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Archiv "Sozialmedizinische Aspekte der Gicht" (23.10.1975)

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Einleitende Bemerkungen über die sozialmedizinische Bedeutung einer Krankheit

Die Sozialmedizin beschäftigt sich mit dem Einfluß und den Wechsel- wirkungen, die Krankheiten einer- seits und die Gesellschaft in allen ihren Lebensbereichen anderer- seits aufeinander ausüben. Die so- zialmedizinische Bedeutung einer Krankheit hängt vom Ausmaß die- ser gegenseitigen Beeinflussung ab. Zur Anerkennung der sozialme- dizinischen Bedeutung einer Krankheit müssen folgende drei Voraussetzungen erfüllt sein:

0 Häufige Verbreitung auch unter den jüngeren Jahrgängen der Be- völkerung;

0 wesentliche Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit;

® erheblicher Verlust an Volksver- mögen.

Kein Zweifel besteht darüber, daß die Krankheiten des rheumatischen Formenkreises, zu denen auch das Stoffwechselleiden Gicht in seiner Erscheinungsform als symptomati- sche Arthritis gehört, ein sozialme- dizinisches und sozialökonomi- sches Problem erster Ordnung dar- stellen, dessen Bedeutung durch das weitere Anwachsen des Anteils älterer Menschen an der bundes- deutschen Gesamtbevölkerung bis in die 80er Jahre sicher noch zu- nimmt. Allein 10 bis 25 Prozent al- ler Invalidisierungen und schät-

zungsweise ein Drittel aller Rehabi- litationsverfahren erfolgen wegen Erkrankungen aus dem rheumati- schen Formenkreis. Die daraus er- gebenden Sozialprobleme lassen sich nur in enger Zusammenarbeit von Arzt und Staat lösen.

Gicht

Als Erbkrankheit entspricht die pri- märe Gicht familiären Enzymschä- digungen, wobei über die Art, die Zahl und die Lokalisation der ver- schiedenen Enzymdefekte noch viele Unklarheiten bestehen. Sie kann als Volkskrankheit der eta- blierten Wohlstandsgesellschaft be- zeichnet werden, denn sie ist gleichzeitig eine umweltbedingte Krankheit mit komplexem Erbgang und ohne sichtbare Chromosomen- veränderungen.

Ätiologische Zusammenhänge

Die Entwicklung der Gicht ist mög- licherweise nicht nur eine Funktion von Zeit und Hyperurikämie, son- dern hängt darüber hinaus von weiteren, bisher nicht näher defi- nierten Variablen ab. Möglicher- weise gibt es zwei oder mehrere Populationen von hyperurikämi- schen Personen, von denen nur die eine ein hohes Risiko zur Mani- festation einer Gicht hat. Vermut- lich ist zur Manifestation der pri- mären Gicht ein individuell varia- bler Schwellenwert der Genwirkun- gen erforderlich, die von zahlrei-

Die Krankheiten des rheuma- tischen Formenkreises, zu denen auch das Stoffwech- selleiden Gicht gehört, stel- len ein sozialmedizinisches und sozialökonomisches Pro- blem ersten Ranges dar. Al- lein 10 bis 25 Prozent aller Invalidisierungen und etwa ein Drittel aller Rehabilita- tionsverfahren erfolgen heute wegen derartiger Erkrankun- gen. Nur verbesserte Diagno- se und wirksamere Prophyla- xe sind in der Lage, die der- zeit gültigen sozialökonomi- schen Perspektiven dieses Problems positiv zu verän- dern.

chen Umweltdeterminanten modi- fiziert werden: Wenn mehrere Gene für die Höhe der Serumharn- säurekonzentration verantwortlich sind, ist zu erwarten, daß sich die pathogenetischen Mechanismen in ihrer relativen Bedeutung vom ei- nen zum anderen primär hyperurik- ämischen Individuum unterschei- den und daß eine Umwelt, die für den einen Merkmalsträger noch harmlos ist, für den anderen höchst gefährlich sein kann. Ver- erbt würde also nur die Disposition zur Hyperurikämie, nicht diese selbst.

