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Archiv "„Neue Deutsche Heilkunde“" (13.04.1989)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Die Rolle der Natur- und Volksheilkunde im Nationalsozialismus, ihre Stellung und ihr Gewicht im Verhältnis zur sogenannten „Schulmedizin"

sowie im Gesamtgefüge der Medizin im Nationalsozialismus sind im- mer wieder Gegenstand von Polemiken gewesen. Hinweise auf persön- liche Affinitäten von Hitler (als Nichtraucher und Antialkoholiker), von

„Führer"-Stellvertreter Rudolf Heß (als Freund der Heilpraktiker und der Homöopathie) oder von SS-Reichsführer Heinrich Himmler (als Sympa- thisant der biologisch-dynamischen Landwirtschaft der Anthroposo- phen) ersetzen jedoch nicht die notwendige Aufarbeitung dieses bis- lang von der sozialhistorischen Forschung vernachlässigten Gebietes.

Medizin im Nationalsozialismus (XI:11)

Die Vorgeschichte:

„Schulmedizin"

und Naturheilkunde im Widerstreit

Seit der Mitte des 19. Jahrhun- derts wurde die Aufspaltung der Me- dizin in ein duales System immer evi- denter. Die naturwissenschaftlich orientierte Medizin machte insbe- sondere durch Zellularpathologie und Bakteriologie enorme Fort- schritte, verlor aber durch die Auf- splitterung in immer mehr Fachdis- ziplinen zunehmend an innerer Ko- härenz. Aufgrund der sozialen Ver- hältnisse (zum Beispiel des Feh- lens eines Krankenversicherungssy- stems), aber auch wegen des fehlen- den gesellschaftspolitischen An- spruchs ihrer führenden Köpfe (Vir- chows Konzept von der „Medizin als sozialer Wissenschaft" blieb ohne Resonanz) konnte sie ihre Erkennt- nisse nur unzureichend zum Wohle breiter Bevölkerungskreise in die Praxis umsetzen.

So konnten sich Elemente der traditionellen Erfahrungsheilkunde, begründet auf unterschiedlichen my- stischen und humoralpathologischen Vorstellungen, in breiten Bevöl- kerungskreisen halten und in zeitge- mäßer Couleur weiterentwickeln.

Naturarzneiliche (Pflanzenheilkun- de, Homöopathie, Biochemie nach Schüßler), hydrotherapeutische (Prießnitz, Kneipp) und lebensre- formerische (Vegetarismus, Antial- kohol-, Nacktkultur-, Kleider- und Bodenreformbewegung) Ansätze fanden eine breite Anhängerschaft insbesondere in der Arbeiterschaft

„Neue Deutsche Heilkunde"

Naturheilkunde und „Schulmedizin"

im Nationalsozialismus Alfred Haug

und im Kleinbürgertum. In Deutsch- land entwickelte sich eine buntschil- lernde, nach Millionen zählende, auf Vereins- und Verbandsebene orga- nisierte Naturheil-, Volksheil- und Lebensreformbewegung, deren mit- gliederstärkste Gruppierungen der Biochemische Bund Deutschlands, der Deutsche Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise (Prießnitzbund), der Reichsbund für Homöopathie und Gesundheits- pflege und der Kneippbund waren.

(1)*)

Diese unterschiedlichen Grup- pierungen der Volksheilbewegung

*) Die in Klammern gesetzten Zahlen bezie- hen sich auf die Anmerkungen beim Sonder- druck, der bei der Redaktion oder beim Verfas- ser angefordert werden kann.

verband die Ablehnung der soge- nannten „Schulmedizin" (der Begriff

„Schulmedizin" selbst, ursprünglich als Schimpfwort kreiert, stammt aus diesem Lager), der sie „Pillenjesui- tismus, Orthodoxie, Giftmischerei"

und ähnliches vorwarfen. (2) Die etablierte Medizin revanchierte sich dadurch, daß sie ihre Machtmittel ausspielte, um eine Etablierung au- ßerschulischer Ansätze, insbesonde- re an den Universitäten, zu verhin- dern. (3)

