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Archiv "Eindrücke eines Arztes vom Komitee Cap Anamur Russische Medizin zwischen Zusammenbruch und Modernisierung" (21.02.1992)

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Eindrücke eines Arztes vom Komitee Cap Anamur

Russische Medizin zwischen

Zusammenbruch und Modernisierung

Bernhard Puppe

Seit Anfang 1991 betreibt das deutsche Notärzte-Komitee Cap Ana- mur in Prokopjewsk, einer westsibirischen Industriestadt mit rund 300 000 Einwohnern, eine Apotheke und unterstützt die dortigen Krankenhäuser mit großen Mengen medizinischer Materialien. Ein erheblicher Teil davon stammt aus den kriegsmedizinischen Be- ständen der Nationalen Vol ksarmee und kommt auf diese Weise doch noch - wenn auch anders als ursprünglich geplant - dem ehe- maligen Großen Bruder zugute. Im Verlaufe seiner achtmonatigen.

Tätigkeit (März bis November 1991) bekam der Autor des folgen- den Artikels Einblick in Zustand und Arbeitsweise der Medizin im südlichen Kusbass (westsibirische Industrieregion).

THEMEN DER ZEIT

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

ie gegenwärtige desolate Ver- fassung der Medizin in Ruß- land ist die Folge der Kombi- nation von verstaatlichter Medizin und Staatskrise. Wenn alles staatlich ist — Krankenhäuser, Polikliniken, Apotheken, Pharmaindustrie —, der Staat aber kein Geld mehr hat, gerät ein System an den Rand des Zusam- menbruchs, das früher gar nicht so schlecht funktionierte. In der jetzi- gen Krise wirkt das als erschweren- der Umstand, weil die russische Be- völkerung ein hohes Niveau medizi- nischer Versorgung gewöhnt ist.

An der Spitze des Medizinsy- stems von Prokopjewsk (wie jeder anderen größeren Stadt) steht ein Super-Chefarzt, der über ein Imperi- um von etwa zehn Krankenhäusern und 20 Polikliniken herrscht. Die rund 25 städtischen Apotheken ha- ben ihre eigene Zentralverwaltung.

Das Geld, das diesen gewaltigen Be- trieb mit mehr als 10 000 Staatsange- stellten am Laufen hält, kommt aus Moskau über die zuständige Bezirks- hauptstadt. Gerade in einer Krise hängt das Überleben eines derarti- gen hierarchisch-zentralisierten Ge- bildes entscheidend vom Mann an, der Spitze ab. Dieser wurde seiner- zeit jedoch offensichtlich nicht auf- grund seiner Managerqualitäten zum Super-Chef ernannt, so daß der Ein- druck entsteht, der staatsmedizini- sche Dampfer treibe ohne Kapitän auf der Brücke hilflos in stürmischer See.

I Ärzte

Die russischen Ärzte können vom Sozialprestige und materiellen Wohlstand ihrer deutschen Kollegen nur träumen. Ihr Monatsgehalt von 500 Rubeln (Stand November 1991) erreicht kaum ein Drittel des Lohns der lokal dominierenden Bevölke- rungsgruppe, der Bergarbeiter. Das ist zum Uberleben zu wenig. Wenn.

der Partner nicht ausreichend ver- dient (Ehen zwischen Ärztinnen und Bergarbeitern sind nicht selten), können die Ärzte nur mit Überstun- den ihre Familien ernähren, wobei die im weißen Kittel abgeleisteten weniger einbringen als die im eige- nen Gemüsegarten und auf dem ge-

pachteten Kartoffelfeld am Stadt- rand. Wie die Mehrzahl der Bevölke- rung sind auch Ärzte in hohem Gra- de Nahrungsmittel-Selbstversorger, und die Notwendigkeit, sich nach Dienstschluß als Freizeitbauer zu betätigen, beeinträchtigt die Qualität ihrer Patientenbetreuung.

Das Medizinstudium an russi- schen Universitäten dauert wie in Deutschland sechs Jahre, ist jedoch ungleich praxisorientierter, nicht nur bezüglich Kriegs- und Katastrophen- medizin. Vier Jahre Studium berech- tigen schon zur Berufsausübung als

„Feldscher", einer Art Schmalspur- mediziner.

