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Archiv "Von den „medizinischen Tatsachen“" (13.07.1984)

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Von den

„medizinischen Tatsachen"

Probleme präziser Sprachanwendung in der Medizin

Karlheinz Schneider

Soweit die Medizin Wissenschaft ist, sollten wissenschaftstheore- tische Überlegungen in ihr mehr Berücksichtigung finden als bis- her. Dies dient der Klarheit medizinischer Aussagen und darf mit dem heute weitverbreiteten „Kritikasmus" an der Medizin nicht verwechselt werden.

ÜBERSICHTSAUFSATZ

Vorweg sei bemerkt, daß ein gro- ßer Teil der hier behandelten wis- senschaftstheoretischen Proble- me im Prinzip auch für manche anderen Wissenschaftsbereiche gilt. Ein brisantes Faktum in der Medizin ist es jedoch, daß trotz der im folgenden geschilderten Unzulänglichkeiten und Fragwür- digkeiten im allgemeinen eine Entscheidung getroffen und ge- handelt werden muß, eine Dimen- sion, in die sich viele angeblich kritische Wissenschaftssoziolo- gen und Journalisten nicht immer einfühlen können.

Die Statistik in der Medizin Für jemanden, der die Statistik in der Medizin nicht kennt, muß der Satz aus einer Fachzeitschrift:

„Selbstverständlich erheben un- sere Ergebnisse keinen Anspruch auf statistische Exaktheit" (1)*) Verwunderung auslösen, und er wird sich unwillkürlich fragen, wieso das selbstverständlich ist.

In der Tat ist in der medizinischen Syndromatologie ein besonderer Typ von Häufigkeitsaussage üb- lich, was zum Beispiel die folgen- den Feststellungen zum Alport- Syndrom aus einem Lehrbuch der inneren Medizin illustrieren sol- len: „Als erstes wird in der Mehr- zahl der Fälle eine Makrohämatu-

rie bemerkt ... Nicht selten eta- bliert sich in der Niere des Alport- Kranken zusätzlich eine außeror- dentlich therapieresistente Pyelo- nephritis (oft als erstes Symptom auftretend)" (2). Oder an anderer Stelle: „Patienten mit einem dia- stolischen Blutdruck von 130-150 mmHg sterben bevorzugt an Nie- renversagen" (3). Bei Sätzen die- ser Art handelt es sich, auch wenn man es auf Anhieb vielleicht nicht erkennt, um Wahrscheinlichkeits- aussagen!

Dabei wird mitunter auch vor tri- vialen Aussagen nicht zurückge- schreckt, so zum Beispiel wenn gesagt wird: „Jugendliche Diabe- tiker sind meist norm-oder unter- gewichtig . . ." (4), das heißt also selten übergewichtig, eine Aussa- ge, die in dieser Form für alle Jugendlichen zutrifft und deshalb eigentlich nichts besagt.

Ebenfalls wenig anfangen kann der Praktiker mit Aussagen wie dieser, wobei es um den Übertra- gungsmodus der Hepatitis geht:

„Bei Typ-A-Hepatitis oral und par- enteral, bei Typ-B-Hepatitis vor-

wiegend parenteral . „ aber auch oral" (5). Und in einem EKG-Buch steht zur Hyperkaliämie: „Die QT- Dauer ist normal, eventuell leicht verkürzt oder verlängert" (6). Da- mit erkennen wir das Problem:

Häufigkeits- bzw. Wahrscheinlich-

keitsaussagen in der Medizin wer- den vielfach mit nichtexakten Be- griffen angegeben. Zu diesen Be- griffen gehören: „manchmal",

„bei der Mehrzahl ist . . . in eini- gen Fällen aber", „zum großen Teil", „zuweilen", „häufig", „ge- legentlich", „. . . kommt vor", „im Einzelfalle ist . . . möglich", „ist auch beobachtet worden", „. . . wird auch berichtet", „kann . . sein" und viele mehr. So sind bei einer Erkrankung Rezidive „keine Ausnahme" bzw. die Rezidivge- fahr ist „nicht gering", und an an- derer Stelle „treten die zentral- nervösen Erscheinungen (beim Paratyphus gegenüber dem Ty- phus) etwas zurück" (7).