Erstaunlicherweise war die Ex- pansion dieser Laienbewegung (bei der nur wenige Ärzte der medizini- schen Außenseiterrichtungen als Wortführer mitwirkten) am größten in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, als die Ausdehnung der Krankenversicherung bereits breite Bevölkerungskreise erfaßt hatte. Hinzu kam ein erheblicher Zulauf zu nicht-approbierten Heil- behandlern (Heilpraktikern), deren Zahl zu dieser Zeit nach zeitgenössi- schen Schätzungen annähernd die der approbierten Ärzte (rund 50 000) erreicht haben soll. (4) Das Wort von der „Krise der Medizin"

ging um, das angesichts der weit ver- breiteten gesundheitlichen und so- zialen Probleme in der Weimarer Zeit als Vertrauenskrise in die Medi- zin interpretiert werden muß. (5)

Reichsärztefiihrer Gerhard Wagner und die Naturärzte

L In dieser Situation mußte es für das eben zur Macht gelangte natio- nalsozialistische Regime darum ge- hen, die Vertrauensbasis der Bevöl- kerung zur Ärzteschaft wiederherzu- stellen. Schließlich hatte es ihr große Aufgaben zugedacht: Die Ärzte soll- ten zu „Gesundheitsführern" wer- den, die die „Volksgenossen" zu Höchstleistungen in der Produktion treiben sollten, die die Aufzucht ei- ner möglichst großen Zahl erbgesun- der Kinder propagieren und gleich- zeitig „lebensunwertes Leben" (be- hinderte Kinder, Psychiatrieinsas- sen, soziale Minderheiten usw.) mel- den, begutachten und an ihrer „Aus- merze" durch Zwangssterilisation Dt. Ärztebl. 86, Heft 15, 13. April 1989 (29) A-1021

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und physische Vernichtung („Eutha- nasie") teilnehmen sollten. Dieses Ziel war nur erreichbar durch Re- konstruktion eines respektierlichen einheitlichen Ärztestandes und durch gleichzeitige Agitation in der Laienbewegung.

Daher wandte sich Reichsärzte- führer Dr. Gerhard Wagner im Ok- tober 1933 im damaligen „Deutschen Ärzteblatt" zunächst mit einem Auf- ruf „an alle Ärzte Deutschlands, die sich mit biologischen Heilverfahren befassen", um diese zusammenzu- schließen (Abbildung auf der nach- folgenden Seite). Er versprach dabei, daß ihre Heilverfahren „die Prüfung oder Anerkennung erfahren, die sie verdienen, und dann der Ausbildung und Fortbildung aller Ärzte dienst- bar gemacht werden". (6) Die Be- gründung für diesen revolutionär an- mutenden Schritt gibt Wagner an an- derer Stelle mit dem Hinweis, daß

„das Vertrauen unseres Volkes zu seinen Ärzten . . . im Schwinden be- griffen war". (7)

Die Veröffentlichung dieses Aufrufs rief in der etablierten Medi- zin Ablehnung, bei den Naturärzten teilweise Euphorie, zum Teil aber auch Skepsis hervor, was die verspro- chene Aufwertung ihrer Heilmetho- den und Auffassungen anbetraf. (8) Im Mai 1935 nahm Wagners Be- mühen organisatorische Gestalt an:

Anläßlich der ersten gemeinsamen großen Reichstagung der deutschen Volksheilverbände in Nürnberg (un- ter Schirmherrschaft des fränkischen Gauleiters Julius Streicher) wurde die „Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde" als Zusammenschluß unterschiedlich- ster natur- und außenseiterärztlicher Verbände aus der Taufe gehoben.

Ihr gehörten die folgenden Organi- sationen an: Deutscher Zentralver- ein homöopathischer Ärzte, Kneipp- ärztebund, Reichsverband der Na- turärzte, Deutsche Gesellschaft für Bäder- und Klimakunde, Reichsver- band Deutscher Privatkrankenan- stalten, Vereinigung Anthroposophi- scher Arzte und Deutsche Allgemei- ne Ärztliche Gesellschaft für Psy- chotherapie. (9) Die Heterogenität der Verbände legt die Vermutung ei- ner zentralistischen Zwangsvereini- gung nahe.

Die einzige öffentlichkeitswirk- same Aktivität der „Reichsarbeitsge- meinschaft" fand am 20. April 1936 statt, als sie — wiederum auf Initiative Wagners hin — in Wiesbaden eine Gemeinschaftstagung mit der dort tagenden Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin abhalten konnte.

