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Archiv "Gesundheitspolitik: Den Tatsachen stellen!" (25.12.2000)

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enn im neuen, jetzt anbrechen- den Jahrhundert unser frei- heitliches, selbstverwaltetes Gesundheitswesen weiterhin leistungs- fähig und finanzierbar bleiben und der Erwartung der Bevölkerung wie der einzelnen Patienten Rechnung getra- gen werden soll, dann müssen endlich die wegen der demographischen, medi- zinischen und epidemiologischen Ver- änderungen überfälligen Anpassungen der Finanzierungsgrundlagen der Ge- setzlichen Krankenversicherung vorge- nommen werden. Statt kurzfristiger, je- weils auf die nächsten Wahltermine zie- lender und auf das politische Kurzzeit- gedächtnis der Wähler hoffender takti- scher Winkelzüge sind auf Dauer trag- fähige Regelungen erforderlich.

Wegen der Schwierigkeit, langfristi- ge Entwicklungen, vor allem den weite- ren Fortschritt der Medizin sicher beur- teilen zu können, bleiben jedoch auch dann noch viele Unsicherheitsfaktoren.

Der Gesetzgeber sollte deshalb davon absehen, alle Details regeln zu wollen, sondern dies dem in der Selbstverwal- tung vertretenen Sachverstand überlas- sen. Es ist ebenso notwendig, die auf der Grundlage täglicher ärztlicher Ar- beit in Krankenhaus und Praxis von Deutschen Ärztetagen entwickelten Anpassungen der Versorgungsstruktu- ren, insbesondere des ärztlichen Dien- stes in den Krankenhäusern, zu ver- wirklichen und damit zu einer besseren Integration zwischen dem stationären und ambulanten Behandlungsbereich zu kommen. Dies dürfte am ehesten ei- ner sektorenübergreifenden Selbstver- waltung neuer Art möglich sein.

Die Gestaltung der Zukunft muss sich an den veränderten Realitäten orientieren. Rechtliche Bestimmungen müssen sich nach der Lebenswirklich-

keit richten und nicht umgekehrt. Mit der Sehnsucht nach einer vergangenen

„Medizinidylle“, ideologisch gepräg- tem Wunschdenken und hartnäckigem Leugnen erwiesener Zusammenhänge sowie einem Festhalten an überholten rechtlichen Regelungen lassen sich die Herausforderungen im neuen Jahrhun- dert nicht bewältigen. Die Erfahrungen mit staatlich reglementierten Systemen im früheren Ostblock und der ehemali- gen DDR sollten doch eigentlich alle Verantwortlichen überzeugt haben, dass eine staatliche Kommando-Wirt- schaft Eigeninitiative und Eigenverant- wortung aller Beteiligten lähmen und so zwangsläufig zur Rationierung füh- ren muss.

Vor allem die demographischen Ver- änderungen mit einer starken Zunahme der Zahl älterer Menschen und der gleichzeitige Geburtenrückgang, aber auch die Veränderungen der Familien- und Wohnstrukturen wirken sich auf die zukünftigen Ausgaben der sozialen Sicherungssysteme aus. Dies ist seit lan- gem erkennbar – auch ohne hellseheri- sche Fähigkeiten.

Der Altersaufbau wird sich weiterhin stark verändern

Schon in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrtausends wird sich der Al- tersaufbau der Bevölkerung in Deutsch- land wegen der seit rund 50 Jahren pro Jahrzehnt um vier bis fünf Jahre zu- nehmenden Lebenserwartung weiter- hin stark verändern. Von 1950 bis 1995 stieg bereits der Anteil der über 60- Jährigen von 14,4 Prozent auf 21 Pro- zent, bis zum Jahr 2040 wird er auf dann gut 33 Prozent der Bevölkerung anstei- gen. In Zahlen ausgedrückt bedeutet

dies: von 1995 bis 2040 einen Zuwachs bei den „jüngeren Alten“ (65- bis 80- Jährige) von rund 5,3 Millionen Men- schen, bei den „Hochaltrigen“ (80 Jah- re und älter) einen Zuwachs von etwa zwei Millionen Menschen. Der Alten- quotient, der die Relation zwischen äl- teren Menschen und der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter aufzeigt, wird sich dadurch von 35 Prozent auf rund 71 Prozent erhöhen, also etwa verdoppeln.

