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Archiv "Mammographie: Kontroverse um das Screening" (10.11.2000)

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D

er Autor hat versucht, die derzeit in der Öffentlichkeit diskutierten Standpunkte im Hinblick auf die Brustkrebsfrüherkennung mit Mam- mographie darzulegen (1, 2). Die Dar- stellung geht aber nicht ausreichend auf Stärken und Schwächen der vorge- brachten Argumente ein und erschwert damit eine sachliche Bewertung der aufgeführten Standpunkte.

❃ Die wissenschaftliche Bewertung der Mammographie als Brustkrebs- früherkennungsmethode kann nicht in erster Linie von der Beurteilung rando- misierter Studien im ausstehenden Cochrane Review abhängig gemacht werden. Der Ansatz der von Gøtzsche und Olsen (die das Cochrane-Protokoll dazu angemeldet haben) im Januar 2000 vorab veröffentlichten Analysen (3) erlaubt keine inhaltliche Aussage zum Ergebnis der Brustkrebsfrüher- kennung. Gøtzsche und Olsen haben le- diglich anhand methodischer Kriterien geprüft, ob die vorliegenden randomi- sierten Studien aussagekräftig sind. Ih- re Schlussfolgerung bedeutete, dass die Aussagekraft dieser Studien wegen me- thodischer Mängel angezweifelt wer- den müsse und infolgedessen diese Stu- dien den Einsatz der Mammographie zur Brustkrebsfrüherkennung nicht rechtfertigten.

❃ Nahezu alle international aner- kannten Experten halten die beobach- teten Abweichungen jedoch für unbe- deutend. Durch andere Daten (Fall- kontrollstudien: 4, 5, 6, 7; aktuelle Er- gebnisse der bevölkerungsbezogenen Evaluation in Schweden, den Nieder- landen und Großbritannien: 8, 9, 10) wird die Aussage der beanstandeten Studien inzwischen so stark unterstützt, dass eine Beendigung der bestehenden Brustkrebsfrüherkennungsprogramme

in keinem Fall begründet wäre. In den Niederlanden ist die Mortalität in der mammographierten Altersgruppe 1998 statistisch signifikant um 13 Prozent ge- sunken in völliger Übereinstimmung mit den Prognosen einer 1987 prospek- tiv durchgeführten Computersimulati- on (9). Ein weiterer Rückgang ist in den nächsten Jahren zu erwarten.

Da sich in den Niederlanden ebenso wie in Schweden ein Zusammenhang zwischen dem landesweit unterschiedli- chen Zeitpunkt der Einführung der mammographischen Untersuchung und dem Abfall der Brustkrebssterblichkeit nachweisen lässt (8, 9), ist nicht zu er- warten, dass die Senkung der Sterblich- keit im Wesentlichen auf verbesserte Therapieverfahren zurückgeführt wer- den kann.

❃Der Ersatz der Mammographie als Früherkennungsmethode durch die Palpation, wie gelegentlich aufgrund der Ergebnisse der kanadischen Studie vorgeschlagen wird, ist nicht gut be- gründet, da weltweit keine Studiener- gebnisse vorliegen, die eine Verbesse- rung der Heilungschancen durch allei- nige Palpation nachweisen konnten.

Wenn man akzeptiert, dass Früherken- nung die Heilungschancen verbessern kann, scheint es kaum sinnvoll, auf die Methode zu verzichten, die die Karzi- nome deutlich früher entdecken kann.

Auch in Kanada empfehlen Fachgesell- schaften und Gesundheitsorganisatio- nen nicht, die Mammographie durch die Tastuntersuchung zu ersetzen.

