei entsprechenden Anhaltspunkten durch fachpsych- iatrische Untersuchung eine posi- tive Diagnose gestellt werden und eine differentialdiagnostische Ab- klärung erfolgen. Hierdurch wird die Grundlage einer wirksamen Therapie geschaffen.

Bypass im Alter?

Statistische Untersuchungen über Nutzen und Lebenserwartung nach koronarer Bypass-Op bezie- hen sich entsprechend der Indika- tionsstellung zumeist auf Patien- ten unter 65 Jahren. Der Anteil äl- terer Menschen in den Bevölke- rungen der Industrienationen wird jedoch in Zukunft weiter steigen.

In einer multizentrischen Studie an 1491 Koronarpatienten von 65 Jahren und älter wurden nach ei- ner mittleren Beobachtungszeit von 4,4 Jahren die Ergebnisse ei- ner Bypass-Operation mit der konservativen medikamentösen Behandlung verglichen. Beson- ders profitierten die Patienten mit schlechten prognostischen Vor- aussetzungen wie eingeschränkte linksventrikuläre Funktion etc.

von dem operativen Eingriff. Ins- gesamt war die Überlebenszeit nach Bypass-Op mit 79 Prozent gegenüber 64 Prozent signifikant höher als in der konservativ thera- pierten Gruppe, ebenso besser- ten sich die klinischen Symptome in 62 Prozent gegenüber 29 Pro- zent.

Eine Einschränkung erfährt die Studie durch die Tatsache, daß es sich um eine nichtrandomisierte Untersuchung handelt, daß also die verglichenen Patientengrup- pen keine identischen Vorausset- zungen hinsichtlich Morbiditäts-

grad, Prognose u. ä. aufwiesen.

Dennoch sind diese Resultate in- teressant und dürften bei Bestäti- gung Konsequenzen in der Be- treuung gerade älterer Koronarpa- tienten nach sich ziehen. müb

Gersh, BJ et al.: Comparison of Coronary Arte- ry Bypss Surgery and Medical Therapy in Pa- tients 65 Years of Age or Older. N. Engl. J.

Med. 1985; 313: 217-24.

Mayo Clinic, 200 First St., S. W., Rochester, NN 55905

BERICHTIGUNG

AIDS-Virus-Träger:

Anzahl in Frankreich und in den USA

In der Notiz, erschienen in Heft 49/1985, Seite 3706, heißt es am Schluß: „In Frankreich haben Or- ganon (für den Abbott-Test)

... einen Marktanteil von ... ".

Hierzu gibt die Firma Abbott Dia- gnostic Products GmbH, Wiesba- den, die folgende Richtigstellung:

„Abbott Diagnostic Products GmbH vertreibt seinen Anti-HTLV- III-EIA sowohl in Frankreich als auch in den übrigen europäischen Ländern direkt und einzig unter dem Namen von Abbott Diagno- stic Products." ❑ Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 14 vom 2. April 1986 (41) 947

Referenzen

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