Medizinische Lehrbücher sind fast immer ausverkauft; um so sorg- fältiger hüten Medizinstudenten und Ärzte ihre wertvollen Exemplare.

Während ihre didaktische Aufberei- tung des Lehrstoffs meist zu wün- chen übrig läßt, entspricht ihr Inhalt durchaus dem internationalen Stand der Wissenschaft.

Nachdem der Medizinstudent bei der Vorbereitung auf die Ab- schlußexamen alle Gipfel der neu- zeitlichen medizinischen Wissen- schaft erklommen hat, wird er an- schließend in die Tiefen der real praktizierten Medizin hinabgesto- ßen, in der es weder Ultraschall noch

Computertomographen, weder EKG-Monitor noch Intubationsnar- kose gibt (von wenigen Zentren ab- gesehen). Im Laufe ihrer Praxisjahre sinken dann viele Ärzte auch theore- tisch auf das primitive Niveau ihrer Berufsausübung ab. Ihre schlechte Bezahlung und ihr niedriges Sozial- prestige, was unter anderem mit der unzureichenden materiellen Aus- stattung und infolgedessen geringen Leistungsfähigkeit der russischen Medizin zusammenhängt, beeinflus- sen ihre Arbeitsmotivation. Vervoll- ständigt wird die Misere durch das Fehlen der freien Arztwahl. Dies führt im Laufe der Jahre zur Anhäu- fung unzufriedener Patienten bei un- motivierten Ärzten.

Russische Chefärzte teilen mit ihren deutschen Kollegen wenig mehr als ihren Titel. Sie fungieren überwiegend als Verwaltungsleiter, was sich in der gegenwärtigen Man- gelsituation, in der effektives Kran- kenhausmanagement die schlimm- sten Engpässe beseitigen könnte, be- sonders nachteilig bemerkbar macht.

Das sowjetische Krankenhaus kennt nicht den Dualismus von medizini- scher und administrativer Leitung.

Da die Ernennung zum „Chefarzt"

praktisch das Ende der ärztlichen Tätigkeit bedeutet, sind nicht immer Dt. Ärztebl. 89, Heft 8, 21. Februar 1992 (29) A1-537

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die besten Ärzte zu Chefärzten avan- ciert.

Das Einkommen dieser Chefärz- te unterscheidet sich nicht wesent- lich von dem ihrer Mitarbeiter (Pri- vatliquidation gibt es offiziell nicht) und beträgt etwa das Zweifache des Lohns einer Putzfrau. Wie man alle Ärzte sinnvoll beschäftigen könnte, vermag auch der Chefarzt mit sei- nem typischen weißen, an einen Konditorhut erinnernden Zylinder- hut nicht plausibel zu machen.

Die innere Medizin steht ganz im Schatten der Chirurgie, die von dem allgegenwärtigen Medikamen- tenmangel weniger betroffen ist.

Aber auch in besseren Jahren spiel- ten Koronarerkrankungen in der si- birischen Medizin nicht die überra- gende Rolle wie bei uns. Die Dia- gnose von Myokardischämien schei- tert nicht nur am Mangel an EKG- Geräten, sondern auch an der kom- petenten Interpretation ihrer Ablei- tungen: Die in den Polikliniken do- minierende Ärztegruppe der „The- rapeuten", was unserem Allgemein- mediziner entspricht, wertet keine EKGs aus, den internistischen Fach- arzt gibt es nicht und Kardiologen sind seltene Spezialisten. Eine Ver- besserung der Situation erhofft sich der Prokopjewsker Oberkardiologe von der automatischen EKG-Inter- pretation.

Die Abdominalchirurgen sind so geschickt, daß sie die Bäuche auch bei ungenügender Relaxation ihrer peridualanästhetisierten Patienten wieder zu bekommen. Intubations- narkosen sind wegen schlechter Nar- kosegeräte und noch schlechterem Monitoring der vitalen Körperfunk- tionen die Ausnahme. Annähernd auf unserem Niveau operieren die Unfallchirurgen, was für die zahlrei- chen Opfer der häufigen Zechenun- fälle ein schwacher Trost ist.