Quellenangaben, Prozentanga- ben oder Angaben zur Stichpro- bengröße werden zu solchen Aus- sagen fast nie gemacht und selbst, wenn es geschieht, ent- behrt es manchmal nicht einer ge- wissen Komik. So steht zum Bei- spiel in einem Lehrbuch zur Per- thesschen Krankheit: „Häufigkeit in der Durchschnittsbevölkerung:

0.08 %o bis 0.44 %o. Bei Negern, In- dianern und Polynesiern ist das Leiden nach Goff selten "(8).

Man darf also wohl sagen, daß es sich bei Aussagen, die solche dif- fusen Häufigkeitsbegriffe verwen- den, nicht um wissenschaftliche Aussagen im strengen Sinne han- delt, sondern eher um so etwas wie Erfahrungsberichte.

Zu den Begriffen

„charakteristisch" und

„typisch"

Eine zentrale Bedeutung bei sol- chen Erfahrungsberichten haben die beiden Adjektive „charakteri- stisch" und „typisch". So lesen wir in einem Buch zur Herzdia- gnostik folgende Sätze: „Ohn- machtsanfälle ... sind charakteri- stisch für Aortenstenose und atrioventrikulären Herzblock, Ur- sache kann aber auch eine extrem

") Die in Klammern stehenden Ziffern bezie- hen sich auf das Quellenverzeichnis im Son- derdruck, zu beziehen über den Verfasser.

(2)

beschleunigte Herzfrequenz sein . . Andererseits sind . . . Ohn- machtsanfälle auch bei Anämie, Unterernährung, manchen neuro- logischen Erkrankungen und ei- nem labilen Blutdruckniveau an- zutreffen . . . Selbst durch eine ausgeprägte Angst . . . kann ein derartiges Syndrom bewirkt wer- den" (9).

Was eigentlich „charakteristisch"

heißen soll, bleibt auch in folgen- dem Satz unklar: „Der Links- oder Horizontaltyp ist charakteristisch für den gesunden Erwachsenen über 40 Jahren, den Adipösen mit Zwerchfellhochstand und für die linksventrikuläre Hypertrophie"

(10). Da die meisten Adipösen mit Zwerchfellhochstand und die Menschen mit linksventrikulärer Hypertrophie über 40 Jahre alt sind, stellt sich die Frage nach dem Aussagewert dieses Satzes.

Es ist somit zu fragen, was für ei- nen logischen Stellenwert eine medizinische Aussage eigentlich hat, in der das Wort „charakteri- stisch" vorkommt.

Zu einem in Deutschland aufge- tretenen Fall des „Erworbenen Immun-Defekt-Syndroms" heißt es in einer Publikation: „Die Lym- phozytenveränderungen gelten als besonders charakteristisch, je- doch nicht beweisend für AIDS"

(11). Demnach muß die Diagnose schon feststehen, um die Lym- phozytenveränderungen als cha- rakteristisch auffassen zu können.

Was der medizinische Leser von einem Satz hält wie: „Ein weißes Pferd ist charakteristisch für einen Schimmel" dürfte auf der Hand liegen. Aber hat er diese sprach- kritische Einstellung auch zu ei- nem Satz wie: „Ein stark be- schleunigter, jedoch regelmäßi- ger Puls ist charakteristisch für ei- ne paroxysmale Tachykardie"

(12). Was spricht eigentlich dage- gen, in diesem Satz das „charak- teristisch für" einfach wegzulas- sen? Wenden wir uns dem Wort

„typisch" zu. Hierzu erst einmal ein Textbeispiel: „Beim Ovarial- fibrom kann Aszites und oft

gleichzeitig auch ein Hydrothorax auftreten. Diese seltene, aber ty- pische Erscheinung wird als Meigs-Syndrom bezeichnet" (13).

