• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Pharma-Sponsoring: Wir dankbaren Ärzte" (22.03.2002)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Pharma-Sponsoring: Wir dankbaren Ärzte" (22.03.2002)"

Copied!
5
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

D

ie Arzneimittelhersteller meinen es aus guten Gründen gut mit uns Ärzten. Wir sind es, die ihre Milli- ardenumsätze erst ermöglichen und de- ren Verteilung steuern. Wir tun dies zu Nutz und Frommen unserer Patienten.

Dabei lassen wir uns – davon sind wir überzeugt – von nichts und niemandem beeinflussen. Wir empören uns über Krankenkassen und Krankenhausträ- ger, die uns bewegen wollen, billigen, schlechten Medikamenten den Vorzug gegenüber teuren, guten zu geben, und über Gesundheitsminister und -mini- sterinnen, die uns ein Arzneimittelbud-

get verordnen.

Unsere Bezie-

hungen zu den Herstellern von Arz- neimitteln sind frei von Spannungen.

Das hat gewiss auch mit den kleineren und größeren Freundlichkeiten zu tun, die sie oder ihre Repräsentanten uns angedeihen lassen. Für die Studenten der Fünfziger- und Sechzigerjahre war dies die vorklinische Studienliteratur, die wir für einen bescheidenen Betrag erwerben konnten. Die „Tropon-Bücher“

hinterließen eine freundliche Erinne- rung an die Firma – die bei manchen erst im Zeitalter der Fusionen zusam- men mit der Firma verschwand.

Später, als Ärzte, schenkte man uns Bücher, anfangs gut ausgestattete Ei- genproduktionen, wie die wissenschaft- lichen Tabellen von Roche, die frühen Ausgaben von Pöldingers Psychophar- makotherapie, später industriefinan- zierte oder eigens für uns angekaufte Fachliteratur, gelegentlich hochwertige bibliophile Bücher, die nur am Rande

mit unserem Fach zu tun hatten. Wir freuten uns über die Mitbringsel der Arzneimittelvertreter. Wir tun es noch:

Wir freuen uns über Kugelschreiber und Schreibblöcke, Kalender und Schreibunterlagen, nützliche oder unnütze Gadgets für unseren Spieltrieb oder den unserer Kinder. Nicht, dass wir uns dies alles nicht leisten könnten.

Wir freuen uns einfach darüber – und eigentlich haben wir auch einen An- spruch darauf. Schließlich widmen wir den Damen und Herren von der Indu- strie unsere Zeit.

All dies ist harmlos und im Ge- schäftsleben üblich. Das böse Wort von der Vorteilsannahme greift

ohnehin nicht, wenn wir in der Praxis tätig sind. Im öffentlichen Dienst sind die kleinen Gaben interpretations- fähig. Schließlich ist es vor allem der Dienstherr, der von Kugelschreibern und Schreibblöcken profitiert und da- von, dass wir uns mittels der geschenk- ten Fachliteratur auf dem Laufenden halten. Denn der Bibliotheksetat ist ebenso schmal wie das Weiterbildungs- budget. Im Grunde können wir gar nicht anders, als uns die Referenten für die klinikinterne Fortbildung von freundlichen Sponsoren finanzieren zu lassen oder die Einladung zu einem in- dustriegesponserten Symposium anzu- nehmen – Übernachtung und Verpfle- gung in einem ordentlichen Hotel ein- geschlossen.

Wenn es dabei bliebe, müssten wir über unsere Nähe zur Pharmaindustrie – möglicherweise – gar nicht nachden-

ken. Aber es bleibt meist nicht dabei.

Großzügige Honorare, wertvolle Ge- schenke oder Ferien(ähnliche)reisen stehen ins Haus – entweder einfach so oder als „Lohn“ für die Anwendungs- beobachtung neu eingeführter Medika- mente. Mit noch mehr Aufmerksamkei- ten werden wir bedacht, wenn wir etwa als Chefärzte, Institutsleiter oder Hoch- schullehrer Schlüsselpositionen beklei- den oder als Meinungsführer gelten.