Einzelne Ärzte leisten Hervorra- gendes, was angesichts ihrer Isolie- rung von der Welt des medizinischen Fortschritts um so erstaunlicher ist.

So entspricht die Therapie der kind- lichen Leukämien am Kinderkran- kenhaus von Nowokusnezk durchaus dem internationalen Standard, wenn man vom Mangel an den teuren Zy- tostatika absieht. Die Geburtshelfer lehnen die Vakuumextraktion wegen

angeblich größerer Risiken ab und greifen lieber zur Zange. Fremdartig mutet die Infektionsmedizin an.

Statt sich mit einer kleinen Infekti- onsstation zufriedenzugeben, gibt es in Prokopjewsk ein großes Kranken- haus mit mehreren hundert Betten speziell für Infektionskrankheiten, deren größte Patientengruppe an Gastroenteritis leidet (an harmlose- ren Formen als Typhus, Parathypus oder Cholera). Weil das gesamte me-

Die Apotheke in Prokopjewsk

dizinische Personal als erheblich in- fektionsgefährdet gilt, werden direk- te Patientenkontakte so weit wie möglich vermieden. Deswegen sind Apotheker in Rußland von ihren Kunden grundsätzlich durch Glas- scheiben geschützt.

Medikamente

Das Medikamentendefizit hat ähnliche Ursachen wie der Mangel an allem und jedem in dem Land, das sich fast das ganze 20. Jahrhun- dert vergeblich bemühte, die zentra- le Kommandowirtschaft funktions- tüchtig zu machen. Verstärkt wird das Arzneimittel-Defizit noch durch den Umstand, daß die früher um- fangreichen Medikamenten-Importe aus den ehemaligen europäischen Satellitenstaaten (besonders der DDR) weggefallen sind. Die UdSSR konzentrierte die Schwer- und Rü- stungsindustrie im russischen Kern- land und überließ den Randrepubli-

ken und Satelliten die Produktion

„unwichtiger" Güter wie Konsumar- tikel und eben Medikamente. Durch zurückgegangene Eigenproduktion und weggefallene Importe ist der Nachschub an Medikamenten um fast zwei Drittel zurückgegangen, und viele wichtige Arzneimittel ste- hen überhaupt nicht mehr oder nur noch sporadisch zur Verfügung.

Am stärksten ist in Prokopjewsk das Defizit an Präparaten zur Be- handlung chronischer Atemwegser- krankungen, NSAID und Analgeti- ka, während die Versorgung mit Standard-Antibiotika noch leidlich funktioniert.

Angesichts der verbreiteten Mangelsituation wäre es nahelie- gend, die wenigen vorhandenen Me- dikamente ähnlich wie Grundnah- rungsmittel zu rationieren, was in ei- nem verstaatlichten Medizinsystem leicht möglich wäre, da der städti- sche Super-Chefarzt allen nachge- ordneten Medizinern gegenüber wei- sungsbefugt ist. Nichts dergleichen geschieht jedoch, im Gegenteil, die in besseren Zeiten gewachsene Ver- schwendungsmentalität treibt inmit- ten des Mangels besonders üppige Blüten, wenn Patienten jede sich bie- tende Gelegenheit zu Hamsterkäu- fen nutzen.

Unterdessen degeneriert das Rezeptschreiben zum symbolischen Akt ohne praktische Konsequenz, da die Apotheken nur selten das Rezep- tierte verfügbar haben. Ergo sam- meln sich in den Händen vieler Pa- tienten immer mehr uneingelöste Rezepte an. Der gewissenhafte Arzt versucht dies zu vermeiden, indem er sich ständig über das beschränkte und rasch wechselnde Sortiment der Apotheken in der Nachbarschaft in- formiert.