Bis dahin könnte man nun den- ken, es handele sich zwar um eine seltene, aber wenigstens für die Diagnose des Ovarialfibroms hin- reichende Bedingung. Jedoch fahren die Autoren selbst unmit- telbar daraufhin fort: „Es kommt auch bei anderen gutartigen Ova- rialgeschwülsten (Dermoidzysten, gutartigen Tubenadenomen, Ute- rusmyomen, Struma ovarii) oder bei bösartigen Tumoren (Kruken- berg-Tumoren, Tubencarcinoma) vor".

Zu dem Syndrom „AIDS" lesen wir in einer Fachzeitschrift: „Die Be- funde (einer verminderten Reak- tion auf bestimmte Mitogene und einer Inversion der T-Helfer- und T-Supressor-Zellen bei den Lym- phozyten) gelten bis auf weiteres als typisch, wenn auch nicht spe- zifisch für AIDS" (14). Ich möchte hier offen lassen, wie sich solch eine Aussage auf das Zuordnen oder Nichtzuordnen des Begriffes

„AIDS" zu einem Krankheitsbild und damit auf die Inzidenz dieser Erkrankung auswirkt.

Von wohltuender Ironie ist schließlich der Satz aus einer Fachzeitschrift: „Leider ist jedoch für die Appendizitis typisch, daß sie sehr häufig atypisch verläuft"

(15). Auf einen besseren Nenner läßt sich die Bedeutung der Be- griffe „typisch" und „charakteri- stisch" in der Medizin nicht brin- gen.

Einige Folgen

unpräziser Sprachanwendung Natürlich bleibt eine solche unkla- re Art, Aussagen zu machen, nicht ohne Auswirkungen auf die Wi- derspruchsfreiheit medizinischer Aussagensysteme: So steht in ei- nem Lehrbuch zur chronisch mye- loischen Leukämie: „Die Erkran- kung tritt am häufigstenzwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf.

Vor und nach diesem Zeitpunkt

kann man sie nur selten beobach- ten" (16). Nach einem anderen Lehrbuch sind von dieser Krank- heit dagegen „überwiegend Kin- der betroffen" (17).

Man stelle sich einmal die Situa- tion eines Medizin-Studenten vor, der vor seiner Multiple-choice- Prüfung steht und zur Osteochon- drosis dissecans mehrere Lehrbü- cher überblickt. Es scheinen sich Chirurgen und Orthopäden näm- lich nicht einigen zu können, an welcher Stelle des Kniegelenks der Ablösungsbezirk am häufig- sten zu finden ist. Die Orthopäden (18, 19) behaupten, daß er am me- dialen, die Chirurgen (20, 21), daß er am äußeren Femurkondylus lie- ge. So wird der noch Lernende schließlich am besten den „Mittel- weg" gehen und sich an ein wei- teres chirurgisches Lehrbuch und damit an die „Entwicklung der Osteochondritis dissecans am la- teralen Umfang des medialen Fe- murkondylus des Kniegelenks ( ty- pische Lokalisation)" (22) halten.

Verweilen wir noch etwas bei un- serem nervösen Medizin-Studen- ten. Angenommen, er habe zum

Physikum brav gelernt, daß in der Analgegend Verbindungen zur unteren Hohlvene existieren und aufgrund dieser anatomischen Gegebenheit bei portaler Hyper- tension Hämorrhoiden entstehen

können (23), so kann er sich nach bestandener Prüfung mit folgen- der Aussage in einem klinischen Lehrbuch konfrontiert sehen:

„Ein Zusammenhang zwischen Hämorrhoiden und portaler Hy- pertension besteht nicht" (24).