Daraus ergeben sich wegen der ana- log zu erwartenden steigenden Zahl äl- terer chronisch Kranker oder durch Stürze verletzter Personen erhebliche Konsequenzen für die Versorgung und damit für die Gesundheitspolitik. So ist mit einer weiterhin stark zunehmenden Zahl chronisch Behandlungsbedürfti- ger zum Beispiel infolge degenerativer Veränderungen, chronischer Nierener- krankungen, aber auch in der Onkolo- gie zu rechnen. Verlässliche Schätzun- gen von Diabetologen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Diabetiker in Deutschland von heute vier Millionen bis zum Jahr 2010 auf rund acht Millio- nen verdoppeln wird. Dazu trägt frei- lich auch eine veränderte Definition bei, nach der jeder Nüchtern-Blut- zuckerwert über 110 mg/dl als Diabetes gewertet wird. Eine zunehmende Zahl Behandlungsbedürftiger ist ferner bei Personen mit Bluthochdruck zu erwar- ten. Derzeit sind nach Schätzungen der Deutschen Hochdruckliga etwa 16 Mil- lionen Patienten behandlungsbedürf- tig. Doch auch hier wird sich die Defini- tion verändern. Galten noch vor zehn Jahren Blutdruckwerte erst ab 160/100 mm Hg als behandlungsbedürftig, so empfehlen heute Experten einen The- rapiebeginn bereits bei Werten von 140/90 mm Hg. Es sei optimal, wenn der Druck nicht über 120/80 mm Hg stei- P O L I T I K

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 51–52½½½½25. Dezember 2000 AA3463

Gesundheitspolitik

Den Tatsachen stellen!

Die Politik darf sich nicht länger

den demographischen und epidemiologischen

Entwicklungen verschließen.

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ge. Bessere Überlebenschancen werden auch Patienten mit Schlaganfällen durch den Ausbau von stroke units ha- ben, von denen es gegenwärtig 80 in Deutschland gibt. Pro Jahr erleiden rund 350 000 Menschen in Deutschland einen Schlaganfall, von denen bislang jeder Fünfte stirbt. Eine deutliche Sen- kung dieser Todesrate ist zu erwarten, eine gleichzeitige Verteuerung der Be- handlung aber auch zum Beispiel durch die Umstellung der Medikation vom vergleichsweise preisgünstigen Aspirin auf Clopidogrel.

War noch vor vier bis fünf Jahrzehn- ten vor allem bei älteren Menschen ein Schenkelhalsbruch oder gar eine Mehr- fachverletzung ebenso wie ein Herz- infarkt oder ein Schlaganfall nahezu ein Todesurteil, kann heute durch ein ausgebautes Rettungswesen, moderne Verfahren der Intensivmedizin sowie ei- ne verbesserte Rehabilitation vielfach das Leben erhalten werden. Oft besteht dennoch die Notwendigkeit einer Dauer- behandlung und einer mindestens vor- übergehenden Betreuung, wenn nicht gar Pflegebedürftigkeit die Folge ist.

Der Generationenvertrag wird brüchig – gerade auch in der Krankenversicherung

Eine große Bedeutung hat auch die Vereinzelung in einer Single-Gesell- schaft und die Vereinsamung gerade äl- terer Menschen. Von 1950 bis 1997 hat die Zahl der in Ein-Personen-Haushal- ten Lebenden von 3,29 Millionen auf 11,125 Millionen zugenommen. Die zahlenmäßig stärkste Gruppe ist die der älteren Alleinlebenden in den alten Bundesländern über 65 Jahre. Sie be- trug 1997 5,04 Millionen Menschen, das heißt, etwa ein Drittel der über 60- Jährigen in Deutschland lebt in Einzel- haushalten.

❃ Die Brisanz dieser Veränderun- gen ist bei der Gesetzlichen Kranken- versicherung insgesamt noch größer als bei der Rentenversicherung, denn dort besteht eine feste Relation zwischen Beitrag und Leistung, wenn man von der Dauer der Rentenzahlung absieht.

Diese ist allerdings von 12,1 Jahren im Jahr 1980 auf 16 Jahre im Jahr 1998 angestiegen (Bundesländer West). Das

durchschnittliche Renten-Eintrittsalter beträgt heute 59,8 Jahre. Bei der Ge- setzlichen Krankenversicherung hinge- gen entsteht schon mit dem geringsten Beitrag ein Anspruch auf volle Lei- stung nach dem jeweiligen Stand der Medizin. Der viel zitierte Generatio- nenvertrag ist in der Gesetzlichen Krankenversicherung aber auch des- halb noch brüchiger, weil die Ausga- bendynamik durch Fortschritte der Medizin völlig unberücksichtigt bleibt.

