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Archiv "Evaluation: Über den Nutzen von Kuren für chronisch Kranke" (21.04.2000)

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uren, medizinische Vorsorge- leistungen und Rehabilitati- onsmaßnahmen für Erwach- sene im Klimabereich der Nordsee sind mit verschiedenen Indikationen bei Patienten mit chronischen Erkran- kungen (unter anderem chronische Erkrankungen der Atemwege, chro- nisch-rezidivierendes Infektgesche- hen, chronische Herz-Kreislauf-Er- krankungen, Stoffwechsel-Erkrankun- gen, Erkrankungen aus dem Bereich des Halte- und Stützapparates, als un- terstützende Maßnahme bei verschie- denen anderen Grunderkrankungen) seit vielen Jahren etabliert. Sie stellen für Krankenkassen und Rentenver- sicherungsträger einen nicht unerheb- lichen Kostenfaktor dar.

Den zahlreichen individuellen Erfahrungen vieler Kurinstitutionen und vieler Kur-Ärzte, die in

diesem Bereich aktiv sind, und den individuellen Erfah- rungen vieler betroffener chronisch Kranker stehen nur wenige, solide evaluierte Erkenntnisse über den Er- folg von Kuren und ihrer eventuellen, dafür verant- wortlichen Gründe gegen- über. In der heutigen Ge- sundheitspolitik haben sich aber therapeutische, rehabi- litative und präventive Maß- nahmen zunehmend den Fragen von Aufwand und Ertrag zu stellen. Diese Stu- die kann als Beleg dafür gel- ten, dass mit relativ gerin- gem Aufwand solchen Fra- gen mit Methoden der empi- rischen Sozialforschung nach- gegangen werden kann.

Mittels eines postalisch versende- ten, strukturierten Fragebogens wur- den GKV-versicherte Erwachsene mehrerer Kur-Jahrgänge (1992–1998), die sich im Rahmen einer Kur-Maß- nahme in St. Peter-Ording an der Nordsee in einer Kureinrichtung auf- gehalten hatten, zum Kurergebnis nachbefragt. 1 600 Fragebögen, die ei- ne Rücklaufquote von circa 60 Prozent repräsentierten, wurden in der Aus- wertung erfasst. 80 Prozent der Befrag- ten waren 50–80 Jahre alt, 60 Prozent männlich, 57 Prozent aller Befrag- ten waren übergewichtig, 15 Prozent adipös bis sehr adipös.

86 Prozent der Befragten waren zum ersten Mal zu einer Kur-Maßnah- me in der untersuchten Einrichtung.

Die Kur-Dauer betrug in der Regel bis 1996 4 Wochen (72 Prozent), ab 1997

dann 3 Wochen (25 Prozent). Als Kur- grund wurden von den Befragten vor- nehmlich Atemwegs-Erkrankungen, Rückenerkrankungen, häufige Infek- te und Hauterkrankungen genannt (Tabelle). Die Erkrankungen bedeute- ten für die Mehrzahl der Befragten ei- nen hohen bis sehr hohen Belastungs- grad, und die Kur-Intervention hatte vornehmlich rehabilitativen und nur in einem geringen Prozentsatz (7 Pro- zent) präventiven Charakter. Die Not- wendigkeit für die Kur-Maßnahme wurde vornehmlich von den behan- delnden Ärzten gesehen (72 Prozent), weniger von den Befragten selbst.

Haupt-Ratgeber für die Kurortaus- wahl waren die behandelnden Ärzte (46 Prozent) und die Krankenkassen (44 Prozent), für die Wahl der eigentli- chen Kur-Einrichtung vor allem die Krankenkassen (62 Prozent).

Kur-Setting

Das Kur-Setting bestand vor- nehmlich aus den Möglichkeiten der ortstypischen, natürlichen und klimati- schen Bedingungen (Aktivitäten im Freien), physiotherapeutischen Stan- dard-Angeboten, gesundheitspädago- gischen und bewegungsorientierten Elementen, die nach individueller ge- sundheitlicher Problemstellung nach ärztlichem Kur-Plan organisiert waren.