Man kann nur hoffen, daß er dann erkennt, daß es sich hierbei um ein typisches medizinstatistisches Problem handelt!

Uneinigkeit besteht auch bezüg- lich der „Psoriasis arthropatica"

zwischen den Dermatologen und den Orthopäden; letztere nennen die wohl gleiche Krankheit „Ar- thritis psoriatica". Heißt es ein- mal: „Die psoriatische Arthropa- thie besteht in einer gelenknahen Osteoporose" (25), so wird an

en-

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Medizinische ‚Tatsachen'

derer Stelle dazu bemerkt: „Auf- fallend ist das Fehlen gelenkna- her Osteoporose" (26). Beide Au- toren weisen, das muß hier betont werden, mit keinem Satz darauf hin, daß es sich um verschiede- ne Krankheitsentitäten handeln könnte.

Zur medizinischen Diagnostik Das Erstellen einer Diagnostik im Krankenhaus ist ein psycholo- gisch recht komplizierter und wis- senschaftsphilosophisch interes- santer Prozeß. Ich will hier nur kurz darauf eingehen, da dieses Kapitel an anderer Stelle bereits befriedigend abgehandelt worden ist (Gross 1969, 1976).

Außer der Berufserfahrung re- spektive dem Status spielen dabei auch Persönlichkeitsmerkmale, wie Risikobereitschaft und Domi- nanz der daran beteiligten Ärzte, eine Rolle. „Sich festlegen" ist mehr, als nur eine Diagnose aus- zusprechen, selbst wenn man an der Therapie gar nicht mehr un- mittelbar beteiligt ist.

Andere Faktoren —zum Beispiel in zunehmendem Maße leider auch juristische — kommen bei der Wei- tergabe der Diagnose in Arztbrie- fen ins Spiel, in denen eine einmal gestellte Diagnose, selbst wenn sie sich als falsch herausgestellt haben sollte, in der Formulierung

„es bestand Verdacht auf ..." per- sistiert, und sei es auch nur in hi- storisch-referierender Form. Dazu gehört auch das Immer-wieder-Zi- tieren einer Erkrankung, die längst folgenlos ausgeheilt ist.

Auch technische Möglichkeiten machen einen eigenen Faktor bei der Diagnosestellung aus. Wie bei anderen Faktoren, so besteht auch bei diesem die Gefahr einer ins Unsinnige gehenden Verselb- ständigung. Ich möchte hierzu zwei Beispiele anführen:

In einem Lehrbuch der inneren Medizin steht, die Lymphangio- graphie bringe beim Morbus

Hodgkin zur Feststellung des Be- falls iliakaler und paraaortaler Lymphknoten „eine Reihe falsch positiver und falsch negativer Be- funde, ist aber wertvoll zur Orien- tierung" (23). Keine halbe Seite später lesen wir: „Die Lymphan- giographie ist wenig zuverlässig, besonders im kranialen Anteil L, und L2 " (28).

Ähnlich paradox wird in einer Bro- schüre für Ringärzte des Amateur- Boxsports argumentiert: „Wo die Möglichkeit besteht, ein EEG durchführen zu lassen, sollte die- se Gelegenheit unbedingt genutzt werden, obwohl auch eine EEG- Untersuchung selten eine echte Aussage zu liefern imstande ist"

(29).

Problematisch sind für den Arzt also vor allem jene Diagnosen, die aufgrund einer Technik mit einer unerwünscht hohen Quote falsch negativer Ergebnisse zustande kommen. Als endgültige Instanz zur Festlegung der Diagnose — aber auch der Prognose — gilt fast immer die Königin unter den dia- gnostischen Verfahren — die Hi- stologie. Sie entscheidet letztlich über Wert und Unwert einer Me- thode sowie über Sinn und Unsinn eines internistischen oder opera- tiven Vorgehens. Aber sie ist auch Richtspruch über das Schicksal des Patienten. Betrachten wir sie deshalb etwas genauer.