Genetische Disposition zur Hyperurikämie

Die Frage, ob eine gichtige Erban- lage nur als Teil einer allgemeinen erblichen Disposition zu Stoffwech- selkrankheiten verschiedener Art aufzufassen ist, konnte noch nicht geklärt werden. Unter diesem Ge- sichtspunkt wären Überlappungs- phänomene durchaus denkbar, denn Gicht ist nicht nur eine Ge- lenkerkrankung, sondern zugleich eine schwere Allgemeinkrankheit.

Der Terminus „Hyperurikämie" ist eher das Ergebnis einer allgemei- nen Übereinkunft als die fest um- rissene Definition einer bestimmten

Sozialmedizinische Aspekte der Gicht

Dieter Paul Mertz

Kurklinik am Park, Horn — Bad Meinberg (Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Dieter Paul Mertz)

2982 Heft 43 vom 23. Oktober 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

Gicht

Stoffwechselstörung. Er spiegelt zahlreiche Faktoren wider. Die Er- höhung der Serumharnsäurekon- zentration bedeutet ein bekanntes Risiko nicht nur für Gicht, sondern auch für Uratnephropathie mit kon- sekutiver arterieller Hypertension.

Vermutlich haben auch nichtfami- liäre Umweltfaktoren, von denen bisher viele nicht aufgeklärt wer- den konnten, eine pathogenetische Bedeutung bei primärer Gicht. Stu- dien am Beispiel der sogenannten essentiellen Hypertension zeigen, daß familiäre Faktoren hierbei nur zu einem Drittel für die Verände- rungen des systolischen Blut- drucks und lediglich zu einem Fünftel für die des diastolischen Blutdrucks verantwortlich gemacht werden können.

Pathogenetischer Faktor Wohlstand Die Gicht kommt vor allem bei Be- völkerungsgruppen vor, bei denen sich schädliche Manifestationsfak- toren der Zivilisation gehäuft fin- den. Epidemiologische Studien zei- gen eindeutig, daß sich die starke Zunahme der Gicht in den letzten beiden Jahrzehnten nicht mit dem höheren durchschnittlichen Le- bensalter beziehungsweise mit ei- ner gesteigerten Lebenserwartung erklären läßt.

Lange Zeit wurde die Gicht als ty- pische Wohlstandskrankheit ange- sehen. Noch 1956 wurde festge- stellt, daß Gichtpatienten im Ver- gleich zu Patienten mit primär chronischer Arthritis finanziell durchschnittlich besser gestellt sind und daher häufiger als diese in den Privatwartezimmern erschei- nen. Um die Jahrhundertwende be- trug die Gichthäufigkeit in Deutschland 3,5 Promille in der Gesamtbevölkerung, aber 28,2 Pro- mille unter Privatpatienten. Dieses Verhältnis von 1 zu 8 wurde in der unmittelbar auf den Ersten Welt- krieg folgenden Zeit auf etwa 1 zu 2 bis 1 zu 3 gemildert.

In einer Gesellschaft, die seit mehr als 15 Jahren in einem zuvor nie gekannten, breitgestreuten Über-

fluß lebt, kann Gicht heute nicht mehr als eine Krankheit der Rei- chen oder Privilegierten und auch nicht mehr als eine „vergessene Krankheit" — wie etwa in Notzei- ten während der beiden Weltkriege und danach — bezeichnet werden.

Infolge der allgemeinen Anhebung des Lebensstandards ist die Häu- figkeit, in der sich Gicht jetzt in der Bundesrepublik manifestiert, grö- ßer als jemals zuvor, beispielswei- se vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, als sie auf 10 Promille veranschlagt wurde.