Die Kur-Gestaltung der Befragten war unterschiedlich: 40 Pro- zent orientierten sich vor- nehmlich am ärztlichen Kur- Plan, „nach eigenen Vorstel- lungen“ gestalteten die Kur nur 4 Prozent. Die größte Gruppe (56 Prozent) ver- suchte jedoch, den ärztlichen Kurplan mit eigenen Vorstel- lungen zu verbinden. Insge- samt wurde von den ver- schiedenen Angeboten und Möglichkeiten in und während der Kur vieles, und dies auch häufig, wahrge- nommen. Besonders häufig wurden eigene Aktivitäten (zum Beispiel Spaziergänge) gewählt sowie Gebrauch von ärztlichen Informationen, den Bewegungsprogrammen und den physiotherapeuti- schen Anwendungen ge- A-1049 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 16, 21. April 2000

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Evaluation

Über den Nutzen von Kuren für chronisch Kranke

Ein Beitrag mit Mitteln der empirischen Sozialforschung zum Kurwesen im Klimabereich der Nordsee

Walter Samsel

K

Tabelle

Kurgrund Prozent (n = 1 600)

Chronische Rückenbeschwerden, Bandscheibenleiden 40

chronische Bronchitis/ständiger Husten . . . 37

Bronchialasthma. . . 36

Gelenkbeschwerden/-arthrose (Hüfte, Knie, Schulter) . . . 23

häufige Infekte . . . 20

Bluthochdruck. . . 19

Hauterkrankungen, z. B. Ekzem/atopische Dermatitis . . . 14

Kreislaufstörungen. . . 14

Durchblutungsstörungen, Arteriosklerose . . . 13

Schlafstörungen . . . 13

Gemütsleiden, depressive Verstimmungen. . . 11

Herzkranzgefäßverengung . . . 6

Zuckerkrankheit/Diabetes mellitus . . . 6

Gicht/erhöhte Harnsäure . . . 4

Zustand nach Herzinfarkt . . . 3

Weitere Krankheitsangaben. . . 32

(Mehrfachnennungen waren möglich)

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macht, weniger von geselligen oder ge- sellschaftlichen Veranstaltungen so- wie von Ernährungsinformationen.

Der Kur-Erfolg chronisch kranker Erwachsener bei dem in der untersuch- te Einrichtung praktizierten Kur-Sy- stem ist sehr hoch. Diese Aussage be- zieht sich sowohl auf den Zustand und die Qualität der gesundheitlichen Si- tuation nach der Kur als auch auf das zeitliche Ergebnis der gesundheitlichen Besserungen. Bei insgesamt mehr als 90 Prozent der Befragten hat

sich der Gesundheitszustand gebessert, wobei von 52 Pro- zent „deutlich gebessert“ an- gegeben wurde, von weiteren 40 Prozent „etwas gebes- sert“. „Unverändert“ waren 7 Prozent, „verschlechtert“

wurde in weniger als 1 Pro- zent angegeben.

36 Prozent der Be- fragten profitierte von der gesundheitlichen Besserung durch die Kur länger als ein Jahr, weitere 33 Prozent zwi- schen ½ bis 1 Jahr, 23 Pro- zent 6 Wochen bis 6 Monate und die restlichen 8 Prozent bis zu 6 Wochen.

Die Verbesserungen zeigten sich durch vermin- derte Besuchsfrequenzen bei den behandelnden Haus- oder Fachärzten (bei 47 Pro- zent), durch deutliche Ein- sparungen von Medikamen- ten (bei 40 Prozent), durch weniger Fehlzeiten im Be- trieb bei den Berufstätigen (bei 33 Prozent) sowie hohe Zugewinne an Lebensqua- lität (bei 45 Prozent) und -freude nach der Kur. Die

Angabe „weniger Medikamente“ ist besonders hoch bei Befragten mit chronischer Bronchitis und häufigen Infekten (fast 50 Prozent). Besonders günstig sehen die Erfolge bei Befrag- ten mit chronischer Bronchitis, mit re- zidivierenden Infekten und Haut- krankheiten aus, jedoch ist ausdrück- lich festzuhalten, dass der Erfolg für al- le Erkrankungen offenkundig ist. Kur- Erfolge sind bei den eher jüngeren Kurpatienten (40- bis 60-Jährige) höher als bei den eher älteren Kurpatienten.