Das muss nicht so weit gehen wie in der deutschen Herzchirurgie, wo sich die Sponsoren-Großzügigkeit für Fort- bildung und Forschung im Nachhinein als betrügerisches System von Rück- überweisungen und überhöhten Preisen für Herzklappen herausstellte. Aber es geht zweifellos um ein Geben und Neh- men zum beiderseitigen Vorteil: Die Ärzte profitieren von Gratifikationen, geldwerten Vorteilen sowie der Befrie- digung von Ehrgeiz, Ansehen und Pre- stige. Die Arzneimittelhersteller kön- nen sich auf kompetente Gewährsleute für ihre Produkte berufen.

In den USA ist eine Analyse veröf- fentlicht worden, die sich mit dieser Problematik befasst. Titel: „Ist die uni- versitäre Medizin käuflich?“ Diese Frage könnte als Provokation zu- rückgewiesen werden, wäre Marcia Angell, die sie stellt, nicht Herausge- berin des angesehenen New England Journal of Medicine (1). Angell nimmt eine multizentrische Studie von Martin B. Keller und Mitarbeitern (2) über die Kombinationsbehandlung von Antide- pressiva und kognitiver Verhaltensthe- rapie zum Anlass, die Probleme einer zu großen Nähe zwischen medizinischer Forschung und Industrie auszuleuch- ten: Seit 1984 verlangt das New Eng- land Journal von seinen Autoren die Offenlegung ihrer Beziehungen zu Her- stellern von Medikamenten oder medi- zinischen Geräten, die mit einer geplan- ten Publikation zu tun haben. Damals habe niemand vorhersehen können, so Angell, wie allgegenwärtig solche Ver- flechtungen einmal sein würden. Beim Beitrag von Keller et al. habe man erst- mals auf die vollständige Veröffentli- chung der Verbindungen der Autoren zur Pharmaindustrie verzichten müs- sen, weil die Liste zu lang geworden wä- re. Es habe sich – nicht ganz unerwartet – ebenfalls als schwierig erwiesen, einen

Pharma-Sponsoring

Wir dankbaren Ärzte

Nachdenken über Nähe und Abstand, Geben

und Nehmen in Klinik, Forschung und Alltag

Asmus Finzen

(2)

unbefangenen Wissenschaftler für ein Editorial zu gewinnen.

Das Problem ist weder auf das Fach Psychiatrie noch auf die USA be- schränkt. Selbstverständlich bietet die enge Kooperation von Forschung und Wirtschaft beiden Seiten Vorteile, zum Beispiel den Transfer von Technologie und Wissen. Außerdem ist es schlicht so, dass medizinische Forschungszen- tren Geld benötigen, das die Industrie ihnen zur Verfügung stellen kann. Vor dem Hintergrund allgemeiner Spar- maßnahmen der öffentlichen Hand sind Drittmittel und Sponsoring unentbehr- lich, um den Forschungsbetrieb auf- rechterhalten zu können. Von daher ist es nur konsequent, dass inzwischen in vielen medizinischen Universitätsklini- ken und -instituten die Fähigkeit zur Einwerbung von Drittmitteln neben impact-trächtigen Publikationen als Qualifikationsmerkmal für Führungs- kräfte gilt.

Medizinische Forscher fungieren aber auch als Berater von Arzneimittel- herstellern, für die sie klinische Prüfun- gen durchführen. Sie sind Mitglieder von Advisory Boards, die immer häufi- ger nach der Markteinführung von Me- dikamenten tätig werden. Sie treten als ständige Referenten bei Firmensympo- sien auf, firmieren als Autoren von Pu- blikationen, die Ghostwriter der Fir- men schreiben, und setzen sich bei fir- mengesponserten Veranstaltungen für bestimmte Medikamente oder Geräte ein. Sie nehmen teure Geschenke an

und lassen sich Luxusreisen finanzie- ren. Sie schließen Patent- und Beteili- gungsverträge ab und besitzen Fir- menanteile in Form von Aktien oder Optionen. Das alles sind Beispiele, die Marcia Angell anführt.