Offenbar genügen 15 Jahre der Überernährung und der zunehmen- den körperlichen Inaktivierung in einer modernen Industriegesell- schaft, um die latenten Erbanlagen in den meisten Fällen klinisch ma- nifest werden zu lassen. Übrigens gilt eine ähnliche, wenn auch kür- zere Zeitdauer für die Auswirkung eines Wirtschaftswunders auf die Penetranz der für den Diabetes verantwortlichen Erbmerkmale, wo- bei prädisponierte Personen der

„Gefahrenzone des modernen Lu- xuskonsums" immer näher rücken.

Für die größere Latenz der Häufig- keitszunahme von Gicht ist der Umstand verantwortlich zu ma- chen, daß eine Hyperurikämie der klinischen Gichtmanifestation im allgemeinen längere Zeit vorange- hen muß als etwa ein Insulinman- gel dem klinisch manifesten Diabe- tes mellitus.

Durch die Nivellierung der Lebens- und Konsumgewohnheiten ist Gicht heute nahezu gleichmäßig über die gesamte Bevölkerung aller westli- chen Industrienationen verbreitet.

Neuere amerikanische Statistiken und Schätzungen in der Bundesre- publik lassen den Schluß zu, daß etwa 1 bis 2 Prozent der erwach- senen Bevölkerung in einer Über- flußgesellschaft — meist unerkannt

— Gicht haben.

In Übereinstimmung mit diesem Er- gebnis steht eine retrospektive Er- hebung im Bereich der Medizini- schen Universitätspoliklinik in Frei- burg im Breisgau. Nach ihr hat sich die Häufigkeit der Gicht unter

den ambulanten Patienten zwi- schen 1948 und 1968 verdreizehn- facht, so daß gegenwärtig bei je- dem zweiten männlichen Patienten, der wegen entzündlicher Gelenker- scheinungen die internistische Sprechstunde aufsucht, mit Gicht gerechnet werden muß. Für 1970 wurde ein Ansteigen der Gichtmor- bidität auf insgesamt das Sieb- zehnfache von 1948 festgestellt; bei Männern betrug sie sogar mehr als das Zwanzigfache.

Einen Hinweis darauf, daß die Be- dingungen, die das Entstehen einer Gicht begünstigen, gegenwärtig besonders aggressiv wirken müs- sen, bieten zwei weitere Beobach- tungen. Einmal ergab die Altersver- teilung hinsichtlich der Erstmani- festation der Gicht als Gelenker- krankung bei den Freiburger Pa- tienten, daß der Gipfel um zwei Jahrzehnte auf die dritte Dekade vorverlegt war. Dies widerspricht zahlreichen Literaturangaben, wo- nach die Gicht bei Männern meist im mittleren Lebensalter mit einem Gipfel zwischen dem 40. und 50.

Lebensjahr manifest geworden ist.

Die erhebliche Altersverschiebung zugunsten einer Gichtmanifestation bei jüngeren Patienten erklärt sich mit den inzwischen länger beste- henden schädlichen Auswirkungen der Industriegesellschaft. Ein zwei- ter Hinweis auf die Aggressivität der gichtfördernden Bedingung ist die Beobachtung, daß sich die Krankheitsdauer bis zum Auftreten von Weichteil- und/oder Knochen- tophi von früher durchschnittlich zehn bis zwanzig Jahren auf jetzt durchschnittlich fünf bis neun Jah- re verkürzt hat.

Ein bemerkenswertes Beispiel für den Einfluß von Umweltfaktoren auf die Entwicklung einer Gicht bil- det die epidemiologische Situation unter der polynesischen Bevölke- rung in Neuseeland. Obwohl Gicht unter der neuseeländischen Bevöl- kerung vor ihrem ersten Kontakt mit Europäern so gut wie unbe- kannt war, kommt heute Gicht bei den Maoris zum Teil häufiger als bei der europäischen Bevölkerung Neuseelands vor. Innerhalb eines

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Jahrhunderts manifestierte sich dort ein latentes genetisches Po- tential durch Umweltänderungen.