Der Kur-Erfolg korreliert mit der Dauer der Kur und liegt bei der bis

1996 üblichen vierwöchigen Kur in al- len Antwortvorgaben zur Erfolgs- schätzung und -dokumentation deut- lich höher als bei einer dreiwöchigen Kur-Dauer. Rückgang der Häufigkeit von Arztbesuchen, Einsparung von Medikamenten, weniger Fehlzeiten im Betrieb zeigen gleichermaßen den vorteilhaften Effekt einer längeren Kur-Dauer (Grafik 1). Das Ergebnis spricht deutlich für eine mindestens vierwöchige Kur-Dauer.

Der Kur-Erfolg zeigt sowohl Ab- hängigkeiten von der Kur-Dauer als auch von der gesundheitlichen Störung selbst und ist besonders hoch bei Hauterkrankungen, häufigen Infekten, chronischer Bronchitis und Gefäßer- krankungen. Aus der Studie ergibt sich weiterhin, dass der Kur-Erfolg unter anderem auch davon abhängig ist, wie aktiv die Befragten die Kur gestaltet und die Angebote genutzt haben. Be- fragte, die die Möglichkeiten des Kur- Angebotes und der verschiedenen Kur- Elemente möglichst breit in Anspruch genommen haben, zeigen einen eher

höheren Kur-Erfolg. Unterschiede im Kur-Erfolg (Kategorie „deutlich gebes- sert“) ergeben sich auch bei unter- schiedlicher Kur-Planung. Die höch- sten Angaben (55 Prozent „deutlich ge- bessert“) finden sich bei Befragten, die versucht haben, eigene Vorstellungen und den ärztlichen Kurplan zu verbin- den, 49 Prozent waren es bei der An- gabe „nur nach ärztlichem Kurplan“

und 41 Prozent bei der Angabe „eher frei nach eigenen Vorstellungen“.

Der sehr allgemeine Aspekt des „Sichwohlfüh- lens“ scheint hinsichtlich des Kur-Erfolges von besonderer Bedeutung zu sein. Befragte, die der Antwortvorgabe „ich habe mich da sehr wohl ge- fühlt“ zugestimmt haben, si- gnalisieren einen überdurch- schnittlichen Kur-Erfolg.

Als besonders wichtig für den gesundheitlichen Erfolg der Kur-Maßnahme wurden von den Befragten vor allem die klimatische Situation am Kurort (91 Prozent), die eige- nen Aktivitäten (88 Prozent) und die ärztliche Betreuung (81 Prozent) gewertet. Das gesamte Kur-Programm und einzelne Kur-Mittel wurden zwar ebenfalls hoch, aber nachrangig beurteilt.

Die Zustimmung zum Konzept, zur Form, zum In- halt der Kur sowie zum Kurort und der untersuchten Kurinstitution durch die Be- fragten ist sehr hoch. Der positive Kur-Effekt drückt sich nicht zuletzt auch darin aus, dass 92 Prozent der Befragten noch einmal eine Kur an der Nordsee machen würden.

Die Kur-Effekte und Kur-Erfolge sind wahrscheinlich in der Gesamtheit der Maßnahme und im gesamten Set- ting begründet. Die Studie belegt die hohe Bedeutung eines integrierten Leistungskonzeptes mit den verschie- denen klassischen ortsungebundenen und ortsgebundenen Elementen der Kur. Ruhe- und Erholungseffekte, körperliche Aktivitätsanreize, subjek- tives Wohlfühlen in der Kursituation, eigene Vorstellungen der Kurgestal- tung durch die Kurpatienten selber scheinen neben den engeren medizini- A-1050 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 16, 21. April 2000

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Grafik 1

40 35 30 25 20 15 10 5 0

11 6

31 21

33 33

24 40

bis zu 6 Wochen bis zu 6 Monate 6–12 Monate >1 Jahr

Prozent

Kurdauer und Dauer der gesundheitlichen Besserungen

3 Wochen (n = 336) 4 Wochen

(n = 998)

Grafik 2

Weniger Fehlzeiten im Betrieb Lebensqualität verbessert Weniger Medikamente Weniger Arztbesuche Gesundheitliche Besserung mehr als 1 Jahr Deutlich gebessert

Prozent 0 10 20 30 40 50 60

Kurdauer und Erfolgskriterien 4 Wochen(n = 998)