Gewiss sind nicht alle medizinischen Forscher in dieser oder ähnlicher Weise mit der Industrie verbunden. Aber es sind viele. Dabei beschränkt sich die

„Pflege“ der Forschungs- und Klinik- landschaft nicht auf Institutsleiter und Chefärzte. Zumindest in den USA be-

ginnt sie mit kleinen Geschenken an Studenten in den letzten klinischen Se- mestern und an junge Assistenzärzte, die, so Angell, fast täglich mit Einla- dungen in teure Restaurants, zu gesell- schaftlichen Veranstaltungen, indu- striefinanzierten Fortbildungen und mit anderen geldwerten Vorteilen rechnen können.

Es wäre allerdings falsch, das Pro- blem zu individualisieren. Medizinische Fakultäten sind in wachsendem Maß von der Industrie abhängig. Sie gehen Partnerschaf-

ten beim Auf- bau von For- schungszen- tren ein und führen Auftrags- forschung durch.

Nicht selten sitzen die klinischen For- scher dabei am kürzeren Hebel.

Sie brauchen Geld, um ihre Mitarbeiter zu bezahlen, wenn öf- fentliche Zuschüsse nicht

ausreichen oder auslaufen. Für die Fir- men bedeutet die Kooperation den di- rekten Zugang zu qualifizierten For- schern und eine Teilhabe am Prestige der Hochschulen. Bei Arzneimittelprü- fungen können sie die Infrastruktur der Universitätskliniken nutzen, haben Zu- gang zu Patienten und beeinflussen mit- telbar die Behandlung der Kranken in Prüf- und Kontrollgruppen.

Das hat Folgen für die Auswahl der Forschungsfelder, die Art der Publika- tion von Forschungsergebnissen, für das Selbstverständnis der medizini- schen Fakultäten und die berufliche So- zialisation des Nachwuchses. Wer viel Zeit für die bezahlte Prüfung von neuen Arzneimitteln aufwendet, hat weniger Zeit für andere Projekte, beispielsweise die Forschung über Ursachen von Krankheiten und deren Verlauf. Um nicht missverstanden zu werden: Arz- neimittelforschung und die Prüfung neuer Substanzen sind wichtig. Proble- matisch wird es, wenn sich die For- schung – wie so oft – auf die Prüfung mi- nimaler Unterschiede zwischen Sub- stanzen einlässt, die für Marketing- zwecke nützlich, wissenschaftlich aber ohne jede Bedeutung sind.

Außerdem besteht bei der industrie- finanzierten Prüfung neuer Medika- mente die Gefahr, dass die Veröffentli- chung der Untersuchungsergebnisse ei- nem Bias unterliegt. Wie Thomas Bo- denheimer ebenfalls im New England Journal of Medicine (3) feststellt, gibt es Hinweise darauf, dass Wissenschaft- ler mit Beziehungen zur Industrie eher positive Befunde über die von ihnen ge- prüften Medikamente veröffentlichen als unabhängige Forscher. Das muss nicht bedeuten, dass die Wissenschaft- ler ihre Ergebnisse schö-

nen. Nach Ansicht von Bodenheimer ist ein immanen- tes Bias die wahrscheinlichste Er- klärung dafür. Im Übrigen falle in der Regel die finanzielle Unterstützung umso großzügiger aus, je enthusiasti- scher sich die Prüfer über die getesteten Substanzen äußerten. Eine Reihe neue- rer Veröffentlichungen im Lancet (4, 5), im New England Journal of Medicine (6), im Journal of the American Medi- cal Association (7) und in der Schwei- zer Pharmakritik (8) bestätigen die Ge- fahr der Verstrickung.

Viele Forscher sind empört über der- artige Unterstellungen. Sie sind von ihrer wissenschaftlichen Objektivität überzeugt – unabhängig davon, wer ih- re Arbeiten finanziert. Sie seien nicht käuflich. Aber das, so Bodenheimer, ist nicht der Punkt. Vielmehr schafft die enge und lohnende Zusammenarbeit mit einer Firma ein positives Klima, das die Hoffnung einschließt, die Großzü- gigkeit des Partners möge andauern.