Die Patienten müssen ihre re- zeptierten Medikamente grundsätz- lich in den Apotheken bezahlen, aber die wichtigsten behandlungsbe- dürftigen Gruppen, zum Beispiel chronisch Kranke und Behinderte, erhalten sie unentgeltlich. Die Zah- lungspflichtigen fühlen sich kaum benachteiligt, da die Arzneimittel- preise dank staatlicher Subventionie- rung mehr symbolische Bedeutung haben und keinen Zusammenhang mit den realen Produktionskosten

Fotos (2): Bernhard Puppe

A1 -540 (32) Dt. Ärztebl. 89, Heft 8, 21. Februar 1992

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Es wird immer aussichtsloser, zu den offiziellen Preisen Medikamente zu bekommen erkennen lassen. Da der Staat jetzt

kaum noch Geld zum Subventionie- ren hat, leeren sich die Regale der Apotheken, und es wird immer aus- sichtsloser, zu den offiziellen Preisen Medikamente zu bekommen. Wer dringend etwas braucht, bedient sich auf dem Schwarzmarkt, sofern er dessen höhere Preise bezahlen kann.

Die teilweise ans Religiöse gren- zende Gläubigkeit vieler russischer Patienten an die Wirksamkeit der Heilkräuter aus den Tiefen der hei- mischen Taiga verringert das Defizit an synthetischen Medikamenten. Ei- nen ähnlichen Effekt hat der verbrei- tete Einsatz mechanischer und elek- trischer physiotherapeutischer Gerä- te in der Rheuma- und Schmerzme- dizin. Aber auch bei noch so viel Pa- tientenvertrauen und größter Vir- tuosität im Ausnutzen des Plazebo- effektes läßt sich das medikamentöse Defizit nicht restlos beseitigen.

Krankenhäuser

Prokopjewsk besitzt zehn Kran- kenhäuser. Vier davon sind riesige, verzweigte Komplexe, auf deren lan- gen Fluren man überraschend wenig Patienten begegnet. Ihre üppige Per- sonalausstattung kontrastiert mit dem Mangel an Medizintechnik, die sich in wenigen Funktionsräumen konzentriert. Man hat den Eindruck, daß das Zeitalter der aktiv-aggressi- ven Behandlung noch nicht begon- nen hat und die Therapie vorwie- gend in der Einhaltung von Bettruhe besteht.

Das Zentralkrankenhaus mit rund 1200 Betten beschäftigt 160 Ärzte bei einem Plansoll von 250.

Wie man sie alle sinnvoll beschäfti- gen könnte, vermag auch der Chef- arzt nicht plausibel zu machen.

Die materielle Ausstattung der Krankenhäuser ist ziemlich hetero- gen: Einerseits wundert man sich über ihre vorzügliche technisch-apparative Ausstattung in bestimmten Bereichen knapp unterhalb der Schwelle zu den medizinischen Großgeräten, ande- rerseits ist man entsetzt über den zeit- weilig katastrophalen Mangel an pri- mitivem Verbrauchsmaterial wie Ver- bandsstoff, Spritzen, Katheter aller Art und Infusionen.

Angesichts des verbreiteten Mangels an Einmalartikeln kann es nicht wundern, daß sie häufig sterili- siert und wiederverwendet werden — urologische Dauerkatheter genauso wie Braunülen — was dadurch noch kritischer wird, daß bei den verwen- deten Autoklaven in den seltensten Fällen die Temperaturanzeige funk- tioniert. Der Spritzenmangel ist so groß, daß auf den Stationen teilweise Zustände herrschen wie in manchen deutschen Gefängnissen, wo die ein- zige „Anstaltspumpe" für die Ver- breitung von HBV und HIV sorgt.

Gesundheitsbewußte Patienten brin- gen deswegen nicht selten zur Be- handlung ihre eigenen Einmalsprit- zen mit, die man zum 5fachen des Preises von 1 kg Brot (Stand Oktober 1991) frei kaufen konnte, nicht etwa in Apotheken, sondern in „Korn- merzshops".

Die Vielzahl der Krankenhäuser verschärft noch den allgegenwärti- gen Mangel an funktionierender Me- dizintechnik (defekte Geräte sind Legion): Jede Klinik hat zum Bei- spiel eine „Intensivstation", aber kei- ne einzige ist wirklich funktionstüch- tig. Ähnliches gilt für die Labors.