3 Wochen (n = 336)

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schen Inhalten für den Kur-Erfolg nicht minder wichtig. Vielfältige Aus- einandersetzungen und Reaktionen mit der sozialen, therapeutischen und der natürlichen Umwelt, gesund- heitspädagogische Elemente, ärztliche Beratung et cetera scheinen für den Kur-Erfolg des Einzelnen mit unter- schiedlicher Schwerpunktsetzung in komplexer Verwebung insgesamt für den Erfolg verantwortlich zu sein. Die Verarbeitung dieser vielen, häufig viel- und verschiedengestaltigen Begegnun- gen, der Wechsel zwischen Aktivität und Ruhe, zwischen Anforderung an Körper und Seele und ihrer kontrastie- renden Entspannung scheint bei den meisten Kurpatienten der hier unter- suchten Einrichtung in hohem Maße und langfristig erfolgreich zu verlau- fen. Insgesamt, so scheint es, ist also eher das Zusammenwirken der ver- schiedenen Faktoren als förderliche Bedingung für die Gesundheit, für die Kompetenz und die Ressourcen von Kranken im Umgang mit chronischen Krankheiten anzusehen und weniger die Spezifität einer einzelnen Maßnah- me. So lässt sich zusammenfassend aus der Untersuchung trotz diskutierbarer inhaltlicher und methodologischer Probleme schlussfolgern, dass Kur- Maßnahmen bei Erwachsenen als In- terventionskonzept bei chronischen Erkrankungen für die Betroffenen durchaus einen gesundheitlichen und wahrscheinlich auch einen ökonomi- schen Nutzen stiften.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1999; 97: A-1049–1052 [Heft 16]

Mein Dank gilt den Köhlbrand-Einrichtungen der Norddeutschen Diakonie in St. Peter-Or- ding sowie der Gmünder Ersatzkasse (GEK), ohne deren Unterstützung diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Mein weiterer Dank gilt Prof. Rainer Müller (Universität Bremen) für die kritische Durchsicht des Manuskriptes.

Die Langfassung der Studie sowie das Litera- turverzeichnis kann über den Verfasser ange- fordert werden.

Anschrift des Verfassers Dr. med. Walter Samsel

Institut für Gesundheit, Sport und Ernährung; Zentrum für Sozialpolitik Universität Bremen

Postfach 33 04 40, 28334 Bremen

A-1052 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 16, 21. April 2000

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE/BERICHTE

Gesetzliche Krankenversicherung

Stiller Abschied vom

„medizinisch Notwendigen“

Budgetierung und Leistungsausschlüsse sind in der

medizinischen Versorgung der GKV-Patienten längst Alltag.

Zahlen die Krankenkassen dennoch alles, was aus ärztlicher Sicht notwendig ist?

eit der Einführung von Kol- lektiv- und Individualbudgets in die ambulante kassenärztli- che Versorgung im Jahre 1993 ge- winnt die Rationierungsdiskussion in der Gesetzlichen Krankenversiche- rung (GKV) an Schärfe. Gesundheits- politiker ziehen sich häufig auf die Po- sition zurück, von den Krankenkassen würde nach wie vor „alles medizinisch Notwendige“ bezahlt. Angesichts der erdrückenden Budgetierungsregelun- gen der jüngsten Gesundheitsreform gebietet es aber zwischenzeitlich die ärztliche Ethik, die stille Rationierung von Gesundheitsleistungen aufzu- decken und damit die Patienten vor weiterem Schaden zu bewahren.

GKV soll vor finanzieller Überforderung schützen

Die Gesetzliche Krankenversi- cherung ist bereits von ihrem Aus- gang des 19. Jahrhunderts festgeleg- ten Gründungszweck auf eine medizi- nische Grundversorgung beschränkt.

Sie sollte und soll den Einzelnen im Krankheitsfall vor finanzieller Über- forderung und damit vor einem krankheitsbedingten sozialen Abstieg schützen. An diesem damals wie heu- te fortschrittlichen Grundgedanken haben auch die auf Leistungsauswei- tung zielenden Gesetze in der Folge- zeit nichts geändert.