Diese Hoffnung sei es, die die wissen- schaftliche Urteilskraft in subtiler Wei- se beeinflusse: „Können wir wirklich glauben“, fragt Angell, „dass klinische Forscher selbstlosere Menschen sind als andere?“ In den USA sind die Ver- flechtungen mit der Industrie relativ

„This week's free pizzas for

medical students arrive with

compliments...“ (John Le

Carré: The Constant Gardener)

(3)

transparent. In Europa sind wir viel- fach auf Indizien angewiesen, auf Anekdoten und Geschichten. Auffällig ist, dass industriefinanzierte Veranstal- tungen häufig einen Nachmittag zur Fortbildung mit einem exquisiten Ski- wochenende im Luxushotel verbinden oder Fortbildungsveranstaltungen in weltbekannten Grandhotels stattfin- den – es ginge auch weniger edel und teuer. Dabei sind diejenigen, die die Annehmlichkeiten einer solchen Ein- ladung genießen, weniger bedeutsam für unsere Problematik als die hoch an- gesehenen akademischen Veranstalter.

Heikel wird es, wenn der Eindruck ent- steht, dass der nominelle – wissen- schaftliche – Veranstalter in Wirklich- keit gar nicht der Veranstalter ist, son- dern Aushängeschild und Honorar- kraft des Sponsors.

Klare Verhältnisse bestehen, wenn der Arzneimittelhersteller zu einer pro- duktbezogenen Veranstaltung einlädt und dafür Wissenschaftler und Kliniker mit der Erstellung des wissenschaftli- chen Programms beauftragt. Weniger transparent ist es, wenn in einer Region jährlich Dutzende von Symposien unter Leitung bekannter Wissenschaftler stattfinden, die offensichtlich rein phar- mafinanziert sind – einschließlich des kalten Buffets zum Abschluss. Die Ko- sten für solche Veranstaltungen belau- fen sich rasch auf 10 000 bis 15 000 Eu- ro. Hier muss die Frage erlaubt sein:

„Wem nützt das, und wie refinanziert sich das?“ Gewiss, der wissenschaftliche Organisator be- friedigt ein Fortbildungsbedürfnis der Kollegen. Er mehrt sein Ansehen und das seiner Institution und wirbt diskret um die Überweisung von Privatpatien- ten. Es ist jedoch schlicht unvorstellbar, dass der Sponsor für sein Geld keinen Gegenwert erwartet. Neben der Image- werbung dürfte es ihm dabei auch um das Wohlwollen des geförderten Wis- senschaftlers gehen.

Mit den Advisory Boards bei der Neueinführung von Arzneimitteln läuft es nicht anders. Die Firma beruft ange- sehene Experten, die sie bei geringem Aufwand gut honoriert. Bei regelmäßi- gen Treffen werden nicht nur Informa- tionen ausgetauscht und internationale Gäste eingeflogen, man pflegt auch die Geselligkeit und das Klima der Zusam- menarbeit mit den Experten. Hinzu kommt das Angebot bezahlter Reisen

zu internationalen Kon- gressen, bei denen der Auftrag- geber ebenfalls als Gastgeber fungiert.

Das gewährleistet guten Willen und verpflichtet zu einem Mindestmaß an Loyalität. Die Gefahr besteht, dass das Advisory Board zu einem ungeprüften Qualitätsausweis verkommt.

Trotzdem, wenden wir ein, lassen wir uns nicht kaufen. Wir verordnen die Medikamente, die wir für die besten halten. Das mag sein. Allerdings wird

niemand bestreiten, dass wir die größten Sympathien für diejenigen Fir- men hegen, mit denen wir am besten zu- sammenarbeiten und die uns in unseren Zielen am deutlichsten unterstützen.

Da kann es geschehen, dass wir nicht ganz so kritisch sind, wie wir sein sollen und wollen.

Es gibt aber auch Folgen, die beim besten Willen nicht mehr harmlos sind.

Zwei Beispiele: Als die Serotonin-Wie- deraufnahmehemmer eingeführt wur- den, gab es prominente Fachkollegen, die bei gesponserten Veranstaltungen

landauf, landab verkündeten, die An- wendung klassischer Antidepressiva sei fortan als Kunstfehler zu betrachten.

Schlimmer noch, wer die klassischen to- xischeren Antidepressiva einsetze, ris- kiere die Selbstvergiftung der depressi- ven Patienten und mache sich an deren Tod schuldig. Wichtig ist in diesem Zu- sammenhang, dass die Behandlung mit der einen oder anderen Gruppe von Antidepressiva mit derselben Suizidra- te belastet ist, weil der Suizid mit dem verordneten Medikament außerordent- lich selten ist.