Dringend notwendig ist eine „Flur- bereinigung", die Schließung der kleinen Häuser, um die begrenzten Mittel auf wenige Kliniken zu kon-

zentrieren. Die Entwicklung geht da- gegen eher in die entgegengesetzte Richtung. Um weniger auf die insuf- fizienten öffentlichen Krankenhäu- ser angewiesen zu sein, richten die großen Unternehmen für ihre Beleg- schaft firmeneigene Behandlungs- zentren ein, die in mancher Hinsicht medizinisch-technisch besser ausge- stattet sind als die städtischen Kran- kenhäuser.

Die ambulante Medizin ist Auf- gabe der Polikliniken, die hinsicht- lich der Anwendung des Konzeptes der Diagnosis Related Groups wei- ter sind als die deutsche Medizin. Ih- re Ärzte stehen insofern unter Er- folgszwang, als von ihnen erwartet wird, eine banale Erkältung in maxi- mal einer Woche zu kurieren. Dau- ert sie länger, drohen dem behan- delnden Arzt Gehaltsabzüge. Also verschreibt er routinemäßig Antibio- tika, teilweise auch dann, wenn er ei- ne virale Infektion vermutet. Da- durch steigerte sich die Nachfrage nach Ampicillin und Trimethoprim/

Sulfamethoxazol in der Cap-Ana- mur-Apotheke so stark, daß Abgabe- beschränkungen und -kontrollen ein-

I Polikliniken

Dt. Ärztebl. 89, Heft 8, 21. Februar 1992 (35) A1-541

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geführt werden mußten. Ein Teil des russischen Medikamentendefizites scheint also hausgemacht zu sein.

Erste Hilfe

Auch die Erste Hilfe ist Aufgabe der Staatsmedizin. Die Nothilfe-Or- ganisation der 300 000 Einwohner- Stadt Prokopjewsk beschäftigt rund 400 Personen, darunter mehr als 100 Ärzte, die zwischen ihren Einsätzen nicht regulär im Krankenhaus arbei- ten, sondern sich an einer Einsatz- zentrale bis zum nächsten Einsatz die Zeit vertreiben. Es gibt verschie- dene spezialisierte Teams beispiels- weise für kardiologische oder pädia- trische Notfälle. In der Nachbarstadt Nowokusnezk (800 000 Einwohner) entscheidet ein Computerprogramm in der Einsatzzentrale an Hand der bekanntgewordenen Information darüber, welches Spezialteam zum Patienten geschickt wird.

Die Prokopjewsker Nothilfe hat etwa 30 Einsatzfahrzeuge, von denen die meisten so alt und defektanfällig sind, daß sie ständig repariert wer- den müssen. Die Einsatzzentrale macht den Eindruck einer Kraftfahr- zeug-Werkstatt.

Typisch für die Misere der Er- sten Hilfe ist folgende Begebenheit:

Eine Mutter bat, einen Notarztwa- gen zur Weiterführung der Reani- mation ihres nahezu ertrunkenen Sohnes zu schicken. Die Einsatzzen- trale lehnte das mit der Begründung ab, angesichts der geringen Überle- benschancen ihres Kindes könne man nicht die Fahrtüchtigkeit eines Einsatzwagens bei der schnellen An- fahrt über schlechte Straßen aufs Spiel setzen.

111 Reformpläne

Die Ärzte empfinden ihre beruf- liche und private Situation als so schlecht, daß sie schon seit Ende Ok- tober 1991 mit Streik drohen. Sie fordern neben einer drastischen Ge- haltserhöhung in erster Linie mehr Geld für die Medizin insgesamt, um sich die Hilfsmittel leisten zu kön- nen, ohne die moderne Medizin nicht denkbar ist. Ihre Erfolgschan-

cen wären bei Unterstützung durch die Bevölkerung besser, aber diese hat momentan andere Sorgen, vor deren Hintergrund die Lohnforde- rung unpopulär wirkt.

