DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
AUSSPRACHE
Der Autor geißelt — zum Teil zu Recht — die mangelnde „präzise Sprachanwendung" in der Medi- zin. Diese ist jedoch auch eine
Funktion von nicht eindeutigen Begriffsinhalten. So läßt zum Bei- spiel für das Wort „typisch" der
Duden eine Reihe von Bedeutun- gen von „üblich" über „ausge- prägt" bis „kennzeichnend" zu.
Offenbar bevorzugt der Autor letz- tere; nur unter dieser Prämisse sind seine diesbezüglichen Aus- führungen zutreffend.
Was die „Wahrscheinlichkeitsaus- sagen" für das Vorhandensein von Symptomen bei verschiede- nen Krankheiten betrifft, so läßt deren Exaktheit in der Tat zu wün- schen übrig. Allerdings muß zwi- schen den für die Grundgesamt- heit aller der an einer bestimmten Krankheit Erkrankten gültigen Häufigkeiten von Symptomen und deren Vorhandensein beim Ein- zelfall streng unterschieden wer- den: Der einzelne Patient hat stets zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Symptom oder er hat es eben nicht — unabhängig von einer noch so exakten Angabe der Symptomenhäufigkeit in der Grundgesamtheit aller der an die- ser Krankheit Erkrankten. Inso- fern ist es für den viel (so auch hier) zitierten Praktiker zur Dia- gnosestellung wichtig, ob ein be- stimmtes Symptom stets (bei allen Erkrankten und zu jedem bzw. zu einem bestimmten Zeitpunkt) vor- handen ist. Symptomenwahr- scheinlichkeiten von null Prozent in der Grundgesamtheit wider- sprechen für den Einzelfall bei Vorliegen des Symptoms einer bestimmten Diagnose nicht, da es
durch eine Zweiterkrankung be- dingt sein kann. Symptomenwahr- scheinlichkeiten zwischen Null und 100 Prozent in der Grundge- samtheit widersprechen für den Einzelfall bei dem Fehlen des Symptoms einer bestimmten Dia- gnose nicht, da sein Vorhanden- sein somit nicht notwendig für die Diagnosestellung ist. Damit genü- gen eben diesem Praktiker die
„nicht exakten" Häufigkeitsbe- griffe; er will daraus ja auch nicht an Hand eines zu erstellenden mathematischen Wahrscheinlich- keitsmodells seine Diagnose her- leiten.
Analoges gilt im übrigen für den Gebrauch von Häufigkeitszahlen bestimmter Krankheiten bei de- ren Diagnose für den Einzelfall.
Die wenig exakten Häufigkeits- zahlen sprechen nicht nur gegen die Autoren medizinischer Litera- tur: die, gemessen an der Grund- gesamtheit aller von einer be- stimmten Krankheit Betroffenen, oft an sehr kleinen Stichproben erhobenen Werte lassen die Ex- trapolation auf die bezüglich ihres Umfangs oft unbekannte Grund- gesamtheit nicht ohne weiteres zu; im Wissen darum werden dann die „nicht exakten" Anga- ben gewählt, genauere Wertanga- ben kämen einer Pseudo-Exakt- heit gleich.
Bei den Aussagen des Autors be- züglich prognostischer Wahr- scheinlichkeiten muß wiederum streng zwischen den an einer gro- ßen Zahl von Patienten erhobe- nen Häufigkeitszahlen und ihrer Anwendbarkeit auf den Einzelfall
differenziert werden. Es kann für den Einzelfall meistens nicht ab- gewartet werden, ob ein „Tumor in Zukunft kein metastasierendes Wachstum mehr zeigen würde".
Dazu kommt, daß die vom Autor genannten Zahlen noch sehr hoch gewählt sind; in der täglichen Pra- xis müssen schwerwiegende Ent- scheidungen oft auf der Basis von Daten mit weit geringerer Validität gefällt werden.
Die Präzision, die einer Aussage zuerkannt wird, ist auch abhängig vom Sprach- und Sachverständnis des Lesenden. Und hier ist der Au- tor selbst (s)einer nicht präzisen Sprachanwendung zum Opfer ge- fallen:
1. Jugendliche Diabetiker leiden fast ausschließlich an einem Diabetes mellitus Typ I (der da- her ja auch „juveniler DM"
heißt) und sind aus diesem Grunde „meist norm- oder un- tergewichtig" im Gegensatz zu erwachsenen Diabetikern, bei denen der Typ ll-Diabetes zah- lenmäßig weit vorherrscht. Die vom Autor kritisierte Aussage bezieht sich — sprachlich kor- rekt — auf das Substantiv „Dia- betiker", keinesfalls, wie vom Autor verstanden, auf die Jugendlichen und ist somit nicht trivial.
2. Eine „Paroxysmale Tachykar- die" wird keineswegs ausrei- chend definiert durch einen
„stark beschleunigten, jedoch regelmäßigen Puls".
Dr. med. Fritz Sixtus Keck Gutenbergstraße 14 7900 Ulm (Donau)
Dr. Schneider hat auf das ihm zu- stehende Schlußwort unter Hin- weis auf seine Originalarbeit ver- zichtet.
Von den
„medizinischen Tatsachen"
Probleme präziser Sprachanwendung in der Medizin
Zu dem Beitrag von Dr. med. Karlheinz Schneider in Heft 28/29, 1984, 2173-2177
3258 (70) Heft 44 vom 31. Oktober 1984 81. Jahrgang Ausgabe A