Pathohistologie und Prognose Die Bedeutung der Histologie für die Prognose ist auf die Annahme einer totalen Korrelation zwi- schen Zellmorphologie und zu- künftiger Gewebeentwicklung zu- rückzuführen. Da aber Korrela- tionskoeffizienten mit dem Wert 1 im Bereich der Biologie — außer bei tautologischen Zusammen- hängen — praktisch nie vorkom- men, ist diese Annahme beden- kenswert, von den Abgrenzungs- problemen in der histologischen Klassifizierung selbst und der mir unverständlichen weitgehenden Außerachtlassung biochemischer Faktoren einmal ganz abgesehen.

So wird die „Bösartigkeit" eines Tumors — also ein dynamisches Moment — mit dem statischen Bild von Feingewebsschnitten identifi- ziert. Ein räumliches Nebeneinan- der wird hier gleichsam in einem schöpferischen Akt in ein zeitli- ches Nacheinander umgestaltet.

Borst drückt das folgendermaßen aus: „Wir lassen die Zellen sich bewegen, auseinander hervorge- hen, lassen sie in bestimmte Rich- tungen wandern und wachsen — und nichts von alledem sehen wir wirklich in unseren Präparaten, sondern unser Urteil bildet sich aus Erfahrungen und Erinnerung, Intuition und Phantasie!". Dieses

„gestaltende Sehen" ist ein wis- senschaftlich durchaus geläufiges Phänomen. Wir finden es zum Beispiel im Hertzsprung-Russel- Diagramm der Astronomen oder in der biologischen Evolutionsleh- re wieder.

Der Mediziner hat es jedoch mit überschaubaren Zeiträumen zu tun. Und in diesen zeigt sich bei genauerem Hinsehen, daß die dy- namisierende Perspektive allen- falls probabilistischen Wert hat.

Auf der 35. Tagung der deutschen Gesellschaft für Pathologie vom 11. bis 14. März 1951 in Hannover stellte Hamperl nüchtern fest:

„... ob eine Geschwulst gut- oder bösartig ist, entscheidet eben letzten Endes das Schicksal ihres Trägers und nicht die patholo- gisch-histologische Diagnose".

Als geradezu klassisches Beispiel hierfür mag das Chorionepithe- liom dienen. Und so ist es nur eine Frage der Sprachregelung, ob wir von Spontanremissionen bei Kar- zinomen oder von Fehldiagnosen sprechen.

In einem chirurgischen Lehrbuch steht, die Prognose einer Erkran- kung „basiert allein auf der medi- zinisch-wissenschaftlichen Stati- stik" (30). Das klingt zwar sehr si- cher, aber was bedeutet dies für das konkrete ärztliche Handeln, wenn die Treffsicherheit der hi- stologischen Diagnostik — mal an- genommen — 95 Prozent beträgt,

(4)

die Wahrscheinlichkeit noch fünf Jahre zu leben — bei richtig ge- stellter Diagnose —, für den Pa- tienten 20 Prozent beträgt, sofern er sich nicht operieren läßt bzw.

50 Prozent nach einer Operation, die allerdings ein unmittelbares Letalitätsrisiko von 5 Prozent hat?

Beim tatsächlichen medizini- schen Tun spielen solche kompli- zierten Überlegungen im allge- meinen keine Rolle, was den Ver- dacht erhärtet, daß das Wahr- scheinliche als absolut und das Unwahrscheinliche als unmöglich angesehen wird.

Bemerkenswert an dieser Sicht aber ist (und das ist einmalig in al- len Wissenschaften, die mit statisti- schen Aussagen zu tun haben), daß die dieser Sicht widersprechenden Tatsachen in der Medizin gleich- sam wegoperiert werden.