Um eine solide finanzielle Basis zu bekommen, möchten die weitblik- kenden Ärzte weg von der bisherigen staatlichen Finanzierung und ein Krankenversicherungs-System nach westlichem Muster einführen. Be- gonnen werden soll damit — eine Konzession Moskaus — Anfang 1993, obwohl es bisher keinerlei organisa- torische Grundlagen dafür gibt.

Radikales Umdenken

Die russische Medizin benötigt mehr Geld. Es gibt jedoch auch Re- formen, die zunächst einmal ein ra- dikales Umdenken erfordern, wie die Einführung der freien Arztwahl und die Privatisierung der ambulanten Behandlung, wozu man aus den Rei- hen der russischen Ärzteschaft be- trüblich wenig hört. Dergleichen ge- hört auch nicht zu den Forderungen der sich formierenden medizinischen Interessenvertretungen, da diese die Interessen aller „Medizinarbeiter"

(so die wörtliche Übersetzung) ver- treten, vom Chefarzt bis zur Putz- frau. Solange die russischen Ärzte es nicht wagen, sich zu emanzipieren, von diesen Einheitskorporationen zu lösen und Organe für die Vertretung spezifisch ärztlicher Interessen zu gründen, werden sie keine Chancen haben, ihre Vorstellung der künfti- gen Struktur der Medizin im postso- wjetischen Rußland durchsetzen.

Aber vorerst dämpft Angst die Bereitschaft zu radikalen Reformen, von denen viele das Ende ihrer ge- mütlichen Arbeitswelt oder gar den Verlust ihres Arbeitsplatzes befürch- ten, zu Recht, denn der gesamte Me- dizinbetrieb ist personell überbe- setzt, im Vergleich zu deutschen Verhältnissen um mehr als 100 Pro- zent.

Besonders in Polikliniken finden Vorschläge zur Privatisierung der ambulanten Medizin keine ungeteil- te Zustimmung. Dem Status quo fehlt aus der Sicht mancher ange- stellter Ärzte hauptsächlich — neben

der Beseitigung der materiellen De- fizite — eines, um perfekt zu sein: Ge- hälter in der Größenordnung der Einkommen deutscher Praxisinha- ber.

I Unterstützung Sinnvolle

Spezifische Medikamente, In- strumente und Apparate können se- gensreich wirken, wenn man sie kompetenten Ärzten in die Hände gibt. Bei ungezielter Lieferung ist die Gefahr groß, daß die unbekannten Wunderdinge überhaupt nicht oder falsch angewendet werden. Kompli- zierte medizinische Apparaturen, sollten ohne Kenntnis der Empfän- ger und der Bereitschaft, ihnen bei ihrer Inbetriebnahme umfassend be- hilflich zu sein, vorerst nicht ver- schickt werden.

Mindestens ebenso wichtig wie materielle Hilfe ist die Unterstüt- zung der russischen Medizin bei der Organisation eines Krankenversiche- rungs-Systems und der Privatisierung der ambulanten Medizin. Von der Schaffung der legislativen Voraus- setzungen hierfür bis zu einem funk- tionierenden medizinischen System ist ein langer Weg zurückzulegen, auf dem die deutschen Ärzte mit ih- rer organisatorischen Erfahrung be- hilflich sein könnten, um zeitrauben- de Irr- und Umwege zu vermeiden.

Genausowenig wie die Wirt- schaft kann sich die Medizin ohne geeignete Rahmenbedingungen ent- wickeln. Da diese auch im postbol- schewistischen Rußland nicht vom Himmel fallen, ist ärztliche Interes- senvertretung ein dringendes Gebot der Stunde. Auch dabei wäre westli- che Hilfe nützlich.

Ein besonders wertvoller indivi- dueller ärztlicher Beitrag wäre die Mitarbeit in dem genannten Projekt von Cap Anamur, wofür russische Sprachkenntnisse erforderlich sind.

Interessenten werden gebeten, sich zwecks näherer Informationen mit dem Autor in Verbindung zu setzen.

Anschrift des Verfassers:

Dr. Bernhard Puppe Parcus-Str. 11-13 W-6500 Mainz A1-542 (36) Dt. Ärztebl. 89, Heft 8, 21. Februar 1992

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