Wagner forderte hier den „geschlos- senen Einsatz des ganzen ärztlichen Standes . . . zu einer umfassenden, jede Wirkungsmöglichkeit ausschöp- fenden neuen deutschen Heilkun- de". (10) Ein anderer nationalsozia- listischer Arzt faßte es noch deut-

Aus „Der Stürmer" Nr. 14/1936

licher: „Zwei einander feindselige Richtungen innerhalb des deutschen Arzttums darf es auf die Dauer nicht geben! Denn das deutsche Volk wür- de dann an seinem Arzttum irre wer- den, und alles, alles, was das Dritte Reich durch seine Ärzte für die Zu- kunft der deutschen Volksgesund- heit plant, würde ins Wanken gera- ten . ." (11)

Der von Wagner eingesetzte Leiter der „Reichsarbeitsgemein- schaft", Prof. Karl Kötschau, erklär- te in Wiesbaden allerdings auch un- mißverständlich, daß „der Aufbau einer Neuen Deutschen Heilkunde unvereinbar ist mit der Ablehnung der heutigen wissenschaftlichen Me- dizin". (12)

Die „Reichsarbeitsgemein- schaft" wurde bereits im Januar 1937

. durch Wagner mit Hinweis auf die inzwischen in Kraft getretene Reichsärzteordnung, die die wissen- schaftlichen Gesellschaften dem Reichsgesundheitsamt unterstellte, wieder aufgelöst. (13) Die formale Begründung vermag nicht zu über- zeugen; über die tatsächlichen Grün- de kann nur spekuliert werden: Die Monomanie der zwangsvereinigten Natur- und „Außenseiter"-Ärzte mag dazu ebenso beigetragen haben wie der zunächst unterschwellige, dann zunehmend offener artikulierte Widerspruch der etablierten Medi- zin gegen eine Aufwertung der Au- ßenseitermedizin, wie ihn am deut- lichsten der Chirurg Ferdinand Sau- erbruch in seiner Rede vor der Ge- sellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte im September 1936 zum Ausdruck brachte. Exakte Naturwis- senschaft galt insbesondere im Rah- men des von Hitler 1936 verkünde- ten Vierjahresplans der Autarkiepo- litik und der Kriegsvorbereitung wie- der als elementar: „In einer solchen Wertung" — so Sauerbruch in seiner Rede — „hat die Wissenschaft immer ihre höchsten Leistungen voll- bracht . ." (14)

Vereinnahmung der Volksheilbewegung

Dem naturheilkundlich und le- bensreformerisch orientierten Lai- enpotential — zeitgenössische Schät- zungen sprechen von etwa einer hal- ben Million in Verbänden und Ver- einen organisierten Mitgliedern und einer Anhängerschaft von fünf bis zehn Millionen Menschen im Deut- schen Reich der dreißiger Jahre — galt die besondere Aufmerksamkeit der nationalsozialistischen Gesund- heitsführung. (15)

Insbesondere der fränkische Gauleiter und „Stürmer"-Herausge- ber Julius Streicher versuchte sich als Protagonist einer auf „Blut und Boden" umgepolten Volksheilbewe- gung zu profilieren. Es gibt Hinweise darauf, daß Streicher bemüht war, mit der „Hausmacht" Volksheilbe- wegung ein neu zu schaffendes Ge- sundheitsministerium für sich zu re- klamieren. Seine Attacken gegen die Ärzteschaft — ohne die nationalsozia- A-1022 (30) Dt. Ärztebl. 86, Heft 15, 13. April 1989

(3)

2tufruf

9In alle 2inte Zeutfchlanbd, bie fick mit biologifchen 5jeilucrfatrrn befall'en.

Wer mit toachtamem Sinne alle Geichefmitte in ber eeilleunte nicht nur heute, fonbern fdjon feit 3ahren verfolgt. wirb tue Zieht gelangen liefen, bat bie 4eilkunbe ein weit gröteres Gebiet unb mehr Methoben umfallen kann, als mir ante im allgemeinen gelernt haben.

Die 4ölje, 3u bei lidt bie Illiftentchatt in ben fetten 3ahr3eltnten entwickelt hat, ift nie ab3utreiten. Wertvolles Miljensgut hat lie uns gebradjt unb mit biejem wandte Mittel Sur (Ettilffung unterer Lebensaufgabe: Der kranken Mengbett 3u helfen.