Diese epidemiologischen Verände- rungen vollzogen sich jedoch bei den verschiedenen polynesischen Bevölkerungsgruppen uneinheit- lich.

Individuelle Faktoren

Sozialfaktoren scheinen für die Ma- nifestation einer Gicht gegenwärtig bei uns ebenso bedeutungslos zu sein wie geographische, rassische oder klimatische Bedingungen.

Was die gesellschaftliche und be- rufliche Herkunft der Gichtpatien- ten betrifft, so galt früher die Gicht als „Arthritis divitum" im Gegen- satz zur primär chronischen Arthri- tis als „Arthritis pauperum". Oft kann gesteigerte Tatkraft zusam- men mit einer überdurchschnittli- chen Intelligenz für den Aufstieg disponierter Personen in eine privi- legierte Klasse mit der Möglichkeit eines Luxuskonsums verantwort- lich gemacht werden. Auch aus un- terentwickelten Ländern und aus Ländern des Ostblocks häufen sich in den letzten Jahren Berichte über ein rasches Ansteigen der Gicht- häufigkeit mit und seit Besserung der Ernährungsbedingungen. So entwickelte sich primäre Gicht in der Nachkriegszeit analog dem Diabetes mellitus und dem Myokard- infarkt von einer Krankheit des Wohlstandes, als die sie seit Hip- pokrates gegolten hat, zu einer echten Gefahr für die Volksgesund- heit. Gicht ist keineswegs ein „Ku- riosum" mehr, sie ist heute viel- mehr eine Krankheit der breiten Massen geworden.

Bewegungsarmut und Belastung Die Zunahme der manifesten Gicht dürfte nicht allein auf schädlichen Ernährungsbedingungen ein- schließlich Alkoholabusus und Fettleibigkeit beruhen. Vielmehr muß die zunehmende körperliche Inaktivierung als wesentlicher Fak- tor mit berücksichtigt werden, wo- durch die Anpassung der Serum-

harnsäurereaktion an körperliche Belastungen vermindert wird. Au- ßerdem spielen die ärztliche Ver- ordnung und ebenso die unkontrol- lierte Einnahme von Medikamenten mit hyperurikämisierender Neben- wirkung eine nicht zu unterschät- zende Rolle. Hier ist vor allem an die Einnahme von Thiazid-Salureti- ka zu denken, von denen in der Bundesrepublik allein wenigstens eine halbe bis dreiviertel Milliarden Tabletten jährlich abgesetzt wer- den.

Gerade nur bei geringer Penetranz und Expressivität des Erbschadens können diese Umweltfaktoren zur Manifestation einer Urikopathie füh- ren. Ohne sie würde die Gicht in diesen Fällen womöglich überhaupt nicht oder erst im hohen Lebens- alter klinisch manifest werden.

Gegenwärtig findet man bei jedem vierten bis fünften Erwachsenen, der in der Allgemeinpraxis er- scheint, eine Hyperurikämie. In 95 Prozent der Fälle handelt es sich dabei um eine primäre Form (Ba- bucke und Mertz 1974).

Gicht und Atherosklerose

Besondere Aufmerksamkeit ver- dient die primäre Gicht als schwe- re Allgemeinerkrankung. Die häufi- ge Kombination von primärer Gicht mit Bedingungen, die anerkannter- maßen als atherogen gelten, recht- fertigt die Feststellung, daß Gicht ein disponierender Faktor für die Entwicklung einer vorzeitigen Athe- rosklerose ist. Diese schon im ver- gangenen Jahrhundert vereinzelt vorgebrachte Meinung wurde in den letzten Jahren durch eine An- zahl neuer aufschlußreicher Befun- de aus Biochemie, Physiologie und Klinik einem Verständnis näherge- bracht.