Aufgrund der heute üblichen Auslegung des Sozialgesetzbuches V hat der Versicherte nämlich – anders, als dies manche Politiker und Kran- kenkassen glauben machen wollen – keineswegs einen uneingeschränkten

Anspruch auf die medizinisch not- wendige Behandlung. Dieser An- spruch wird de facto durch das Wirt- schaftlichkeitsgebot eingeschränkt.

Mit anderen Worten: Der Anspruch des Versicherten besteht nur, wenn und soweit die beanspruchte medizi- nisch notwendige Leistung auch wirt- schaftlich ist.

Dass der Konflikt zwischen Lei- stungsmöglichkeiten und Leistungs- ansprüchen auf der einen sowie den Finanzierungsmöglichkeiten auf der anderen Seite erst vor etwa zwanzig Jahren begonnen hat, liegt ausschließ- lich daran, dass noch bis zum Ende der Siebzigerjahre mehr Finanzmittel für die GKV zur Verfügung standen, als durch den damaligen Stand der Medizin, die damaligen demographi- schen Verhältnisse und das damalige Anspruchsverhalten der Versicherten abgefordert wurden.

Die Abkoppelung der Kassen- medizin vom medizinisch Notwendi- gen wird besonders deutlich bei den gesetzlichen Leistungsausschlüssen.

So sind gemäß § 34 Abs. 1 SGB V zum Beispiel Schnupfenmittel, Schmerz- mittel, hustendämpfende Mittel und Abführmittel von der Leistungs- pflicht der Krankenkassen bei Er- wachsen ausgenommen, obwohl nie- mand bestreiten wird, dass die An- wendung dieser Mittel in den entspre- chenden Fällen durchaus medizinisch notwendig ist. Dasselbe gilt für die nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlos- senen Hilfsmittel.

Ein zweiter gesetzlicher Aus- schlusstatbestand betrifft die Unter- suchungen zur Früherkennung von Krankheiten. Derartige Untersuchun-

S

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gen sind – unabhängig von ihrer medi- zinischen Notwendigkeit – nur dann Leistungen der Krankenkassen, wenn sie in den gesetzlichen Anspruch der

§§ 25 und 26 SGB V fallen und zusätz- lich vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen in den jeweiligen Richtlinien konkret als Kassenlei- stungen definiert worden sind. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass aus Sicht des einzelnen Bürgers medizinisch notwendige Leistungen nicht in die- sem Sinne in den Leistungskatalog aufgenommen wurden.

Prominente Beispiele aus der ak- tuellen Rationierungsdiskussion sind zum einem die Mammographie zur Früherkennung des Brustkrebses und zum anderen die Untersuchung zur Früherkennung des grünen Stars (Glaukom). In beiden Fällen hat der Bundesausschuss bisher aufgrund der spezifischen Anforderungen an ein so genanntes „Massen-Screening“ die Aufnahme in den Leistungskatalog zurückgestellt, auch wenn der indivi- duelle Nutzen für einen einzelnen Bürger und insbesondere sein indivi- dueller Anspruch auf das Wissen um seine Gesundheit diese beiden Unter- suchungen als „medizinisch notwen- dig“ erscheinen lassen.

Ein dritter Bereich, in dem ge- setzliche Vorgaben die Kassenleistun- gen von medizinisch notwendigen Maßnahmen ausschließen, betrifft die eigenverantwortliche medizinische Vorsorge. Beispiele hierfür sind die reisemedizinischen Beratungen und Impfungen sowie die sportmedizini- schen Vorsorgeuntersuchungen, etwa vor Aufnahme ambitionierter sportli- cher Tätigkeit im mittleren Lebensal- ter. In beiden Fällen sind die jeweili- gen Vorsorgemaßnahmen aus ärztli- cher Sicht als medizinisch notwendig und empfehlenswert einzuschätzen, und in beiden Fällen liegt keinerlei Zuständigkeit der gesetzlichen Kran- kenkassen vor.

Ambulante Versorgung ist „durchbudgetiert“

Seit dem Jahre 1993 ist die oh- nehin schon fragwürdige Garantie des

„medizinisch Notwendigen“ durch ei- ne zunehmende Durchbudgetierung der Kassenmedizin vollends entwertet

worden. Zwar gibt es in der ambulan- ten Versorgung keine Budgets für den einzelnen Patienten, jedoch bestehen auf allen Stufen der Versorgung Bud- getierungsgrenzen: Kollektivbudgets bei den Kassenärztlichen Vereinigun- gen, Integrationsbudgets bei den Arzt- netzen und schließlich Praxisbudgets bei den einzelnen Praxen.

