DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
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Zusammenarbeit der niedergelassenen Ärzte mit einem Großcomputer Psychiatrie und Anti- psychiatrie —
eine Wissenschaft kommt ins Gerede
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Kosten von Fortbildungs- kongreß-Schiffsreisen als Betriebsausgaben
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Kinder, Kranke,
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Steuerliche und
wirtschaftliche Aspekte bei Sanatoriumsbeteiligung
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Drei Bundestagsabgeordnete wa- ren zum Berufspolitischen Kollo- quium beim VI. Seminarkongreß der Bundesärztekammer am 16.
April 1974 nach Meran gekommen:
Dr. med. Hans Bardens (SPD), -Dr.
med. deut. Hanna Neumeister (CDU) und Kurt Spitzmüller (F.D.P.)
— also die führenden gesundheits- politischen Experten der drei Frak- tionen (und unter den Zuhörern be- fand sich noch ein prominenter Meraner Kurgast: Bundestagsvize- präsident Kai-Uwe von Hassel).
Verständlicherweise rückten des- halb die politischen unter den ein- gereichten Fragen der Kongreßteil- nehmer bei dem von Dr. Heinz Pe- ter Brauer, Geschäftsführender Arzt der Bundesärztekammer, geleite- ten Kolloquium in den Vorder- grund: Wie halten Sie es — so wurde gefragt — mit der Sozialisie- rung des Gesundheitswesens?
Zwei der drei Parlamentarier auf dem Podium hatten es bei dieser Frage verhältnismäßig leicht: Kurt Spitzmüller vermerkte, daß es zwar Jungdemokraten mit Sozialisie- rungsideen gebe, aber die hätten mit der Meinung und der Politik der Freien Demokraten nichts ge- mein. Ein sozialisiertes Gesund- heitswesen ist teurer, es hat eine schlechtere Versorgung der Bevöl- kerung zur Folge, es hindert den Arzt daran, seiner Berufung zu le- ben — kurz: „Wir halten gar nichts davon".
Ähnlich Frau Dr. Neumeister: Im sozialisierten Gesundheitswesen hat nicht mehr der Mensch den Vorrang. Dr. Hans Bardens äußerte
sich nicht weniger eindeutig, aber er mußte differenzieren: Es gibt Gruppen in der SPD, die eine Teil- oder Vollsozialisierung des Ge- sundheitswesens fordern. Der noch immer geltende einzige Parteibe- schluß zu dieser Frage von 1964 sei aber „zumindest zunächst" wei- ter wirksam: Er lehnt ein soziali- siertes Gesundheitswesen ab.
Ebenso gelte, was die Arbeit in der Regierungskoalition angehe, die Regierungserklärung, die die frei- berufliche ärztliche Tätigkeit aus- drücklich hervorhebt. Dann aber sagte Dr. Bardens eindeutig: „Ich persönlich lehne jede Sozialisie- rung oder Verstaatlichung im Ge- sundheitswesen ab. Falls die SPD mehrheitlich etwas anderes be- schließt, ist sie nicht mehr meine Partei." Und im anderen Zusam- menhang: „Man muß weithin in der Welt suchen, um ein dem unseren vergleichbares ordentliches Sy- stem der gesundheitlichen Versor- gung zu finden." Auf einen Zwi- schenruf hin deutete Dr. Bardens an, daß diese Auffassung über unser Gesundheitswesen wohl auch von der Bundestagsfraktion der SPD weitgehend geteilt werde.
Was aber ist zu tun, wenn wegen der ständigen publizistischen und politischen Attacken der einzelne Arzt schließlich bis zu einem Grade verärgert wird, daß er an Emigra- tion („äußere" oder „innere") denkt? Diese provozierende Frage fand eine fast einstimmige Antwort der Parlamentarier aus Opposition und Koalition: Emigration (wohl als Synonym zur Resignation gemeint) ist keine Lösung. Alle drei Abge-
Absage an die Sozialisierung
Berufspolitisches Kolloquium beim VI. Internationalen Seminarkongreß der Bundesärztekammer in Meran:
Gespräch mit drei Bundestagsabgeordneten
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 19 vom 9. Mai 1974 1409
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
Absage an die Sozialisierung
ordneten forderten die verärgerten Ärzte zur aktiven Arbeit in der Poli- tik auf — in der Selbstverwaltung des ärztlichen Berufsstandes eben- so wie in der Parteipolitik. Frau Neumeister: Wieso lassen es die Ärzte beispielsweise zu, daß die Li- quidation in den Krankenhäusern institutionalisiert wird (immerhin sollen die Verträge ja der zuständi- gen Kammer zur Wahrung der be- ruflichen Belange vorgelegt wer- den ...). Spitzmüller: Die Ärzte sollten behutsam mit dem wertvol- len Gut der Selbstverwaltung um- gehen; immerhin ist noch sehr viel Raum für die Selbstverwaltung vor- handen, und es sei insofern be- denklich, daß Einschränkungen der Selbstverwaltung durch Gerichtsur- teile immer dann zustande kamen, wenn Ärzte gegen ihre Selbstver- waltung klagten, nicht aber bisher durch Angriffe anderer (gemeint:
das Urteil über die Niederlassungs- freiheit und das neue Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den Ländern den Auftrag zum Erlaß von Facharztgesetzen gab).