Faktoren, welche die Entwicklung einer Atherosklerose begünstigen, sind bei Gichtpatienten in unver- hältnismäßig größerer Häufigkeit anzutreffen als unter der Allgemein- bevölkerung.

Nierenbeteiligung und Fettstoffwechselstörungen

Zusammentreffen von Adipositas mit Gicht findet sich bei weit mehr als 50 Prozent der Patienten, auch wenn man als Maß des Überge- wichtes erst ein Übersteigen des individuellen Idealgewichtes um mehr als 20 Prozent annimmt. In der Regel ist schon vor der Ent- wicklung der Gicht als Gelenker- krankung eine Nierenbeteiligung im Sinne einer Gichtnephropathie histologisch nachweisbar. Minde- stens bei der Hälfte der Fälle liegt ein mäßiger bis erheblicher arte- rieller Bluthochdruck bei Gichtne- phropathie vor. Bei bis zu 20 Pro- zent der Patienten mit Gicht be- steht ein manifester, meist nicht in- sulinbedürftiger Diabetes mellitus, und bei bis zu weiteren 35 Prozent kann eine abnorme Glukosetole- ranz im Sinne eines klinisch asymptomatischen Diabetes melli- tus erwartet werden.

Bei vielen Gichtkranken lassen sich ferner deutliche Störungen im Fettstoffwechsel als weiterer po- tentieller Faktor für die Entstehung einer frühzeitigen und schweren Atherosklerose nachweisen. Meist handelt es sich dabei um einen Typ IV der Hyperlipoproteinämie nach Fredrickson, auch wenn die Ge- samtlipidwerte in Einzelfällen noch in den sogenannten Normalbereich fallen. Wesentlich seltener wird Typ II b oder Typ V einer Hyperli- poproteinämie bei Gicht angetrof- fen. Typ II b stellt ebenfalls ein atherogenes Risiko dar. Allem An- schein nach ist die Hyperlipopro- teinämie bei Gicht weitgehend pri- märer Natur, wobei im Falle einer Typ-IV-Hyperlipoproteinämie die Höhe der Triglyzeridkonzentration im Serum für die Entwicklung koro- narer Veränderungen keine aus- schlaggebende Rolle spielt.

Beeinträchtigung der Leberfunktion

Die atherogene Wirkung einer Hy- per-prä-ß-Lipoproteinämie scheint nicht so sehr ein quantitatives als ein qualitatives Problem zu sein.

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Gicht

Erst in jüngster Zeit wurde nament- lich von einer Reihe deutscher Au- toren auf eine Beeinträchtigung der Leberfunktion bei Gichtpatien- ten hingewiesen. Meist findet sich bei Patienten mit erhöhten Blutfett- fraktionen, und zwar besonders von Triglyzeriden, eine Leberzell- verfettung, ohne daß eine klare Be- ziehung zwischen dem Grad der Leberzellverfettung und den Se- rumkonzentrationen von verester- ten und unveresterten Fettsäuren sowie von Gesamtlipiden nach- weisbar wäre. Eine Leberzellverfet- tung, zum Teil mit Mesenchymakti- vierung, läßt sich in etwa 60 bis 90 Prozent aller Gichtkranken nach- weisen, auch bei solchen, die nor- malgewichtig, normotensiv, keine Diabetiker und keine Alkoholiker sind.

Daraus erklärt sich, daß eine Er- krankung wie die primäre Gicht, die in einem so hohen Ausmaß mit Atherosklerose fördernden Begleit- erscheinungen einhergeht, selbst zu einem atherogenen Risikofaktor erster Ordnung werden kann. Die Summe aller Möglichkeiten, die bei Gichtpatienten das Risiko kardio- vaskulärer Störungen in sich ber- gen, bietet eine Erklärung für die schon lange gemachte Beobach- tung, wonach die meisten unbe- handelten Gichtpatienten nicht an den unmittelbaren Folgen des Grundleidens, sondern an kardio- vaskulären Störungen wie Myo- kardinfarkt, Apoplexie oder mali- gner Hypertension sterben.

Die sozialmedizinische Bedeutung der Gicht heute

Als therapeutisch sehr gut beein- flußbare angeborene Stoffwechsel- störung ist die primäre Gicht meist Gegenstand einer einmaligen Re- habilitation, solange keine schwere Niereninsuffizienz, Versteifungen, Kontrakturen und Fehlstellungen bestehen oder keine Amputation vorgenommen werden muß. Die Gicht steht damit in krassem Ge- gensatz etwa zu entzündlichen rheumatischen Leiden im engeren Sinne, die als weniger gut beein-

flußbare Erkrankungen zu Behin- derungen führen. Naturgemäß sind hier — ganz im Gegensatz zur Gicht — anhaltende intensive Be- mühungen zur Aufrechterhaltung einer wiederholt neu anzupassen- den Arbeitsfähigkeit beziehungs- weise zur Schaffung oder Beibehal- tung einer erträglichen Existenzfä- higkeit vonnöten.

Unter allen Rheumapatienten erfor- dern Gichtiker nicht zuletzt wegen der Vielschichtigkeit ihres Leidens und der dadurch bedingten vielsei- tigen Vorschriften den größten Auf- wand an Zeit und Mühen. Häufig ist eine gewaltige Portion Aufklä- rungsarbeit dem Hausarzt gegen- über und vom Hausarzt dem Pa- tienten gegenüber erforderlich.

Der Gichtiker sollte durch den Arzt und nicht durch die Laienpresse das Notwendige über sein Leiden, des- sen Verlauf, über die Art, Wir- kungsweise und Wirkungsgrenze der Dauermedikation sowie über zu meidende Verhaltensweisen er- fahren. Auf diese Weise wird sein Vertrauen zur Medikation und zum Arzt und schließlich sein Selbstver- trauen gestärkt. Weiter wird einer neurotischen Fehlentwicklung vor- gebeugt, der Patient lernt mit sei- ner Krankheit zu leben und deren Verlauf durch eigene Entscheidun- gen günstig zu beeinflussen.

Während das Problem der Schmerzverarbeitung beim Gichti- ker dank moderner therapeutischer Möglichkeiten weitgehend in den Hintergrund getreten ist, sollte der Überwachung von Dauertherapie, Krankheitsverlauf und Verhaltens- weise des Patienten die größte Aufmerksamkeit geschenkt wer- den. Vor allem muß dem Patienten klargemacht werden, daß durch medikamentöse Maßnahmen die angeborenen Stoffwechseldefekte überhaupt nicht und deren Auswir- kungen nur für die Zeit der Medi- kamenteneinnahme beeinflußt wer- den. Weiter muß der Patient wis- sen, daß ein günstiger Verlauf der Erkrankung nur durch aktive Mitar- beit und Zuverlässigkeit seinerseits zu erwarten ist.

Allzuoft erleben wir, daß die gute Beeinflußbarkeit der Gicht als Ge- lenkerkrankung heute viele Kranke veranlaßt, nach Erzielung einer Be- schwerdefreiheit die Dauertherapie eigenmächtig abzusetzen. In der Mehrzahl geschieht das bei Patien- ten, die von ihrem Arzt nicht oder nicht genügend auf die Gefahren eines derartigen Verhaltens auf- merksam gemacht worden sind.

Beim Auftreten eines Gichtanfalles muß die Dauertherapie fortgesetzt und durch eine spezielle Anfalls- therapie ergänzt werden. Ohne Be- wegungstherapie sind Prophylaxe und Therapie der Gicht als Gelenk- und Allgemeinerkrankung unvoll- ständig. Orthopädische Interven- tion mit dem Ziel einer Verhütung oder Beseitigung von Fehlstellun- gen oder Kontrakturen spielt heute bei Gicht keine große Rolle mehr.

Operative Rehabilitation hat teils präventive Funktion, teils dient sie der Wiederherstellung, beispiels- weise im Falle großer Gichtknoten, die durch konservative Therapie al- lein nur langsam eingeschmolzen werden und immer wieder zu Gichtanfällen Anlaß geben oder die Beweglichkeit behindern. Immer wieder macht man die Beobach- tung, daß Gichtkranke in Unkennt- nis der Sachlage und mangels ge- eigneter Therapiemaßnahmen un- nötig lange arbeitsunfähig ge- schrieben werden. Eine erhöhte BSG ist noch lange kein Grund für Arbeitsunfähigkeit. Viele Patienten können trotz einer gewissen ent- zündlichen Aktivität ihres Leidens bei sachgerechter Behandlung be- rufsfähig bleiben. Unter adäquater Therapie sollte eine akute Gichtat- tacke höchstens eine Woche Ar- beitsunfähigkeit bedingen. Natür- lich ist die Frage nach dem Grad der zumutbaren Arbeitsleistung eng mit den für die Gicht charakte- ristischen Eigenschaften verknüpft:

Häufigkeit und Dauer der Anfälle;

Verlauf der Intervalle; jeweiliges Stadium der Erkrankung; Lokalisa- tion und Intensität der Funktions- störungen und vor allem Manifesta- tion als Allgemeinkrankheit.

Totale Invalidität ist selten, vor al- lem im Vergleich zur unbehandel-

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ten, minderbehandelten oder fehl- behandelten primär chronischen Polyarthritis. Vorzeitige lnvalidisie- rung dürfte bei Gicht heute zu den Ausnahmen zählen. Sie hat sich auf Fälle mit umfangreichen irrepa- rablen und nicht mehr kompensier- baren Dauerschäden zu beschrän- ken.

Zu solchen Dauerschäden gehört auch schwere Niereninsuffizienz bei jahrzehntelanger Gichtnephro- pathie. Im allgemeinen wird man bei niereninsuffizienten Gichtkran- ken mit ebenso vielen kompli- zierenden Bedingungen wie schwerer Hochdruck, Herzinsuffi- zienz, Ödemneigung, zerebro-vasku- lären Durchblutungsstörungen usw.

zu rechnen haben wie beim nie- reninsuffizienten Diabetiker.

Unter diesen Umständen ist die Mehrzahl aller niereninsuffizienten Gichtiker für eine Aufnahme in das Programm eines Dialysezentrums von vornherein nicht oder nur schlecht geeignet. Die chronisch rezidivierende Pyelonephritis bei Gicht schränkt die Erwerbsfähigkeit selbst im Zustand einer leichten kompensierten Retention harn- pflichtiger Stoffe nur geringgradig ein.

Im Falle einer rezividierenden Urat- nephrolithiasis, die in etwa 20 Pro- zent aller Gichtkranken aufzutreten pflegt, sollten Hitzearbeiten wegen der Gefahr einer erneuten Ausfäl- lung von Konkrementen durch Ex- sikkose vermieden werden. Bei Pyelonephritis wird sich ein Berufs- wechsel des öfteren nicht vermei- den lassen, will man die Gefahr vermehrter Infektionen ausschalten und schwere körperliche Anstren- gungen oder Tätigkeiten, die eine Gefährdung für den Patienten sind, von diesem fernhalten. Gichtkranke sollten lediglich bei sogenannten viszeralen Komplikationen statio- när eingewiesen werden, das heißt nur bei Vergesellschaftung der Gicht mit Veränderungen, welche die Gicht zur Allgemeinkrankheit werden lassen, oder bei schweren, nur chirurgisch zu beherrschenden Lokalveränderungen.

