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Archiv "Pflegeversicherung: Das Solidarprinzip wird mißbraucht" (21.05.1993)

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POLITIK

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96. DEUTSCHER ÄRZTETAG

ficht die Pflegeversicherung an sich ist derzeit umstritten.

Es herrscht ein weitgehen- der gesellschaftlicher Kon- sens darüber, daß die „Pflege" im Hinblick auf die demographische Entwicklung finanziell abgesichert werden soll. Umstritten ist vielmehr die von Bundesarbeitsminister Dr.

Norbert Blüm mit eindrucksvoller Beharrlichkeit vertretene Form der Absicherung, nämlich eine Pflegever- sicherung als Teil der Sozialversiche- rung.

Dem Sozialversicherungsmodell steht als Alternative das ursprünglich von der FDP favorisierte Modell ei- ner echten Versicherung gegenüber.

Einen vermittelnden Vorschlag hatte vor drei Jahren die Bundesärztekam- mer vorgelegt. Daran hat soeben auf dem 96. Deutschen Ärztetag in Dres- den der Präsident der Bundesärzte- kammer, Dr. Karsten Vilmar, erin- nert.

Der Deutsche Ärztetag hatte sich 1990 für eine angemessene Ver- teilung der Lasten eingesetzt und vorgeschlagen:

• zumutbare Eigenbeteiligung der Betroffenen

• finanzielle Entlastung der So- zialhilfe, ohne sie gänzlich aus ihren nachrangigen Verpflichtungen zu entlassen

• sachgerechte Belastung der Krankenversicherung im Rahmen ih- rer originären Aufgabenzuweisung

• angemessene Belastung der öffentlichen Hand, um die gesamte Bevölkerung über Steuern an dieser umfassenden sozialpolitischen Auf- gabe zu beteiligen.

Das Blüm-Modell kommt zu ei- ner Zeit, da in der sozialen Kranken- versicherung über eine grundlegende Neuorientierung nachgedacht wird

— hin zu mehr Eigenverantwortung und Subsidiarität. Würde das Blüm- Modell realisiert, würden alle Bemü- hungen, die Krankenversicherung derart neu zu strukturieren, konter- kariert: In der Krankenversicherung würde eingespart und die eingespar- ten Beitragsmittel in die Pflegeversi- cherung gesteckt. Der Leistungskata- log in der Krankenversicherung wür- de reduziert, während in der Pflege- versicherung ein neuer aufgestellt würde. Eine solche Sozialpolitik

Pflegeversicherung

könnten die Bundesregierung und die Bonner Koalition den Bürgern wohl kaum noch verständlich ma- chen.

Der 96. Deutsche Ärztetag (und ähnlich die voraufgegangene Vertre- terversammlung der Kassenärztli- chen Bundesvereinigung) haben die Prinzipien, nach der die Krankenver- sicherung künftig konstruiert werden sollte, genauer umschrieben. Sinnge- mäß könnten solche Gedankengänge auch für die Entwicklung einer Pfle- geversicherung herangezogen wer- den.

Rückbesinnung auf die Sozialhilfe

In der Entschließung des 96.

Deutschen Ärztetages zur Entwick- lung des Gesundheitssystems heißt es: „Durch eine Rückbesinnung auf die Prinzipien Eigenverantwortung und Subsidiarität kann das Solidar- prinzip entlastet und geschützt sowie für die wirklich Bedürftigen erhalten werden. Subsidiarität bedeutet im Gesundheitswesen, daß Verwaltun- gen nur dann Aufgaben übernehmen, wenn die jeweils vorgeschalteten Ein- heiten (wie zum Beispiel die Versi- cherten selbst, deren Familienange- hörige, Nachbarschaftshilfen oder Charity-Bewegungen) ihre Funktio- nen nicht ausreichend wahrnehmen können." (Der volle Wortlaut der Entschließung des Ärztetages wird in diesem Heft dokumentiert.)

Die politische Werbung für die Pflegeversicherung spielt unter- schwellig mit der Angst vor einem Pflegenotstand im Alter. Die Pflege- versicherung, so wird suggeriert, kön-

ne dem abhelfen. Hier muß indes sorgfältig unterschieden werden zwi- schen dem Pflegebedarf und dessen Finanzierung. In den nächsten Jahr- zehnten wird es zweifellos einen enormen Bedarf an Pflegekräften ge- ben. Ob dazu genügend Kräfte vor- handen sind, sei dahingestellt. Das Problem wird jedenfalls nicht mit der Pflegeversicherung gelöst; dazu wä- ren arbeitsmarktpolitische Aktivitä- ten nötig. Die Versicherung könnte allenfalls einen Beitrag zur Finanzie- rung leisten.

Akuter Handlungsbedarf be- steht jedoch nicht. Die Finanzierung ist zur Zeit gesichert. Falls der ein- zelne mit seinen finanziellen Kräften am Ende ist, tritt die Sozialhilfe ein.

Sie hat, folgt man den Argumenten von Blüm und Freunden, einen ge- wissen Makel; deshalb sei sie durch eine Versicherung abzulösen. Doch der Makel, wenn es denn einer ist, bleibt, selbst wenn Blüms Modell durchkommt. Denn auch eine solche Pflegeversicherung könnte die ganz teuren Pflegefälle nicht abdecken.

Hier muß auch künftig die öffentli- che Hand helfen.

Wenn heute also Pflegeleistun- gen bezahlt werden, letztlich durch die Sozialhilfe, dann bedeutet die Einführung einer Pflegeversicherung lediglich die Entlastung der Gemein- den von Sozialhilfeleistungen. Die Rede ist von sechs Milliarden Mark, die der Staat via Pflegeversicherung auf die Beitragszahler umlegen wür- de — ohne die Steuerlast entspre- chend zu mindern. Damit degene- riert die Pflegeversicherung zur Geldbeschaffungsmaßnahme. Mit Solidarität hat das wenig zu tun.

Norbert Jachertz

Das Solidarprinizip wird mißbraucht

Die Pflegeversicherung entzweit wieder einmal die Bonner Koaliti- on ; sie führt darüber hinaus zum Streit wichtiger gesellschaftlicher Gruppen untereinander und mit der Bundesregierung.

Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 20, 21. Mai 1993 (17) A1-1477

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