❃ Mühlhauser zieht zwar die Wirk- samkeit der mammographischen Früh- erkennung als solche nicht in Zweifel, sie meint jedoch, dass der zu erwarten- de Nutzen (Senkung der Brustkrebs- sterblichkeit) gegenüber den in Kauf zu nehmenden Belastungen (abklärungs-

bedürftige Mammogramme und daraus resultierende Gewebeentnahmen bei harmlosen Veränderungen) so gering ist, dass viele Frauen bei Kenntnis die- ser Bilanz die Teilnahme an der Unter- suchung ablehnen würden (11). Richtig an ihrer Argumentation ist, dass bei Früherkennungsprogrammen, die sich an gesunde Frauen wenden, die zum Teil unvermeidlichen Nachteile für die Teilnehmerinnen unbedingt minimiert werden müssen und auch nicht ver- schwiegen werden dürfen.

❃ Bei der Berechnung von Nutzen und Schaden macht Mühlhauser jedoch einige Fehler, die das Ergebnis verfäl- schen. Für die umfassend qualitätsgesi- cherte Brustkrebsfrüherkennung in den vom Bundesausschuss Ärzte/Kranken- kassen beauftragten Modellprojekten treffen ihre Zahlen nicht zu. Bei der Be- rechnung des Nutzens hat sie zum Bei- spiel die im Vergleich zu Deutschland viel niedrigere Brustkrebssterblichkeit in Schweden für die Altersgruppe ab 40 Jahren eingesetzt. Bei der Berechnung des Nutzens ist auch zu berücksichti- gen, dass die von Mühlhauser zugrunde gelegten Studienergebnisse sich auf Zeiträume beziehen, die den gesam- ten Verlauf eines qualitätsgesicherten Brustkrebsfrüherkennungsprogramms nicht erfassen. Beim etablierten Pro- gramm für 50- bis 69-jährige Frauen dürfte der Nutzen nach zehn Scree- ningrunden um ein Mehrfaches höher liegen. Hierfür spricht auch die Über- einstimmung zwischen den prospekti- ven Modellberechnungen für die Nie- derlande und den bisherigen nieder- ländischen Programmergebnissen (9).

Außerdem ist für die individuelle Entscheidung zur Teilnahme nicht die Mortalitätssenkung der eingeladenen Frauen, sondern die höhere Morta- litätssenkung bei Teilnehmerinnen zu- grunde zu legen.

❃ Bei der Berechnung des Schadens legt Mühlhauser nicht die schwedischen oder die europäischen Standards zu- grunde, sondern bezieht sich auf ameri- kanische Daten aus Programmen ohne ausreichende Qualitätssicherung. Bei der Bewertung der Nachteile kann man bei Berücksichtigung der Europäischen Leitlinien für die mammographische Brustkrebsfrüherkennung (12) eine Halbierung der negativen Auswirkun-

Mammographie

Kontroverse um das Screening

Stellungnahme zu den Beiträgen von

Klaus Koch im DÄ Heft 42 vom 20. Oktober 2000

Forum

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gen gegenüber den Ansätzen von Mühlhauser erwarten. Insgesamt ist un- ter den Bedingungen der Modellpro- jekte ein etwa zehnmal günstigeres Nut- zen-Schaden-Verhältnis zugrunde zu le- gen als in ihren Berechnungen ange- nommen.

❃ Die kritische Bilanz zwischen Vor- und Nachteilen der Brustkrebsfrüher- kennung erfordert nach Ansicht eu- ropäischer Experten mit Erfahrung in der mammographischen Früherken- nung, dass Brustkrebsfrüherkennung nur in organisierten und nach den Re- geln des TQM (Total Quality Manage- ment) qualitätsgesicherten Program- men erfolgen soll, wie in den Europäi- schen Leitlinien für die mammographi- sche Brustkrebsfrüherkennung festge- legt (13). Gesetzliche Festlegungen, wie in den USA, verhindern zwar grobe Qualitätsmängel, können aber die An- forderungen des TQM nicht erfüllen. In den führenden Zentren wird zwar Spit- zenqualität erreicht, in der flächen- deckenden Versorgung sind die gesetz- lichen Regelungen jedoch nicht in der Lage, ein einheitlich hohes, den eu- ropäischen Leitlinien auch nur annä- hernd genügendes Qualitätsniveau zu sichern.