Ebenso übereinstimmend warnten die drei Abgeordneten, als über Gebührenordnungsfragen disku- tiert wurde, vor dem Wunsch nach Vereinfachung, wie er mehrfach im Auditorium geäußert worden war:
Wer die Vielfalt der verschiedenen Abrechnungsvereinbarungen, die heute nebeneinander existieren und die zweifellos dem einzelnen Arzt gewisse Arbeitsschwierigkei- ten bereiten, beseitigen wolle, der öffne damit auch den Weg zur Ein- heitsgebührenordnung und zur Ein- heitsversicherung.
In den mancherlei Sachfragen, die in der Kolloquiumsdiskussion ange- sprochen wurden, zeigte sich et- was, was Dr. Bardens am Schluß als „unbeabsichtigte Demonstra- tion des Arbeitsstils im Gesund- heitsausschuß des Bundestages"
bezeichnete: Über die Sache ist auch eine sachliche Diskussion möglich, parteipolitische Polemik ist überflüssig. So kündigte Bar- dens an, daß — nachdem die Leh- rer ihren Wunsch nach einer Son- derbesoldungsordnung durchge-
setzt haben — die Gesundheitspo- litiker nun übereinstimmend die bisher im Interesse eines einheitli- chen Besoldungsrechts geübte Zu- rückhaltung aufgeben und die Fra- ge prüfen wollen, ob auch eine Sonderbesoldungsordnung für den öffentlichen Gesundheitsdienst möglich ist. Ebenso übereinstim- mend wandten sich die drei Abge- ordneten gegen die Einrichtung von Ambulatorien — und das auch übereinstimmend mit einer sachli- chen Begründung: Es sei nicht ein- zusehen, wie ein Ambulatorium die ärztliche Versorgung in unterver- sorgten Gebieten verbessern sollte
— wenn Ärzte sich irgendwo un- gern in freier Praxis niederlassen, dann wird auch ein Ambulatorium in diesem Bereich keine Ärzte an- locken.
In diesem Zusammenhang ein in- teressanter Hinweis von Kurt Spitzmüller: Warum geht man im- mer noch bei der Feststellung von
„dringend zu besetzenden" Arzt- stellen ausschließlich von „punktu- ellen Arztsitzen" aus? Schon bei der Werbung für die Niederlassung in gewissen unterversorgten Ge- bieten sollte man die Möglichkeit der gemeinschaftlichen ärztlichen Tätigkeit für größere Bereiche ins Auge fassen.
Eine andere Frage aus dem Zuhö- rerkreis veranlaßte Dr. Bardens dazu, vor der Beseitigung des Heil- praktikergesetzes zu warnen. Die- ses Gesetz, so ärgerlich es auch sei, gebe dem Bund gegenwärtig die einzige Kompetenz im Gesund- heitswesen. Nur mit Hilfe des Heil- praktikergesetzes sei es beispiels- weise gelungen, die selbständige diagnostische Tätigkeit von MTAs zu verhindern: „Wir brauchen das Heilpraktikergesetz aus gesetzes- technischen Gründen!" Dr. Brauer wies dabei darauf hin, daß in ab- sehbarer Zeit durch ein Psycholo- gengesetz eine ersprießliche Rege- lung des Zusammenwirkens von Ärzten und Psychologen in der tie- fenpsychologischen analytischen Therapie zu erhoffen sei. Dr. Bar- dens warnte davor, die Psychiatrie- Enquete, die die Bundesregierung
auf Veranlassung des Bundestages unternommen hat, zu Initiativen auch im Bereich der Reichsver- sicherungsordnung zu benutzen (was manche derjenigen, die diese Enquete in Gang gebracht haben, zweifellos beabsichtigten: als Ein- stieg zur Systemveränderung!).
Übereinstimmung auch in der grundsätzlichen Haltung zum Arz- neimittelrecht — angesprochen wurde insbesondere die Frage der biologischen und ähnlichen Heil- mittel, für die eine Übergangszeit von 15 Jahren bis zur Entwicklung von Wirksamkeits-Nachweismetho- den vorgesehen ist; Übereinstim- mung auch in der gesundheitspoli- tischen Wertung des Betriebsärzte- gesetzes, das alle drei Abgeordne- ten als eine Anregung für die zu- künftige Entwicklung, nicht aber als Forderung für den Augenblick (die unerfüllbar wäre) bezeichne- ten.
Die Teilnehmerzahl dieses berufs- politischen Kolloquiums war unge- wöhnlich groß, der Eindruck der Sachlichkeit in der Bewältigung der täglichen Probleme der Ge- sundheitspolitik war fast überwälti- gend. Warum — so fragt der Beob- achter — die Aufregung? Was drei Parlamentarier in Meran sagten, war ebenso sachlich wie glaubwür- dig.
Manchmal allerdings — das gilt, wenn auch in unterschiedlichem Maß, für alle drei — kommt einem der Gesundheitspolitische Ausschuß des Deutschen Bundes- tages gegenüber der parteipoliti- schen und publizistischen Atmo- sphäre unseres Landes wie ein
„Elfenbeinturm der Sachlichkeit"
vor. Ein Elfenbeinturm, in dem Ge- setze gemacht werden können, die dann ein Gesundheitsminister in Hessen auf dem Erlaßwege ins Ge- genteil verkehren kann (Zitat:
„... lege ich Wert darauf, daß Son- derleistungen — weil überflüssig
— nicht mehr angeboten werden").
Ein Elfenbeinturm aber immerhin, aus dem iman die Ärzte auffordert, ihre und ihrer Patienten Sache be- herzt in die Hand zu nehmen. bt
1410 Heft 19 vom 9. Mai 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT