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Archiv "Diagnose „Berufskrankheit“: Fingerspitzengefühl erforderlich" (22.03.2002)

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T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 12½½½½22. März 2002 AA769

D

ie Beratung, ein Mittelpunkt ärzt- lichen Handelns, wird vom Kran- ken erwartet und kann eingefor- dert werden. Ihr Inhalt ist wichtiger Be- standteil der Beziehung zwischen Arzt und Patient, vermittelt sie doch nicht nur ärztliches Wissen, sondern auch die Fürsorge des Arztes für das Sozial- schicksal seines Patienten. Dabei läuft er jedoch Gefahr, missverstanden zu werden und beim Patienten Überlegun- gen und Handlungen anzustoßen, die das Ziel der Beratung verfehlen.

Solche Risiken betreffen auch das ärztliche Gespräch bei Verdacht eines Zusammenhangs zwischen Arbeitsplatz und Befindensstörungen. Die Vermu- tung, dass die Einflüsse der beruflichen Tätigkeit und ihres Umfeldes einen Krankheitszustand ausgelöst haben, kann vom Arzt oder vom Patienten kom- men. Die Rolle des Arztes als Berater in dieser Situation ist dann zugleich ein Prüfstein für sein kritisches Urteilsver- mögen und fachliches Können, geht es doch schon im Vorfeld einer Verdachts- anzeige zu Händen eines Unfallversiche- rungs-(UV-)Trägers wegen des Vorlie- gens einer Berufskrankheit (BK) um die Frage, ob dieser Verdacht eine nachvoll- ziehbare Grundlage hat („begründeter Verdacht“ nach § 202 SGB VII). Für eine schnelle Entscheidung des Arztes sind die Zusammenhänge oft zu undurchsich- tig. Nur in einer kleineren Zahl der Fälle sind bei Berufskrankheiten – anders als im Unfallgeschehen – Ursache und Wir- kung medizinisch eindeutig (zum Bei- spiel beim Bäckerasthma).

Die Schwierigkeit des Arztes, der ei- nen BK-Verdacht hegt, dies mit wissen- schaftlichen Mitteln belegen zu kön- nen, liegt in vielen Fällen in der Unvoll-

ständigkeit seines Informationsstands zur Arbeitsanamnese begründet. Da er noch vor Beginn des vom UV-Träger einzuleitenden Feststellungsverfahrens tätig wird, ist er weitgehend von den Angaben seines Patienten zum Sach- verhalt abhängig. Dies ist eine schwieri- ge Position. Er könnte sie festigen, wenn er ergänzende Daten zur Verfügung hätte.

Möglich sind verschiedene Vorge- hensweisen, die zum Teil problematisch sind.

❃Der Patient trägt dem behandeln- den Arzt sein Beschwerdebild mit dem Hinweis auf einen von ihm angenom- menen Arbeitsplatzbezug vor. Dieser bestätigt den Verdacht, da er ihn für hinlänglich begründet hält. Weiter- führende Erkenntnisse aus anderen Quellen werden von ihm nicht beigezo- gen. Mit der Schilderung der Arbeits- vorgänge beziehungsweise der Arbeits- stoffe, die von ihm als Auslöser einer Berufskrankheit genannt werden, ver- deutlicht der Patient zugleich seine Er- wartung, als Berufskranker mit Ent- schädigungsansprüchen gegenüber dem UV-Träger anerkannt zu werden. Er rechnet mit einer unterstützenden Stel- lungnahme des Arztes zu seinem Vor- trag. Eine gewisse Ungeduld auf Zu- stimmung zum Zusammenhang wird dabei im Gespräch für den Arzt spür- bar. Seine Entscheidung fällt hiernach spontan: Er erstattet eine BK-(Ver- dachts-)Anzeige. Das BK-Feststellungs- verfahren nimmt seinen Lauf.

Die weitere Entwicklung wird da- durch bestimmt, dass sich der Patient bereits durch den Ausgang dieses Ge- sprächs mit seinem Arzt in der Auffas- sung bestätigt sieht, es liege ein direkter Zusammenhang mit einer Berufskrank- heit vor, der eine Anerkennung seitens Arzneimittelherstellern offen legen. Als

Experten tragen wir eine hohe Verant- wortung. Diese schließt ein, dass wir uns an der Prüfung neuer Medikamente beteiligen und uns für die Durchsetzung wirksamerer und nebenwirkungsärme- rer Präparate engagieren. Es bedeutet aber nicht, dass wir vor lauter Begeiste- rung den gesunden Menschenverstand an der Garderobe abgeben.

Ich halte selber gelegentlich Vorträ- ge bei industriegesponserten Veranstal- tungen. Ich freue mich, wenn ein Phar- maunternehmen meine Bücher kauft, und gehöre einem industriegesponser- ten Diskussionskreis an. Auch wäre beispielsweise der Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Kri- senintervention und Suizidprophylaxe, deren Vizepräsident ich bin, ohne Un- terstützung kaum möglich. Ich bin da- von überzeugt, dass die Beziehungen zwischen Arzneimittelherstellern und -verordnern wichtig sind. Allerdings

muss es so etwas wie ein ökonomisches Gleichgewicht geben. Ist dies nicht vor- handen, ist Unabhängigkeit eine Illu- sion.

Es sind im Übrigen nicht Auswüchse, die mich zum Nachdenken veranlasst haben. Hellhörig hat mich eine Presse- meldung gemacht, wonach ein renom- mierter Arzneimittelhersteller, der aty- pische Neuroleptika vertreibt, einen Kooperationsvertrag mit dem Deut- schen Verband der Angehörigen psy- chisch Kranker geschlossen hat. Das Echo in der Öffentlichkeit war positiv.

Bei mir hat diese Meldung ein unange- nehmes Gefühl in der Magengrube aus- gelöst.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2002; 99: A 766–769 [Heft 12]

Das Literaturverzeichnis befindet sich im Internet unter der Adresse www.aerzteblatt.de Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Asmus Finzen Psychiatrische Universitätsklinik Wilhelm-Klein-Strasse 27, CH-4025 Basel

Telefon: 00 41 61 325 56 46, Fax: 1141 61 325 55 82 E-Mail: Asmus.Finzen@pukbasel.ch

„There is no such Thing as a free Lunch.“ (Val McDermid:

Report from Murder)

Diagnose „Berufskrankheit“

Fingerspitzengefühl erforderlich

Bei Verdacht auf Vorliegen einer Berufskrankheit

sollte der Arzt vermeiden, vorschnell Fakten zu schaffen.

Ernst Stresemann

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des UV-Trägers unabweisbar mache („Mein Arzt hat es ja schon bestätigt!“).

Hierfür wird er fortan mit allen Rechts- mitteln kämpfen. Allerdings sollte man festhalten, dass der Patient zwar eine Bestätigung seines Konzepts durch den Arzt sucht, aber nicht von vornherein überzeugenden Gegenargumenten un- zugänglich ist.

❃ Im Regelfall sollte das kritisch ab- wägende Gespräch zwischen Arzt und Patient noch die Chance bieten, dem Geschehen einen sachlich besser be- gründeten Lauf zu geben, vorausge- setzt, die Zusammenhänge sind nicht bereits prima vista so eindeutig, dass ohnehin kein vernünftiger Zweifel ge- gen sie aufkommen kann.

Wie aber sollte der Arzt im Zweifels- fall vorgehen? Der wichtigste Grund- satz ist – wenn immer möglich – die Bei- ziehung von zusätzlicher Information über die Umstände, die den Patienten zu der Annahme einer berufsbedingten Erkrankung führten. Informationen können vom Arbeitgeber (falls dieser Auskunft gibt) kommen oder sich aus einer vertrauensvollen Kontaktnahme mit dem Berufshelfer des zuständigen Unfallversicherungsträgers ergeben.

Wenn ein Betriebsarzt tätig ist, ist er der geeignete Ansprechpartner. Verbin- dung kann aber auch mit einem arbeits- medizinisch tätigen Arzt beziehungs- weise einer betriebsärztlich-arbeitsme- dizinischen Einrichtung aufgenommen werden.

Durch zurückhaltende Prüfung wird Sicherheit über den Sachverhalt gewon- nen, den der Patient zur Grundlage sei- nes Beschwerdevortrags machte. Denn viele Arbeitsplatzverhältnisse in mo- dernen Industriebetrieben – und aus diesen stammt die Mehrzahl „undurch- sichtiger“ Verdachtsfälle einer Berufs- krankheit – bringen eine anhaltende und wiederholte physische Belastung mit sich. Nicht zu vergessen sind auch die psychischen Belastungen am Ar- beitsplatz, die sich sehr unterschiedlich in körperlichen Symptomen äußern können (somatoforme Störungen und dergleichen) und deren körperliches Projektionsfeld (Somatisation) dann zur Annahme des Vorliegens einer Be- rufskrankheit führen kann.