❃ Der zunehmende Einsatz der Hor- monersatztherapie (HRT) verstärkt noch die Notwendigkeit einer mammo- graphischen Früherkennungsdiagno- stik auf höchstem Niveau, da der post- menopausale Rückgang der Brustdich- te durch die HRT weitgehend verhin- dert wird. Ergebnisse aus Schweden zeigen, dass mit höchster Qualität der Effekt der Mammographie auch bei Frauen mit prämenopausal dichten Brüsten nicht geringer sein muss (14, 15).

❃ Die Tatsache, dass die Häufigkeit der Brustkrebsdiagnose nach langjähri- ger HRT zunimmt, spricht der mammo- graphischen Früherkennung eher einen höheren Stellenwert zu, wenn die er- forderliche Qualität gesichert ist. Wel- chen Stellenwert zusätzliche Verfahren wie zum Beispiel Ultraschall oder MR bei der Früherkennungsuntersuchung asymptomatischer Bevölkerungsgrup- pen haben können, muss erst durch wei- tere Studien geklärt werden. Sicher ist, dass die Mammographie auf viele Jah- re weiterhin die Basis der Früherken-

nungsuntersuchung auf Brustkrebs bleiben wird.

❃ Es ist zu befürchten, dass bei Be- folgung des von den Fachgesellschaf- ten vorgeschlagenen Weges, dessen Protagonisten sich am unzulänglichen amerikanischen Qualitätskontrollsystem orientieren, auch in Deutschland eine qualitativ nicht dem Niveau unserer europäischen Nachbarländer entspre- chende Brustkrebsfrüherkennung eta- bliert wird. Die Modellprojekte sind im Gegensatz dazu so konzipiert, dass durch Schaffung der organisatorischen Voraussetzungen (unter anderem Dop- pelbefundung aller Mammographien durch speziell fortgebildete niederge- lassene Ärzte, interdisziplinäre Konfe-

renzen unter Beteiligung der nieder- gelassenen befundenden Ärzte, der Pathologen und der Operateure am Krankenhaus, laufende Erfassung der Qualitätsparameter) schrittweise eine flächendeckende, an den Prinzipien des TQM orientierte Einführung der mam- mographischen Früherkennung erfol- gen kann (13, 16, 17). Damit wird von Anfang an das Qualitätsniveau er- reicht, welches sicherstellt, dass das Ziel der Brustkrebsfrüherkennung, nämlich die Verbesserung der Heilungschancen, erreicht und gleichzeitig die Belastung der gesunden Frauen so gering wie möglich gehalten wird.

Dr. med. Hans Junkermann

Leiter des Modellprojektes Mammographie-Screening Bremen, ZKH Sankt-Jürgen-Straße 1, 28205 Bremen Dr. med. Margrit Reichel

Leiterin des Modellprojektes Mammographie-Screening Wiesbaden/Rheingau-Taunus-Kreis

Dr. med. Lawrence von Karsa

Leiter der Mammographie-Screening-Planungsstelle am Zentralinstitut (ZI) für die kassenärztliche Versorgung

Schlusswort

Kritik war zu erwarten. Auffällig ist aber, dass die Stellungnahme kein Wort über das Problem verliert, das ich für das drängendste halte: Es ist unaufrichtig, in Modellprojekten absoluten Wert auf Qualität zu legen, es gleichzeitig aber still- schweigend zu akzeptieren, dass die Frau- en die nächsten Jahre einem System der

„grauen“ Mammographie ausgeliefert bleiben, in dem sich die wenigsten Ärzte überhaupt bewusst sind, welchen Scha- den schlechte Mammographien anrich- ten können. Dennoch sind die Modell- projekte des Zentralinstituts für die Kas- senärztliche Versorgung (ZI) ein span- nendes, wenn auch teures Experiment:

Denn sie verlagern die Entscheidung dorthin, wo sie hingehört: In Bremen und Wiesbaden können die Frauen selbst wählen, ob und bei wem sie zur Mammo- graphie gehen. Über die Teilnahmefre- quenz wird die Aufklärung entscheiden.

Kein Zufall scheint mir deshalb, dass Junkermann et al. gerade Prof. Ingrid Mühlhauser intensiv kritisieren, deren Buch Maßstäbe setzt, weil es Nutzen und Risiken des Screenings aus der Per- spektive der Frauen betrachtet (1). Es spricht allerdings nichts dagegen, inner- halb eines solchen Konzeptes die aktu- elleren Zahlen des holländischen Scree- ning-Programms zu verwenden (2).

Wie sieht das „zehnmal günstigere Nutzen-Schaden-Verhältnis“ also aus?

Nach den holländischen Zahlen sterben von 1 000 Frauen über 50 Jahre inner- halb von zehn Jahren 10 an Brustkrebs (ein Prozent). Wenn alle 1 000 Frauen jedes zweite Jahr am Screening teilneh- men, könnte sich diese Zahl um drei verringern. Das heißt, eine Frau kann durch fünf Screeninguntersuchungen ihr Brustkrebs-Sterberisiko von 1 Pro- zent auf 0,7 Prozent verringern. Was derzeit kaum eine Frau erfährt, ist, dass sie dafür Risiken in Kauf nehmen muss.

Nach zehn Jahren und fünf Screening- runden führt die Teilnahme im günsti- gen Fall zu folgender Bilanz (2).

a) Bezogen auf 1 000 Frauen, wird bei 15 ein Tumor frühzeitig entdeckt:

❃ 3 der 15 Frauen können der vorge- zogenen Diagnose ihr Leben verdan- ken. Sie sind die Gewinnerinnen.

❃ 1 dieser 15 Frauen wird von einem Tumor „geheilt“, der nie ein Problem A

A3000 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 45½½½½10. November 2000

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W

as die Zeit nicht geschafft hat, erledigen jetzt die Bauern: Mit Hacken, Schaufeln und Trakto- ren kommen sie zu dem unscheinbaren Feld in der Nähe der mazedonischen Stadt Tetovo und nehmen mit, was nicht niet- und nagelfest ist. Kaum noch etwas erinnert an das Flüchtlingslager Neprosteno, das hier vor einem Jahr von der Bundeswehr aus dem Boden gestampft wurde und in dem bis zu 8 000 Flüchtlinge aus dem Kosovo mo- natelang hausten. Die grüne Zeltstadt ist längst abgebaut, die Strom- und Wasserleitungen wurden aus dem Bo- den gerissen, und die Bauern aus der Umgebung bedienen sich am aufge- schütteten Kies.

Mazedonien im Jahr eins nach dem Kosovo-Krieg: 300 000 albanische Flüchtlinge, die längst wieder in ihre

Heimat zurückgekehrt sind, beherberg- te das kleine 2,3-Millionen-Volk und trug damit eine der größten Lasten im Krieg gegen Vertreibung und „ethni- sche Säuberung“. Doch die Dankbar- keit der Welt für die Hilfsbereitschaft fällt eher gering aus: Mit den Kosova- ren gingen die internationalen Organi- sationen und ihre Hilfsgüter, und die Mazedonier, von denen mehr als 50 Prozent arbeitslos sind, nehmen sich, was noch zu kriegen ist – und sei es der Kies der verlassenen Flüchtlingslager.

„Der Kosovo-Krieg war eine große Chance für uns, denn die Weltöffent- lichkeit hat gesehen, welche Probleme wir haben“, sagt dennoch der Direktor des Klinikums in Tetovo, Raim Thaci.

Der Krankenhauschef übt sich in der Kunst des positiven Denkens, denn noch weiß er nicht, wer die 28 000 Be-

Medizinische Versorgung in Mazedonien

„Die Flüchtlinge waren unsere große Chance . . .“

Ein Jahr nach dem Kosovo-Krieg ist die medizinische

Versorgung in Mazedonien in einem alarmierenden Zustand.

