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Seite eins
Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 16, 19. April 1996 (1)
Keine Erfüllungsgehilfen
enn die Sozialmilliar- den zusammengekratzt werden und vor allem die Arbeitgeber über die zuneh- menden Lohnnebenkosten kla- gen, feiern Vorschläge zur Ein- schränkung der seit 1970 gelten- den Entgeltfortzahlung im Krank- heitsfall fröhliche Urständ.
Aus „aktuellem Anlaß“ stell- te der Präsident der Bundesärzte- kammer, Dr. Karsten Vilmar, jetzt klar: Jeder Arzt, jede Ärztin, die die beruflichen und berufsrechtli- chen Vorschriften ernst nehmen, müssen jeden Arbeitnehmer, der sich krank meldet, als Patienten, nicht aber als potentiellen Betrü- ger ansehen. Denn die vorge- brachten Beschwerden müssen ernst genommen und die Gründe dafür durch eingehende Untersu- chungen geklärt werden. Das Ver- trauensverhältnis zum Arzt wäre allerdings arg angekratzt, würde der Arzt sich anders verhalten und die subjektiv vorgebrachten Be- schwerden nicht ernst nehmen. Im
Attest hat der Arzt anzugeben, ob die bescheinigte Arbeitsunfähig- keit auf eigenem Wissen oder auf glaubwürdigen Angaben des Pati- enten beruht. Unrichtige Atteste werden berufsrechtlich geahndet.
Wenn auch nicht im Einzelfall Mißbrauch auszuschließen ist, können nicht alle Ärzte pauschal verdächtigt werden, leichtfertig krank zu schreiben. Der Kran- kenstand hierzulande ist auch im internationalen Vergleich nicht außerordentlich hoch, er ist be- schäftigungs- und konjunkturab- hängig, hängt auch vom Betriebs- klima und anderen, meist betriebs- und umweltbedingten Faktoren ab.
Nur weil einige wenige simu- lieren, können nicht alle Arbeit- nehmer mit Lohnabzügen, Ka- renztagen oder anderen Sanktio- nen bestraft werden. Dies wäre ge- genüber den tatsächlich Kranken ungerecht. Abzüge auf selbst ver- schuldete Erkrankungen zu be- grenzen ist ebenso problematisch,
weil das Kriterium „selbst ver- schuldet“ nicht objektivierbar und kaum justitiabel ist. Allein der Arzt, nicht aber der Arbeitgeber oder sonstwer hat darüber zu be- finden, ob der Arbeitnehmer tatsächlich arbeitsfähig ist. Die Schuld ist dabei irrelevant.
Keinesfalls kann der Arzt zum Erfüllungsgehilfen der Ar- beitgeber, des Lohnbüros oder des Chefs degradiert werden. Der Arzt hat das Patientengeheimnis und die ärztliche Schweigepflicht zu beachten – auch bei der Ent- scheidung, ob krank oder gesund.
Über die Tatsache der Erkrankung und der AU kann nur der Arbeit- nehmer selbst seinen Arbeitgeber informieren. Die Tatbestände, in denen das Gebot der ärztlichen Schweigepflicht durchbrochen wer- den darf, sind eng begrenzt auf Aus- nahmefälle, beispielsweise nach einer Rechtsgüterabwägung bei
„überragendem Gemeinschaftsin- teresse“, so der Präsident der Bun- desärztekammer, Vilmar. HC
W
Entgeltfortzahlung
Mulmiges Gefühl
Biotechnologie
enn man sich überlegt, was für Nachrichten in der letzten Zeit auf Ke- vin Standardkonsument (das ist in meiner Genealogie der Enkel des Otto Normalverbraucher sel.) her- niederprasseln, dann kann er ei- nem leid tun. Er hört:
Malariamücken, oder Gift- schlangen, muß man ausrotten, weil sie für den Menschen gefähr- lich sind. Wenn es dann allerdings nur noch zehn Exemplare gibt, dann muß man sie unbedingt am Leben erhalten – wegen des Ar- tenschutzes. (Großvater Otto N.
hätte hier wohl noch von der
„Schöpfung“ oder dem „Willen Gottes“ gesprochen.)
Die letzten Pockenviren, die aus eben diesem Grunde noch bis 1999 tiefgefroren aufgehoben wer-
den, können wir aber ruhig ver- nichten. Sollten wir sie nämlich doch noch einmal benötigen, so besitzen wir alle nötigen geneti- schen Informationen, um sie künstlich wieder herzustellen.
Und nun der Rinderwahn.
Kevin S. hört, daß dessen Erreger vielleicht gar kein Virus ist, son- dern nur eine Veränderung in ei- nem Eiweiß, und daß man ver- sucht, mittels gentechnischer Ver- fahren zu ergründen, ob die Krankheit nun von Schaf auf Rind, von Rind auf Mensch, von Rind oder Mensch auf Maus (nur zu Versuchszwecken natürlich!) übertragbar ist.
Und Kevin S. hört auch, daß für Genänderungen ein Patent- schutz eingeführt werden soll, oder für gentechnisch veränderte
Tiere und Pflanzen. („... sonst läßt sich ja auch nichts daran verdie- nen“, wie Friedrich von Hayek in anderem Zusammenhang sagte.) Zum Beispiel vielleicht für einen Monat lang haltbare Tomaten.
Tja; zum Beispiel vielleicht auch für Pockenviren? Für die Übertragbarkeit des Rinder- wahns? Für die Verhinderung der Ansteckungsgefahr?...
Ist es ein Wunder, daß Kevin S. ein mulmiges Gefühl be- schleicht?
Aber vor allem: Ist es nicht al- lerhöchste Zeit, daß Medizin-Ethi- ker der Politik handfeste Ratschlä- ge und Richtlinien für das, was künftig erlaubt sein soll, an die Hand geben? Ja: Richtlinien. Und nicht bloß weiche „Orientierungs-
hilfen“! gb