Sind die Voraussetzungen hingegen nicht hinlänglich eindeutig – und nur in

einem kleineren Anteil der Fälle kann der Arzt schon im ersten Gespräch mit seinem Patienten einen BK-Verdacht aufgrund eindeutiger Zusammenhänge vorbehaltlos teilen –, kann eine ab- wartend prüfende und beratende Ge- sprächsführung anstelle einer sponta- nen unkritischen Zustimmung zum Pa- tientenvortrag einer späteren „Michael Kohlhaas“-Einstellung des Patienten gegenüber einem Feststellungsverfah- ren, das seine Erkenntnisse nicht be- stätigt, zuvorkommen. Misslingt dies, muss damit gerechnet werden, dass die weitere Entwicklung die Akten von UV-Trägern, Rechtsanwälten und Ge- richten füllen wird.

❃ Eine andere, ebenfalls typische Situation kann aus einem Übereifer

des Arztes entstehen, den UV-Träger über ein Krankheitsbild, in dem er le- diglich gewisse Anhaltspunkte für ei- ne Berufskrankheit antraf, zu infor- mieren. Nicht selten geschieht dies an- lässlich von Krankenhausbehandlun- gen oder von klinischen Kuren, ohne dass der Patient in diesen Fällen selbst einen entsprechenden Verdacht hatte.

In anderen Fällen stößt ein neuer Hausarzt auf einen Sachverhalt, der ihn – anders als seinen Vorgänger – erstmals eine Berufskrankheit vermu- ten lässt. Auch hier darf nicht als er- ster Schritt das grüne Formular, die

„ärztliche Anzeige einer Berufskrank- heit“, ausgefüllt und dem zuständigen UV-Träger zugeleitet werden. Es gilt vielmehr der gleiche Grundsatz: Erst im eingehenden Gespräch mit dem Patienten sorgsam prüfen und dann ent- scheiden! Arbeitsmedizinische Kennt- nisse müssen dabei federführend sein.

Wer hingegen seinem Patienten ex ca- thedra mitteilt, bei ihm liege eine BK vor, hat nicht bedacht, dass der Patient nun erwartet, die Erkenntnisse des Arztes seien zutreffend und führten unumstößlich zur Anerkennung als Berufskrankheit.

Nur wenn der Lauf des Feststellungs- verfahrens dies bestätigt, wird er zufrie- den sein. Eine fehlende Bestätigung wird er hingegen weder verstehen noch akzeptieren, weil der Arzt ihm zuvor schon zugesichert habe, er sei berufs- krank.

Von besonders großer Tragweite kann der Ausgang eines solchen Bera- tungsgespräches sein, wenn der Patient hieraus schlussfolgert oder vom Arzt darin bestärkt wird, künftig nicht mehr an den alten Arbeitsplatz zurückkehren zu können, ohne dass offensichtlich un- verkennbar und zweifelsfrei gesicherte Ursachenzusammenhänge vorliegen.

Es werden andernfalls Tatsachen geschaffen, deren sozialmedizinische Konsequenzen für den Betroffenen un- umkehrbar und schwerwiegend werden können, wenn sich im Laufe des Fest- stellungsverfahrens der Verdacht einer Berufskrankheit nicht bestätigt, der Pa- tient aber seine Arbeit ohne eine Alter- native inzwischen aufgegeben hat.

Schadensbegrenzung kommt dann zu spät.

Im sozialrechtlichen Bereich betrifft der Schaden überwiegend die sich oft langwierig hinziehende Inanspruchnah- me von öffentlichen Mitteln aus einem zum Streitfall gewordenen Feststel- lungsverfahren.

Schwerer wiegt hingegen der sozial- medizinische und der soziopsychologi- sche Schaden für den Betroffenen, wenn er sich – wie nicht selten – verbit- tert zurückzieht oder gegen eine Welt von vermeintlichen Widersachern kämpft. Diesen Schaden gilt es zu ver- hindern, weil er das Leben des Betrof- fenen dauerhaft belastet und in wesent- lichen materiellen und seelischen Be- reichen entwertet.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2002; 99: A 769–770 [Heft 12]

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Ernst Stresemann Institut für Arbeits- und

Sozialmedizinische Allergiediagnostik Parkstraße 40 und 46, 32105 Bad Salzuflen T H E M E N D E R Z E I T

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A770 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 12½½½½22. März 2002

Viele Arbeitsplatzverhältnisse bringen eine an- haltende physische Belastung mit sich.

Foto: HVBG/Danetzki

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