Harte Arbeit vor malerischer Kulisse: Sommer und Ahmedi besprechen mit einem Handwerker die weiteren Ar- beitsschritte. Im Hintergrund die Berge zum Kosovo

geworden wäre. In Holland schätzt man, dass etwa jeder 17. durch die Mammographie entdeckte (und dann aggressiv behandelte) Tumor klinisch stumm, also für die Frau ohne Konse- quenzen, geblieben wäre.

❃ 3 dieser 15 Frauen verlieren einige Zeit ihres „sorgenfreien“ Lebens, weil sie zwei bis drei Jahre früher von einem Tumor erfahren, der – trotz frühzeitiger Diagnose – doch nicht heilbar ist. Bei

❃ 8 dieser 15 Frauen wäre der Tumor auch heilbar geblieben, wenn er zwei Jahre später ohne Mammographie ent- deckt worden wäre. Sie haben aber eventuell den Vorteil, dass weniger ag- gressive Therapien infrage kommen.

b) Weitere fünfzehn Frauen müssen wegen „Fehlalarms“ unnötige Belastun- gen aushalten; Ursache sind falsch-posi- tive Diagnosen. Trotz Doppelbefun- dung liefert das niederländische Scree- ningprogramm für jede Frau mit einem richtigen Verdacht eine, bei der die Auf- fälligkeit auf dem Mammogramm in Wirklichkeit harmlos ist. Bei etwa drei der Frauen erledigt sich der falsche Ver- dacht erst durch eine Biopsie.

c) Bei weiteren acht Frauen wird der Tumor übersehen. Ursache sind

„falsch-negative“ Diagnosen: In Hol- land wird bei den Teilnehmerinnen des Screenings einer von drei Tumoren nicht durch die Reihenuntersuchung, sondern in dem zweijährigen Intervall zwischen zwei Einladungen bemerkt.

Für diese Frauen ist die Teilnahme nutzlos, oder sogar ein Risiko, wenn sie sich durch die Mammographie in falscher Sicherheit wiegen.

d) 962 Frauen haben weder Vor- noch Nachteile.

Diese Bilanz aus einem der besten Screening-Programme der Welt zeigt, warum selbst ein qualitätsgesichertes Screeningprogamm eine heikle Sache ist. Man darf gespannt sein, wie die Mo- dellprojekte in Bremen, Wiesbaden und Weser-Ems den eingeladenen Frauen diese Bilanz schildern. Denn bei ehrlicher Aufklärung ist die Entschei- dung, zum Screening zu gehen, ebenso vernünftig wie die, es zu lassen.

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Klaus Koch, Freier Wissenschaftsjournalist, Herseler Straße 28, D-50321 Brühl, kk@evibase.de

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handlungen von Kosovo-Albanern im vergangenen Jahr bezahlen wird.

698 Flüchtlingskinder haben die Ärz- te des Krankenhauses zur Welt ge- bracht, 320-mal operiert, und keiner der Vertriebenen sei gestorben, zieht der Orthopäde Bilanz – doch jetzt drücken ihn 32 Millionen Dinar Schulden, etwa eine Million DM. Eine gewaltige Sum- me angesichts eines Etats von 59 Millio- nen Dinar pro Jahr, der dem 470-Bet- ten-Haus mit rund 1 100 Mitarbeitern zur Verfügung steht. Große Sprünge

sind mit diesen Summen nicht zu ma- chen, und die medizinische Infrastruk- tur ist im Raum Tetovo, wie im gesam- ten Land, weit hinter europäischen Standards zurückgeblieben.

Das Röntgengerät könnte in einem Museum stehen

Die 15 Dialyseplätze der Klinik könn- ten ebenso wie das Röntgengerät in ei- nem medizinischen Museum stehen, und kaum einer der Operationssäle ist vollständig ausgestattet. Von einem Computertomographen können die Ärzte der Provinzklinik nur träumen.

Das letzte Gerät, das für die Klinik an- geschafft wurde, sei vor dreieinhalb Jahren eine neue Telefonanlage gewe- sen, sagt Thaci, der im vergangenen

Jahr als erster Angehöriger der albani- schen Minderheit die Leitung des Hau- ses übernahm.