Behandlungsstil tendiert zum „Ausreichenden“

Es entspricht nicht nur jeder menschlichen Erfahrung, sondern ist auch zwischenzeitlich durch Untersu- chungen belegt, dass unter dem zu- nehmenden Budgetdruck der „Be- handlungsstil“ in der Kassenmedizin immer weiter in den Bereich des gera-

de noch Ausreichenden abdriftet und damit hinter den medizinischen Mög- lichkeiten zurückbleibt. Dass dies nicht etwa den Ärzten vorzuwerfen ist, sondern vielmehr Krankenkassen und Politikern, die diese Form der stillen Rationierung gegenüber den Bürgern auch noch herunterspielen, liegt an dem weiten Interpretations- spielraum, den der Begriff der „medi- zinischen Notwendigkeit“ eröffnet.

So dürfte ein Arzt, der regel- mäßig Arzneimittel verordnet, die zehn Prozent wirksamer sind oder zehn Prozent weniger Nebenwirkun- gen haben, dafür jedoch doppelt so- viel kosten, regelmäßig von Strafzah-

lungs-Sanktionen in Form von Re- gressen bedroht sein. Wer dies als Arzt einmal erlebt hat, wird künftig nur noch die zwar deutlich billigere und damit „wirtschaftliche“, jedoch eindeutig weniger gute Behandlungs- variante wählen. Die Abbildung zeigt, wie auf diese Weise der Budgetdruck etwa im Bereich der Hochdruck- und der Alzheimerbehandlung zu einer Abkopplung der Kassenmedizin vom medizinischen Fortschritt geführt hat.

Medizinischer Fortschritt scheint un- ter Budgetbedingungen weitgehend der Privatmedizin vorbehalten zu sein.

Im Interesse der Patienten muss den Krankenkassen und Politikern widersprochen werden, wenn sie be- haupten, die Krankenkassen würden auch im Zeitalter einer Durchbudge- tierung der Kassenme- dizin weiterhin alles Notwendige leisten. Er- folgt kein Widerspruch, wird die Budgetspirale noch weiter angezogen.

Die Botschaft an die Kassenpatienten muss daher lauten: Die Kas- sen leisten keines- wegs mehr alles medi- zinisch Notwendige, und sie werden es umso weniger tun, je weni- ger die Budgets für die Patientenversorgung den tatsächlichen Ver- sorgungsbedarf berück- sichtigen.

Möglicherweise ist der Prozess des Abkop- pelns der Kassenmedi- zin von den medizinischen Möglich- keiten nicht mehr aufzuhalten. Die gesetzliche Verselbstständigung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität lässt dies jedenfalls vermuten.

Deshalb haben insbesondere die Kassenärzte die Pflicht, den Patienten andere Wege zur Anhebung des medizi- nischen Versorgungsniveaus auf einen optimierten Behandlungsstil aufzuzei- gen. Die private Krankenversicherung wird auf Dauer nicht umhinkommen, ähnlich wie im stationären nun auch im ambulanten Sektor Zusatzversicherun- gen für ein „privatmedizinisches Up- grading“ des Versorgungsniveaus anzu- bieten. Dr. med. Lothar Krimmel A-1053 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 16, 21. April 2000

T H E M E N D E R Z E I T BERICHTE

15%

10%

5%

0%

Unterschiede in der Versorgung mit modernen Bluthochdruck- und Alzheimer-Präparaten 1998

Bluthochdruck Alzheimer

Anteile der Privatverordnung am Gesamtvolumen 5,5%

Konventionelle

Therapie Konventionelle

Therapie durchschnittlicher Anteil

der Privatverordnung

AT-II- Antagonisten

10,7%

3,1%

Acetylcholin- esterase- Hemmer 14,4 %

In der budgetfreien Privatmedizin werden Hochdruckpatienten zweimal und Alzheimer-Patienten dreimal so häufig mit modernen Arzneimitteln versorgt wie in der budgetierten Kassenmedizin. Quelle: IMS

Grafik

Referenzen

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