Ähnliches spielt sich zurzeit im Zusammenhang mit den atypischen Neuroleptika ab. Es sei ein Kunstfeh- ler, die klassischen Neuroleptika wei- terhin zu verordnen. Es sei ein Skan- dal, Patienten mit Depotneuroleptika zu behandeln. Man schade den Kran- ken damit. Der moralische Aspekt der Diskussion wird dadurch verstärkt, dass man betont, 80 Prozent der Psych- iater würden eigene Angehörige bei Bedarf mit atypischen Neuroleptika behandeln, oder der Gesundheitspolitik vorwirft, sie verhindere die indizierte Behandlung der Kranken mit diesen Substanzen.

Gewiss ist eine sachliche Auseinan- dersetzung über die Vorteile von Arz- neimittelinnovationen dringend gebo- ten. Aber nicht alle neuen Substanzen sind so gut verträglich, wie man uns er- zählt. Die atypischen Neuroleptika nach Clozapin sind beispielsweise kei- neswegs nebenwirkungsfrei. Sie bewir- ken zum Teil drastische Gewichtszu- nahmen, in Einzelfällen bis zur Ent- stellung, und fügen so dem Stigma der psychischen Krankheit das Stig- ma des Übergewichtes hinzu. Zwei der neuen Substanzen mussten im Übrigen nach kurzer Zeit wegen lebensgefährli- cher Nebenwirkungen wieder vom Markt genommen werden. Außerdem sind klinische Prüfungen der neuen Substanzen fast ausnahmslos gegen zu hohe Dosen Haldol durchgeführt wor- den (10, 11, 12).

Man kann natürlich unterstellen, dass die Protagonisten in beiden Bei- spielen aus innerer Überzeugung argu- mentieren. Das zu akzeptieren ist je- doch ungleich einfacher, wenn sie ihre wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Verbindungen mit den betreffenden

(4)

D

ie Beratung, ein Mittelpunkt ärzt- lichen Handelns, wird vom Kran- ken erwartet und kann eingefor- dert werden. Ihr Inhalt ist wichtiger Be- standteil der Beziehung zwischen Arzt und Patient, vermittelt sie doch nicht nur ärztliches Wissen, sondern auch die Fürsorge des Arztes für das Sozial- schicksal seines Patienten. Dabei läuft er jedoch Gefahr, missverstanden zu werden und beim Patienten Überlegun- gen und Handlungen anzustoßen, die das Ziel der Beratung verfehlen.

Solche Risiken betreffen auch das ärztliche Gespräch bei Verdacht eines Zusammenhangs zwischen Arbeitsplatz und Befindensstörungen. Die Vermu- tung, dass die Einflüsse der beruflichen Tätigkeit und ihres Umfeldes einen Krankheitszustand ausgelöst haben, kann vom Arzt oder vom Patienten kom- men. Die Rolle des Arztes als Berater in dieser Situation ist dann zugleich ein Prüfstein für sein kritisches Urteilsver- mögen und fachliches Können, geht es doch schon im Vorfeld einer Verdachts- anzeige zu Händen eines Unfallversiche- rungs-(UV-)Trägers wegen des Vorlie- gens einer Berufskrankheit (BK) um die Frage, ob dieser Verdacht eine nachvoll- ziehbare Grundlage hat („begründeter Verdacht“ nach § 202 SGB VII). Für eine schnelle Entscheidung des Arztes sind die Zusammenhänge oft zu undurchsich- tig. Nur in einer kleineren Zahl der Fälle sind bei Berufskrankheiten – anders als im Unfallgeschehen – Ursache und Wir- kung medizinisch eindeutig (zum Bei- spiel beim Bäckerasthma).

Die Schwierigkeit des Arztes, der ei- nen BK-Verdacht hegt, dies mit wissen- schaftlichen Mitteln belegen zu kön- nen, liegt in vielen Fällen in der Unvoll-

ständigkeit seines Informationsstands zur Arbeitsanamnese begründet. Da er noch vor Beginn des vom UV-Träger einzuleitenden Feststellungsverfahrens tätig wird, ist er weitgehend von den Angaben seines Patienten zum Sach- verhalt abhängig. Dies ist eine schwieri- ge Position. Er könnte sie festigen, wenn er ergänzende Daten zur Verfügung hätte.