Als viszerale Komplikationen möchte ich nennen: schwere Hy- pertension, atherosklerotische Durchblutungsstörungen, Exazer- bation einer Gichtnephropathie be- ziehungsweise einer Fettleber, schlecht eingestellten Diabetes mellitus, Adipositas per magna und manisch-depressive Phasen. Wenn bei einem Gichtiker zusätzlich eine Störung der Kohlenhydratstoff- wechsellage vorliegt, dann ist im Hinblick auf die Berufswahl und die Beschäftigung nach dem vom Ausschuß für Sozialmedizin der Deutschen Diabetes-Gesellschaft unter dem 5. Februar 1971 ausge- arbeiteten Richtlinien für die Be- schäftigung von Diabetikern, beson- ders als Beamte im öffentlichen Dienst, zu verfahren.

Früherkennung, Frühbehandlung, Ausmaß und Spektrum der Begleit- krankheiten, Breite und Wirksam- keit der ‚therapeutischen Maßnah- men, ärztliches Engagement sowie Mitarbeit und Zuverlässigkeit des Patienten bestimmen schließlich die Prognose der Gicht als Allge- meinkrankheit. Als Gelenkerkran- kung kann die Gicht unter optima- len Voraussetzungen als besiegt gelten.

Bleibt zu hoffen, daß es uns in Zu- kunft gelingt, das Dunkel um die Ätiologie der Gicht auf molekularer Ebene zu erhellen, um Einblicke in die nur geahnten Interrelationen im Stoffwechsel von Harnsäure, ge- wissen Fettkörpern und Kohlenhy- draten zu gewinnen.

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. D. P. Mertz Kurklinik am Park

4934 Horn-Bad Meinberg 2 Postfach 23 40

Diagnostik

Frühkarzinome des Magens kön- nen dank verfeinerter röntgenologi- scher und endoskopischer Diagno- severfahren bei bereits relativ ge- ringer Ausdehnung nachgewiesen und einer operativen Therapie zu- geführt werden. Nur wenn das tu- moröse Wachstum maximal bis zur Submukosa reicht, ist der Termi- nus Frühkarzinom, in dem noch Aussicht auf Heilung besteht, ge- rechtfertigt. Fahndet man nach ei- nem Magenfrühkarzinom röntgeno- logisch, muß man die dosierte Kompression, die Doppelkontrast- methode, die Relieftechnik und die Prallfüllung durchführen. Mit der einfachen Gastroskopie erzielt man eine hohe Trefferquote. Rund 5 Mil- limeter bei vorgewölbten und etwa 10 Millimeter bei eingesenkten Lä- sionen sind die Grenzwerte der Er- kennbarkeit der röntgenologischen und endoskopischen Verfahren. cb (Wesseler, Th.: Röntgen-BI. 28 [1975] 18-26)

Bei multiplen Verschlußprozessen relativ junger Patienten sind gute Dauerergebnisse möglich, wenn systematisch angiologisch durch- untersucht und konsequent gefäß- chirurgisch behandelt wird. Ein 48jähriger Mann mit rechtsseitiger Nierenarterien-Stenose und reno- vaskulärem Hochdruck erlitt unter der antihypertensiven Therapie ei- nen apoplektischen Insult. Als Ur- sache wurde ein Totalverschluß der rechten Aorta carotis interna gefun- den. Gleichzeitig bestanden Steno- sen der rechten Aorta vertebralis, der linken Aorta carotis communis und der linken Aorta carotis in- terna. Nacheinander erfolgten Thrombendarteriektomie der rech- ten Aorta carotis interna, subklavio- karotidealer Bypass links und Thrombendarteriektomie der lin- ken Aorta carotis interna sowie aorta-renaler Bypass rechts. Der Blutdruck konnte gesenkt werden, neurologische Symptomatik trat nicht mehr auf, der Patient ist wie- der arbeitsfähig. he (Gruß, J. D., v. Cube, B., Bartels, D.: Münch. med. Wschr. 117 [1975]

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