Nehmen wir einmal an, die Vor- stellung, daß das histologische Bild eines Tumors der Bösartig- keit seines Wachstums entspre- che, sei zu 95 Prozent richtig und zu 5 Prozent insofern falsch, als dieser Tumor in Zukunft kein me- tastasierendes oder chronisch in- filtrierendes Wachstum mehr zei- gen würde. Nach Früherkennung und radikaler Operation widerle- gen die 5 Prozent der Fälle nicht nur nicht den Absolutheitsan- spruch dieser Annahme, sondern sie bestätigen ihn sogar, weil sie auf das Erfolgskonto des genann- ten Vorgehens verbucht werden.

Ich glaube ausdrücklich nicht, daß es so ist, aber das Paradoxe ist, daß, je mehr falsch positive Dia- gnosen bei einer Krankheit vor- kommen, desto mehr ein an sich unsinniges radikales Vorgehen bestätigt wird.

Oder, etwas anders formuliert: Je radikaler die Methode, desto mehr bestätigt sie sich selbst, je konservativer eine Methode, de- sto schmerzlicher treffen die falsch negativen Diagnosen oder die bewußten Unterlassungen — selbst wenn die Patientenletalität jeweils die gleiche ist. Diese Ge- setzmäßigkeit mag das Vorgehen

von Chirurgen zuweilen effizien- ter erscheinen lassen als das von Internisten, und ich fürchte, daß diese Beziehung zwischen Radi- kalität und Konservativismus auch in anderen Lebensbereichen gilt!

Man mag mir entgegenhalten, daß ich mit meinen Ausführungen das Problem überzeichnet habe, und ich weiß selbst, daß in den Wis- senschaften mit gutem Grund nicht alles so heiß gegessen, wie es wissenschaftstheoretisch ge- kocht wird. Trotzdem möchte ich zum Schluß einige Beispiele von zu spät erkannten erfolglosen Therapien anführen, die zeigen, daß die bisherigen Betrachtungen doch nicht so ganz konstruiert sind.

Über Interferenzen

zwischen Therapie und Statistik In einer Fachzeitschrift wird be- züglich verschiedener chroni- scher Leukämien gemeldet: „Ei- ne, wie bei akuten Leukosen übli- che kombinierte Chemotherapie scheint die Überlebenszeit eher zu verkürzen" (31). Dabei berufen sich die Autoren auf sechs Litera- turstellen.

Einen entsprechenden Satz zur myeloischen Leukämie finden wir in einem internistischen Lehr- buch: „Die bislang gleichzeitig durchgeführte Behandlung mit Glukokortikoiden hat sich auf- grund neuerer Untersuchungen als nachteilig erwiesen" (32). Und eine Seite später steht in diesem Buch: „Eine andere, meist auch terminale Erscheinung im Ablauf der chronischen myeloischen Leukämie ist eine progrediente Knochenmarkinsuffizienz mit Markaplasie und peripherer Pan- zytopenie; bisher ist ungeklärt, ob diese Verlaufsform durch die zyto- statische Therapie induziert wird"

(33).

Zum letzteren ist zwar zu sagen, daß diese armen Menschen ohne die Therapie nur eines medizi- nisch etwas anderen Todes ge- storben wären, deutlich wird aber,

wie das medizinische Handeln die Statistik bzw. die „medizinischen Tatsachen" gewissermaßen mani- puliert.

Es scheint mir an den oben disku- tierten Spezifika des medizinisch- statistischen Vorgehens zu liegen, daß therapeutische Fehlentwick- lungen erst oft so spät zum Vor- schein kommen und daß dadurch zuweilen therapeutische Maßnah- men zur Anwendung gelangen, welche die Symptome, die sie be- seitigen sollen, eigentlich erst richtig hervorrufen und unterhal- ten. So steht in einem Chirurgie- Buch in Bezug auf die Stauung von Prostata-Sekret: „Man hüte sich, solche Zustände mit Prosta- tamassagen zu behandeln, nach denen der Ratsuchende erst zum Kranken und nie mehr gesund wird!" (34). An anderer Stelle le- sen wir zur Migräne: „Vor einer Dauerbehandlung mit Ergotamin- Präparaten wird eindringlich ge- warnt, da es hierbei, ... zum soge- nannten Umkehreffekt kommt, nämlich zu einem Dauerkopf- schmerz" (35). Oder: „Tückischer- weise sollen sogar Medikamente, die zur Behandlung des Lupus erythematodes empfohlen wer- den, diese Krankheit ausgelöst haben" (36). Entsprechendes wird über Streptomycin berichtet, an das sich bestimmte Bakterien so gut anpassen können, „daß einige Erreger nur noch in Gegenwart von Streptomycin wachsen kön-