Möglich sind verschiedene Vorge- hensweisen, die zum Teil problematisch sind.

❃Der Patient trägt dem behandeln- den Arzt sein Beschwerdebild mit dem Hinweis auf einen von ihm angenom- menen Arbeitsplatzbezug vor. Dieser bestätigt den Verdacht, da er ihn für hinlänglich begründet hält. Weiter- führende Erkenntnisse aus anderen Quellen werden von ihm nicht beigezo- gen. Mit der Schilderung der Arbeits- vorgänge beziehungsweise der Arbeits- stoffe, die von ihm als Auslöser einer Berufskrankheit genannt werden, ver- deutlicht der Patient zugleich seine Er- wartung, als Berufskranker mit Ent- schädigungsansprüchen gegenüber dem UV-Träger anerkannt zu werden. Er rechnet mit einer unterstützenden Stel- lungnahme des Arztes zu seinem Vor- trag. Eine gewisse Ungeduld auf Zu- stimmung zum Zusammenhang wird dabei im Gespräch für den Arzt spür- bar. Seine Entscheidung fällt hiernach spontan: Er erstattet eine BK-(Ver- dachts-)Anzeige. Das BK-Feststellungs- verfahren nimmt seinen Lauf.

Die weitere Entwicklung wird da- durch bestimmt, dass sich der Patient bereits durch den Ausgang dieses Ge- sprächs mit seinem Arzt in der Auffas- sung bestätigt sieht, es liege ein direkter Zusammenhang mit einer Berufskrank- heit vor, der eine Anerkennung seitens Arzneimittelherstellern offen legen. Als

Experten tragen wir eine hohe Verant- wortung. Diese schließt ein, dass wir uns an der Prüfung neuer Medikamente beteiligen und uns für die Durchsetzung wirksamerer und nebenwirkungsärme- rer Präparate engagieren. Es bedeutet aber nicht, dass wir vor lauter Begeiste- rung den gesunden Menschenverstand an der Garderobe abgeben.

Ich halte selber gelegentlich Vorträ- ge bei industriegesponserten Veranstal- tungen. Ich freue mich, wenn ein Phar- maunternehmen meine Bücher kauft, und gehöre einem industriegesponser- ten Diskussionskreis an. Auch wäre beispielsweise der Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Kri- senintervention und Suizidprophylaxe, deren Vizepräsident ich bin, ohne Un- terstützung kaum möglich. Ich bin da- von überzeugt, dass die Beziehungen zwischen Arzneimittelherstellern und -verordnern wichtig sind. Allerdings

muss es so etwas wie ein ökonomisches Gleichgewicht geben. Ist dies nicht vor- handen, ist Unabhängigkeit eine Illu- sion.

Es sind im Übrigen nicht Auswüchse, die mich zum Nachdenken veranlasst haben. Hellhörig hat mich eine Presse- meldung gemacht, wonach ein renom- mierter Arzneimittelhersteller, der aty- pische Neuroleptika vertreibt, einen Kooperationsvertrag mit dem Deut- schen Verband der Angehörigen psy- chisch Kranker geschlossen hat. Das Echo in der Öffentlichkeit war positiv.

Bei mir hat diese Meldung ein unange- nehmes Gefühl in der Magengrube aus- gelöst.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2002; 99: A 766–769 [Heft 12]

Das Literaturverzeichnis befindet sich im Internet unter der Adresse www.aerzteblatt.de Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Asmus Finzen Psychiatrische Universitätsklinik Wilhelm-Klein-Strasse 27, CH-4025 Basel

Telefon: 00 41 61 325 56 46, Fax: 1141 61 325 55 82 E-Mail: Asmus.Finzen@pukbasel.ch

„There is no such Thing as a free Lunch.“ (Val McDermid:

Report from Murder)

Diagnose „Berufskrankheit“

Fingerspitzengefühl erforderlich

Bei Verdacht auf Vorliegen einer Berufskrankheit

sollte der Arzt vermeiden, vorschnell Fakten zu schaffen.