Der nach dem Stand heutiger Erkennt- nisse versorgte Rentner hat als aktiver Beitragszahler „nur“ für den Stand der Medizin vor 20 bis 30 Jahren bezahlt.

Sein heutiger Beitrag aber ist durch Gesetz begrenzt.

Die mit der Behandlung und Nach- sorge vor allem von chronisch kranken oder verletzten älteren Menschen ver- bundenen Kosten machen die eminente gesundheitspolitische Dimension in Anbetracht politisch begrenzter finan- zieller Ressourcen deutlich.

Gleichgültig ist es dabei auch, ob die Ausgabensteigerungen mit der stei- genden Lebenserwartung und der oft damit verbundenen Dauerbehandlungs- bedürftigkeit insgesamt in Zusammen- hang gebracht oder unabhängig von der Lebensdauer nur auf die letzten zwei bis drei Jahre vor dem Tode bezogen werden – eine These, die vom Sachver- ständigenrat für die Konzertierte Akti- on im Gesundheitswesen stammt.

Nach dem Zweiten Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Demogra- phischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“ ist zu berücksichtigen, „dass durch die hö- here Lebenserwartung sich die Beset- zungszahlen der einzelnen Altersklas- sen ändern und das Sterberisiko mit zu- nehmendem Alter stark ansteigt“. Wei- ter heißt es dort: „Zwar fallen für eine Person, die mit 85 Jahren stirbt, gerin- gere Kosten vor dem Tode an, als wenn sie mit 65 Jahren stirbt. Dafür verur- sacht sie über einen Zeitraum von 20 Jahren weitere mit jedem Jahr steigen- de Gesundheitskosten.

❃ Damit gibt es bei einer Erhöhung der Lebenserwartung eine Reihe von gegenläufigen Effekten. Eine generelle Aussage über eine kostensteigernde und kostensenkende Wirkung bei einer

steigenden Lebenserwartung ist somit nicht möglich.“

Die Gesetzliche Krankenversiche- rung hat jedoch auch ein Einnahmepro- blem. Seit 1970 ist die Zahl der Er- werbslosen von damals rund 150 000 auf heute rund vier Millionen Men- schen angestiegen. Dadurch und durch die verminderte Lohnquote hat die Krankenversicherung allein in diesem Jahr einen Einnahmeausfall von elf Milliarden DM. Die Enquete-Kommis- sion kommt zu folgendem Schluss:

„Das Ausmaß dieses Einnahmerück- gangs ist aber schwer abzuschätzen, da es von vielen Einflussfaktoren, wie zum Beispiel der Erwerbsquote, dem Lohn- niveau, der Ausbildungszeit von Ju- gendlichen, der Rentenhöhe oder dem Renteneintrittsalter, abhängt.“

Gebot politischer Redlichkeit

❃ Allein wegen der demographischen und epidemiologischen Entwicklun- gen ist es unmöglich, weiterhin durch reine Kostendämpfungsmaßnahmen oder durch staatlich festgelegte sek- torale oder globale Budgets, die sich nur entsprechend der Entwicklung beitragspflichtiger Einnahmen verän- dern sollen, eine nach dem jeweili- gen Stand medizinisch-wissenschaftli- cher Erkenntnisse mögliche Versor- gung der Patienten aufrechtzuerhalten.

Die Grundlohnsummenentwicklung – die im Übrigen auch negativ verlaufen kann – steht weder mit den Fortschrit- ten der Medizin noch gar mit der zu- nehmenden Lebenserwartung in ir- gendeinem Zusammenhang.

Wenn sich der Gesetzgeber diesen Tatsachen auch in Zukunft verschließt, droht wegen der global oder sektoral bestimmten Finanzbudgets eine Lei- stungsbudgetierung und damit eine Ra- tionierung von Gesundheitsleistungen.

Es wäre ein Gebot politischer Redlich- keit, dies der Bevölkerung dann aber auch zu sagen.

Prof. Dr. med. Dr. med. h. c. Karsten Vilmar Schubertstraße 58

28209 Bremen

Der Verfasser war von 1978 bis 1999 Präsident der Bun- desärztekammer und ist seitdem ihr Ehrenpräsident.

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A3464 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 51–52½½½½25. Dezember 2000

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