nen!" (37).

Schuld an solchen Vorkommnis- sen ist meist nicht die pharmako- logische Prüfung, Schuld ist viel- mehr die Art des „statistischen Sehens" des Klinikers. In einem Lehrbuch der Gynäkologie lesen wir über Kontrazeptiva während der Stillzeit: „Ob dies zur Gynäko- mastie bei männlichen Säuglin- gen, zur Schädigung des Sexual- zentrums bei weiblichen Säuglin- gen und zu einer unerwünschten Beschleunigung der Skelettent- wicklung führen kann, bedarf noch der Klärung" (38). Wie zum Beispiel diese Klärung im einzel- nen aussehen könnte, bedarf je-

(5)

Medizinische ‚Tatsachen'

doch ebenfalls der Klärung. Und dazu müssen Mediziner und Stati- stiker besser zusammenarbeiten als bisher. Nicht erst bei der Da- tenverrechnung, sondern bereits bei der Versuchsplanung muß die- se Zusammenarbeit beginnen!

Schlußfolgerung

Die aufgezeigten Probleme, die sich zunächst nur in einem unprä- zisen Sprachgebrauch offenba- ren, könnten auf den ersten Blick als relativ harmlos angesehen

werden. Über die Auswirkungen auf die alltägliche Praxis in der Medizin gibt es keine Untersu- chungen. Die Verwendung von nicht einheitlich zu deutenden Ad- jektiven in der medizinischen Lite- ratur in einer Form, die absolute Sicherheit verbreitet, selbst in Fäl- len von Unsicherheit, sollte je- doch stutzig machen. Daß sich auf diese Weise vage Aussagen zu Fakten „potenzieren" können, ist am Beispiel der Berichterstattung zum Krankheitsbild „AIDS" in den verschiedensten Medien beson- ders deutlich geworden.

Literatur

Borst, M.: Pathologische Histologie, Berg- mann München (1950) — Gross, R.: Medizini- sche Diagnostik-Grundlagen und Praxis, Springer Berlin (1969) — Gross, R.: Zur klini- schen Dimension der Medizin. Beiträge zu ei- nigen Grundlagen und Grundfragen, Hippo- krates Stuttgart (1976) — Hamperl, H.: 35. Ta- gung der Deutschen Gesellschaft für Patholo- gie in Hannover vom 11.-14. März 1951, Pisca- tor Stuttgart (1952)— Quellennachweis im Son- derdruck

Anschrift des Verfassers:

Diplom-Psychologe

Dr. med. Karlheinz Schneider Heinrich-Hertz-Straße 17 2000 Hamburg 76

FÜR SIE GELESEN

Kompensiert die Mammakarzinom- Zunahme den Zervixkarzinom- Rückgang?

In den letzten 20 Jahren ist an der Frauenklinik Erlangen der Univer- sität Erlangen-Nürnberg, einem Krankenhaus mit ziemlich kon- stantem Einzugsgebiet, die Zahl der klinischen Karzinome des Ge- bärmutterhalses zurückgegan- gen. Im selben Zeitrahm hat sich die Zahl der klinisch diagnostizier- baren Brustkrebse auf das Vierfa- che vermehrt! Eine Erklärung für diese Entwicklung kann im Au- genblick nicht gegeben werden.