Ernst Stresemann

(5)

des UV-Trägers unabweisbar mache („Mein Arzt hat es ja schon bestätigt!“).

Hierfür wird er fortan mit allen Rechts- mitteln kämpfen. Allerdings sollte man festhalten, dass der Patient zwar eine Bestätigung seines Konzepts durch den Arzt sucht, aber nicht von vornherein überzeugenden Gegenargumenten un- zugänglich ist.

❃ Im Regelfall sollte das kritisch ab- wägende Gespräch zwischen Arzt und Patient noch die Chance bieten, dem Geschehen einen sachlich besser be- gründeten Lauf zu geben, vorausge- setzt, die Zusammenhänge sind nicht bereits prima vista so eindeutig, dass ohnehin kein vernünftiger Zweifel ge- gen sie aufkommen kann.

Wie aber sollte der Arzt im Zweifels- fall vorgehen? Der wichtigste Grund- satz ist – wenn immer möglich – die Bei- ziehung von zusätzlicher Information über die Umstände, die den Patienten zu der Annahme einer berufsbedingten Erkrankung führten. Informationen können vom Arbeitgeber (falls dieser Auskunft gibt) kommen oder sich aus einer vertrauensvollen Kontaktnahme mit dem Berufshelfer des zuständigen Unfallversicherungsträgers ergeben.

Wenn ein Betriebsarzt tätig ist, ist er der geeignete Ansprechpartner. Verbin- dung kann aber auch mit einem arbeits- medizinisch tätigen Arzt beziehungs- weise einer betriebsärztlich-arbeitsme- dizinischen Einrichtung aufgenommen werden.

Durch zurückhaltende Prüfung wird Sicherheit über den Sachverhalt gewon- nen, den der Patient zur Grundlage sei- nes Beschwerdevortrags machte. Denn viele Arbeitsplatzverhältnisse in mo- dernen Industriebetrieben – und aus diesen stammt die Mehrzahl „undurch- sichtiger“ Verdachtsfälle einer Berufs- krankheit – bringen eine anhaltende und wiederholte physische Belastung mit sich. Nicht zu vergessen sind auch die psychischen Belastungen am Ar- beitsplatz, die sich sehr unterschiedlich in körperlichen Symptomen äußern können (somatoforme Störungen und dergleichen) und deren körperliches Projektionsfeld (Somatisation) dann zur Annahme des Vorliegens einer Be- rufskrankheit führen kann.

Sind die Voraussetzungen hingegen nicht hinlänglich eindeutig – und nur in

einem kleineren Anteil der Fälle kann der Arzt schon im ersten Gespräch mit seinem Patienten einen BK-Verdacht aufgrund eindeutiger Zusammenhänge vorbehaltlos teilen –, kann eine ab- wartend prüfende und beratende Ge- sprächsführung anstelle einer sponta- nen unkritischen Zustimmung zum Pa- tientenvortrag einer späteren „Michael Kohlhaas“-Einstellung des Patienten gegenüber einem Feststellungsverfah- ren, das seine Erkenntnisse nicht be- stätigt, zuvorkommen. Misslingt dies, muss damit gerechnet werden, dass die weitere Entwicklung die Akten von UV-Trägern, Rechtsanwälten und Ge- richten füllen wird.

❃ Eine andere, ebenfalls typische Situation kann aus einem Übereifer

des Arztes entstehen, den UV-Träger über ein Krankheitsbild, in dem er le- diglich gewisse Anhaltspunkte für ei- ne Berufskrankheit antraf, zu infor- mieren. Nicht selten geschieht dies an- lässlich von Krankenhausbehandlun- gen oder von klinischen Kuren, ohne dass der Patient in diesen Fällen selbst einen entsprechenden Verdacht hatte.

In anderen Fällen stößt ein neuer Hausarzt auf einen Sachverhalt, der ihn – anders als seinen Vorgänger – erstmals eine Berufskrankheit vermu- ten lässt. Auch hier darf nicht als er- ster Schritt das grüne Formular, die

„ärztliche Anzeige einer Berufskrank- heit“, ausgefüllt und dem zuständigen UV-Träger zugeleitet werden. Es gilt vielmehr der gleiche Grundsatz: Erst im eingehenden Gespräch mit dem Patienten sorgsam prüfen und dann ent- scheiden! Arbeitsmedizinische Kennt- nisse müssen dabei federführend sein.