Entsprechend schlecht ist die medi- zinische Versorgung rund um Tetovo, und die Zahlen, die der Klinikleiter seinem Computer entlockt, sind er- schreckend: Die Kindersterblichkeit liegt beispielsweise bei zehn Prozent.

Ein alarmierender Indikator für ein marodes Gesundheitssystem, den Tha- ci nicht nur mit der wirtschaftlichen Krise erklären will, die seit dem fried-

lichen Ausscheiden seines Landes 1991 aus der Republik Jugoslawien herrscht.

Die Klinik in Tetovo bekomme von der Regierung in Skopje weit weni- ger Geld, als ihr eigentlich zustehe, schimpft Thaci. Sein Haus sei zwar für 9,2 Prozent der mazedonischen Bevöl- kerung zuständig, bekomme aber nur 3,4 Prozent aus dem Gesundheitsetat.

Da in den Bergen rund um die Provinz- hauptstadt mehr als 70 Prozent der Be- völkerung Albaner sind, liegt der Ver- dacht nahe, dass auf Kosten der unge- liebten Minderheit gespart werden soll.

Die Spannungen und Fremdheit zwischen der mazedonischen Bevölke- rungsmehrheit, die christlich-orthodox ist, und der stark wachsenden alba- nisch-muslimischen Minderheit sind unübersehbar. Genaue Zahlen gibt es

nicht, aber viele Beobachter schätzen, dass die Albaner bereits heute 30 Pro- zent der Bevölkerung ausmachen und deshalb das kleine Land auf dem Süd- balkan schon bald zum nächsten Kri- senherd der Region werden könnte.

Eine gemeinsame Identität und Natio- nalgefühl von Mazedoniern und Alba- nern ist weit und breit nicht zu ent- decken.

Da macht das kleine Bergdorf Bro- dec, hoch über Tetovo, dessen strahlend weiße Moschee in so eigentümlichem Kontrast zu den schlammigen Dorf- straßen steht, keine Ausnahme. Hier, im Schatten der 2 500 Meter hohen Gipfel, über die sich die entkräfteten Flüchtlinge im vergangenen Jahr schleppten, wird albanisch geredet, muslimisch gebetet, und der mazedoni- sche Ausweis ist nur ein bedeutungslo- ses Stück Papier.

Die meisten Dorfarztstationen verfallen seit Jahren

Die Luft in der Dorfwirtschaft ist ver- raucht, die Männer haben sich zum Plaudern, Dominospielen und „Zeittot- schlagen“ getroffen. Arbeit hat hier kaum jemand, 146 der 167 Familien le- ben von 110 oder 120 DM Sozialhilfe im Monat. Da ist der Besuch von Christian Stögbauer und Birgit Sommer eine ech- te Abwechslung im Alltagstrott. Die beiden Mitarbeiter der Johanniter-Un- fall-Hilfe in Nürnberg sollen das ma- rode System der Dorfarztstationen im Raum Tetovo wieder auf Vordermann bringen.

In der Hoffnung, durch humanitäre Hilfe die Spannungen zwischen Maze- doniern und Albanern abzubauen, hat das bayerische Sozialministerium den Johannitern eine Million DM zur Ver- fügung gestellt, um die Ambulanzen zu sanieren. Weitere 400 000 DM steuert die Hilfsorganisation bei, um unter an- derem 35 000 bedürftige Menschen in den Bergen und in Tetovo mit Lebens- mitteln zu versorgen.

Tag für Tag machen sich Stögbauer und Sommer mit dem Geländewagen auf den oft abenteuerlichen Weg zu den abgelegenen Dörfern, um Räume für die Ambulanzen zu vermessen, Verträ- ge mit Handwerkern zu schließen und A

A3004 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 45½½½½10. November 2000

Hausbesuch: Birgit Sommer mit einem gelähmten Zigeunerjungen, der die meiste Zeit des Tages mit seinem Lamm spielt.