Bemerkenswert erscheint die Tat- sache, daß aus dem Kollektiv der abdominal ausgedehnt operierten Cervixkarzinome rund 30 Prozent bei Präventivuntersuchungen übersehen wurden. Etwa 14 Pro- zent ließen sich mit diesen Metho- den aufspüren, rund 56 Prozent der Frauen mit Gebärmutterhals- krebs kamen allein aufgrund von Symptomen zur Behandlung; das- selbe gilt für die Gruppe der nur bestrahlten Patientinnen. Mam- makarzinome werden in der Re- gel in klinischen Phasen entdeckt.

Es gibt praktisch keine Methode, sie in größerer Zahl vorher aufzu- spüren. Der Prozentsatz der mit

Hilfe der Mammographie entdeck- ten, klinisch okkulten Krebse liegt unter 10 Prozent. ptr

Paterok, E. M.; Schneider, M. L.; Trotnow, S.:

Gegenläufige Tendenzen behandelter Cervix- und Mammakarzinome, Geburtsh. u. Frauen- heilk. 44 (1984) 32-33, Privatdozent Dr. E. M.

Paterok, Universitäts-Frauenklinik, Universi- tätsstraße 21-23,8520 Erlangen

Carcinoembryonales Antigen (CEA) und

Tennessee Antigen (TAG) in der Tumordiagnostik

Die klinische Relevanz der Be- stimmung des Tennessee Anti- gens (TAG) wurde im Vergleich zur Bestimmung des carcinoem- bryonalen Antigens (CEA) an 90 Patienten mit gastrointestinalen Tumoren, 40 Patienten mit ent- zündlichen Darmerkrankungen (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa) und 25 gesunden Probanden ge- prüft. Bei separater Auswertung jedes der beiden Antigene fand sich bei 45 Prozent aller Tumorpa- tienten eine erhöhte CEA- und bei 90 Prozent eine erhöhte TAG-Kon- zentration. Bei gesonderter Be- trachtung der Magenkarzinome wurde das TAG in 88 Prozent, das CEA jedoch nur in 22 Prozent in pathologisch erhöhter Konzentra- tion gefunden. Ähnlich verhält es

sich bei kolorektalen Karzinomen, wo 82 Prozent der Karzinomträger ein erhöhtes TAG, 40 Prozent je- doch nur ein erhöhtes CEA auf- weisen. Beim Pankreaskarzinom waren beide Positivraten hoch (TAG 100 Prozent, CEA 75 Pro- zent). Entzündliche Darmerkran- kungen hatten in 30 Prozent der Fälle erhöhte TAG und in 37 Pro- zent der Fälle erhöhte CEA-Kon- zentration. Eine Abhängigkeit zur Entzündungsaktivität konnte bei keinem der beiden Antigene ge- funden werden. Die Autoren kom- men zu dem Schluß, daß bei Pa- tienten mit gastrointestinalen Ma- lignomen das TAG dem CEA an diagnostischer Empfindlichkeit überlegen ist. Die Studie bestätigt ferner die Aussage anderer Auto- ren, daß TAG ein unspezifisches tumorassoziiertes Antigen dar- stellt, welches keine Organzuord- nung gastrointestinaler Maligno- me zuläßt. Da Morbus Crohn- und Colitis ulcerosa-Patienten ein hö- heres Karzinomrisiko als die Nor- malpopulation aufweisen, bietet die Bestimmung des TAG darüber hinaus eine wertvolle Ergänzung in der diagnostischen Palette bei der Überwachung von Risikopa- tienten. ktt

Meryn, S.; Francesconi, M. u. Abel, B.: Tumor- Diagnostik & Therapie 4 (1983) 101-104 — Dr. S. Meryn, I. Universitätsklinik für Gastroen- terologie und Hepatologie, Lazarettgasse 14, A-1090 Wien

Referenzen

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