Wer hingegen seinem Patienten ex ca- thedra mitteilt, bei ihm liege eine BK vor, hat nicht bedacht, dass der Patient nun erwartet, die Erkenntnisse des Arztes seien zutreffend und führten unumstößlich zur Anerkennung als Berufskrankheit.

Nur wenn der Lauf des Feststellungs- verfahrens dies bestätigt, wird er zufrie- den sein. Eine fehlende Bestätigung wird er hingegen weder verstehen noch akzeptieren, weil der Arzt ihm zuvor schon zugesichert habe, er sei berufs- krank.

Von besonders großer Tragweite kann der Ausgang eines solchen Bera- tungsgespräches sein, wenn der Patient hieraus schlussfolgert oder vom Arzt darin bestärkt wird, künftig nicht mehr an den alten Arbeitsplatz zurückkehren zu können, ohne dass offensichtlich un- verkennbar und zweifelsfrei gesicherte Ursachenzusammenhänge vorliegen.

Es werden andernfalls Tatsachen geschaffen, deren sozialmedizinische Konsequenzen für den Betroffenen un- umkehrbar und schwerwiegend werden können, wenn sich im Laufe des Fest- stellungsverfahrens der Verdacht einer Berufskrankheit nicht bestätigt, der Pa- tient aber seine Arbeit ohne eine Alter- native inzwischen aufgegeben hat.

Schadensbegrenzung kommt dann zu spät.

Im sozialrechtlichen Bereich betrifft der Schaden überwiegend die sich oft langwierig hinziehende Inanspruchnah- me von öffentlichen Mitteln aus einem zum Streitfall gewordenen Feststel- lungsverfahren.

Schwerer wiegt hingegen der sozial- medizinische und der soziopsychologi- sche Schaden für den Betroffenen, wenn er sich – wie nicht selten – verbit- tert zurückzieht oder gegen eine Welt von vermeintlichen Widersachern kämpft. Diesen Schaden gilt es zu ver- hindern, weil er das Leben des Betrof- fenen dauerhaft belastet und in wesent- lichen materiellen und seelischen Be- reichen entwertet.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2002; 99: A 769–770 [Heft 12]

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Ernst Stresemann Institut für Arbeits- und

Sozialmedizinische Allergiediagnostik Parkstraße 40 und 46, 32105 Bad Salzuflen Viele Arbeitsplatzverhältnisse bringen eine an-

haltende physische Belastung mit sich.

Foto: HVBG/Danetzki

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

der Jüngere und Cornelius Tacitus beweisen die histori- sche Existenz des Jesus von Nazareth. Er hat die christliche Ur- gemeinde von Jerusalem ge- kannt. In seinem Werk „Jü-

Seit längerem setzen sie sich dafür ein, dass das Versand- handelsverbot für Arzneimittel in Deutschland fällt.. Angesichts stei- gender Arzneimittelausgaben

Natürlich hat man auch viele Ärzte unter Druck gesetzt um der NSDAP beizutreten, aber manche haben eben doch auch widerstanden, oh- ne gleich eingesperrt zu wer- den, haben

Es werden andernfalls Tatsachen geschaffen, deren sozialmedizinische Konsequenzen für den Betroffenen un- umkehrbar und schwerwiegend werden können, wenn sich im Laufe des

❃ Allein wegen der demographischen und epidemiologischen Entwicklun- gen ist es unmöglich, weiterhin durch reine Kostendämpfungsmaßnahmen oder durch staatlich festgelegte

Ich glaube ausdrücklich nicht, daß es so ist, aber das Paradoxe ist, daß, je mehr falsch positive Dia- gnosen bei einer Krankheit vor- kommen, desto mehr ein an sich

Allerdings muß zwi- schen den für die Grundgesamt- heit aller der an einer bestimmten Krankheit Erkrankten gültigen Häufigkeiten von Symptomen und deren Vorhandensein beim

So habe der Bundesgerichtshof in mehreren Urteilen die Zuläs- sigkeit der passiven und indi- rekten Sterbehilfe ausdrück- lich anerkannt, heißt es in jetzt herausgegebenen