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Hilfsgüter zu verteilen. Die kleinen

„Ambulantas“ genannten Arztstatio- nen gibt es zwar in fast jedem Dorf im früheren Jugoslawien, doch durch die Wirtschaftskrise ist auch von dieser einst flächendeckenden Versorgung nicht viel übrig geblieben. Die meisten Stationen verfallen seit Jahren, und wer krank wird, muss den beschwerlichen Weg in das Klinikum in Tetovo auf sich nehmen.

Immerhin, zwölf statt der ursprüng- lich geplanten sechs „Ambulantas“

werden Stögbauer und Sommer bis zum Jahresende wohl saniert haben, und Raim Thaci freut sich darauf, dann mit seinen Ärzten wieder die medizini- sche Versorgung der Landbevölkerung übernehmen zu können. Einmal pro Woche sollen die Ärzte zur Sprechstun- de in die Dörfer kommen, alle 14 Tage werden die Ärztinnen der „Liga der al- banischen Frauen“ gynäkologische und pädiatrische Fälle behandeln.

Dr. Sejla Reka ist eine der Medizine- rinnen, die ehrenamtlich für die albani- sche Hilfsorganisation arbeiten. In der frisch renovierten Praxis des Vereins in Tetovo versucht sie gerade bei einem Kind, das an Muskelatrophie leidet und in Rollstuhl sitzt, einen Reflextest zu machen. Wie so oft ist Improvisati- onstalent gefragt, denn statt der speziel- len Nadel für den Test hat Reka nur ei- nen Kugelschreiber zur Verfügung.

„Ich gehöre zu der kleinen, privile- gierten Gruppe der Ärzte, die Arbeit hat“, erzählt die Pädiaterin, „denn auch viele Ärzte sind bei uns arbeitslos.“ 400 DM im Monat verdiene sie als Ange- stellte im Klinikum – bei Lebenshal- tungskosten, die nur wenig unter dem deutschen Niveau liegen, sei es schon ein Kunststück, damit über die Runden zu kommen. Trotzdem behandelt sie re- gelmäßig und kostenlos Hilfe suchende Frauen und deren Kinder in den Räu-

men der „Liga“, weil sie weiß, dass sich sonst viele Menschen auch die medizi- nische Basisversorgung nicht leisten könnten.

Jeder Mazedonier sei zwar, wie Raim Thaci erklärt, Mitglied in der staatli- chen Krankenversicherung, doch da die höchstens ein Drittel der tatsächlichen Kosten decke, müssten die meisten Pa- tienten den größten Teil der Behand- lung aus eigener Tasche bezahlen. Wer ein Medikament brauche, das im Kran- kenhaus nicht vorhanden ist, müsse in eine teure Privatapotheke gehen; wer nicht mehrere Wochen auf eine Unter- suchung mit dem einzigen staatlichen Computertomographen in der Haupt- stadt Skopje warten wolle oder könne, müsse 300 DM auf den Tisch einer pri- vaten Praxis in Tetovo blättern.

Und wer nicht drei bis vier Stunden im Wartezimmer der staatlichen Klinik verbringen wolle oder eine Behand- lung über dem medizinischen Minimal- standard wünsche, zeige sich gegen- über den Ärzten schon mal erkennt- lich, spricht Raim Thaci offen über die Bestechlichkeit seines eigenen Berufs- standes. Nicht dass der Klinikchef das System der offenen Hand gutheißen würde. Aber ein bisschen Verständnis bringt er für seine Angestellten doch auf: „Bei diesen Einkommen müssen sich die Menschen einfach selber

helfen.“ Armin Jelenik

Große Pause: Ahmedi und Lorand Szüszner vor einer baufälligen Schule mit den Schulkindern in Brodec. Fotos:

Armin Jelenik

Hilfe für Bedürftige: Abdilaqim Ahmedi, Mitarbeiter und Dolmetscher der Johanniter in Mazedonien, hilft einer alten Frau, die Hilfsgüter, die sie bekommen hat, nach Hause zu bringen.

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