Dennoch ift aber unumumnben 3u3ugeben, bat auch 4eitmetipben, bie nicht im (Einklang mit ber Schule ltehen, (Erfolge auf- napeilen haben, bie 3um (feil bie ber Schule nie nur erreichen, fonbern ba unb bort ihnen überlegen link

Das truchtbartte adierlanb war bieten 4eilmethoben unterhalb unteres Staubes beteeben. Dort waren lie, wenn audi wie bodt 3u einer Litt Volksgut geworben.

littpränglich oerein3elt unb nur tattenb, bann in immer stärkerem litte fanben lidj am» Rute, bie fick biete tjeil- methoben 3u eigen madnen. Seietach leben fich Gruppen 3ufammen, unb heute ttehen mehrere Toicher Gruppen als mehr ober minber fett organilierte arbeitsgenteinteaften ba unb bort im beutleen Daterlanbe.

Wenn lie audi bas Spe3ielle ihres eigenen 5nes uoneinanber trennt, genreinfam ijt ihnen bas Bettreben, bie leilgüter ber Natur ber Mentejeit ltärker als bisher nutbar 3u madten.

Kenn3eidmete bie Catoehebter bas Wort „Kurptuter", to verlieh man ben ilmcodtcn Vertretern bei Ilatutheilmethoben bas Wort „Rutenfeiter".

(Erlt in jüngter 3eit treten bie wertwollen Güter wahren 4eiltums in bieten beiben Lagern in ein belleres unb heiteres Lidft. aber gerabe in bleiern helleren Licht 3eigt jidt beutlidt, bat bie är3tlichen Vertreter bei biologiten 4eilmethoben in ihren Qin3efuerbänben fiten.

alle biete Elr3te will ich um mich fammelni

Jcit will keinen neuen Derbanb ober Derein grünben, bei biete Brate aus ihren Dereinen unb Derbänben herausle, Ton- bern idt will lie alle mit ihren Derbänben unb Dereinen in einem groben, alle biologifen t4r3te jeber Ridnung umfatienben Ring 3ulammengeldtlotten mitten. (Erjt nach bietet 3ufammentaffung wirb es eigne, bat alle biete leitverfahren bie prfi-

jung ober Anerkennung erfahren, bie tie Derbienen, unb bann ber ausbilbung unb 3ortbilbung aller ar3te bienitbar gemae werbeä, 3um Wohle aller Kranken, bie unterer litte bebürten.

Jch forbere baker alle Eir3te, bie fidt 3u bieten Ausführungen uni) Gebanken verstehen können, auf, mir ein3eln ober burch ihre jpe3iellen Derbänbe ihre 3ullimmung mit3uteilen. Wir wollen bann gemeintam an bie Arbeit gehen unb nach Sieung unb Prüfung bas Metbolle aus allen Lagern ber gan3en az3teldjaft vermitteln.

(Es hat fidt nun aber ge3eigt, bat ihr 3ufammenhang untereinanber 3u lote ift, als bat gärtnre Zinflüfte von ihnen auf bie Gefamtheit bei Kutereift unb auf hie wittentchuftlie auffaltung in bot Mebi3in ausgehen konnten. Solange jeber ärgliche Vertreter einer autenfeiietmethobe nur m !einem betonberen (Ein3elverbanb litt, betteln bie Gefahr bei 3er- tptigerung in Sektierertum, tuältrenb anbererfeits audi bas Stubium unb Maliprüfung ber umftrittenen Inethoben für ben 3ernfteljenben fchwer, ja fall unmöglidt itt.

Deshalb rufe ich alle in grage kommenben auf, tich 3u einem engeren 3ufammenrchlut bei mir 351 melben.

Zr. Magner

(31'k:igitten an ben Reieführet ber drynfeen Spitenverbänbe, Münen 28 Seietfach 2.) Gcl)riftfiit e mit entb ebrliceen ercmbwörtern werben nickt angenommen.

Reichsärzteführer Dr. Wagner in Heft 15/1933 (7. Oktober) des „Deutschen Ärzteblatts"

listische „Erbgesundheitspflege" und Leistungsmedizin freilich nicht rea- lisierbar gewesen wäre — sowie inner- parteiliche Machtkämpfe (unter an- derem mit Reichsärzteführer Wag- ner, der das Vertrauen Hitlers besaß und der an der Ausarbeitung der Nürnberger Rassegesetze maßgeb- lich beteiligt war) drängten Streicher jedoch zunehmend an die Peripherie des nationalsozialistischen Machtge- füges. (16)

Bereits im April 1933 hatten die Vorsitzenden der großen Laienver- bände eine gemeinsame Ergeben- heitsadresse an Hitler gesandt. Sie kamen damit den von der NSDAP- Reichsleitung ausgegebenen „Richt- linien für die Organisationen für Gesundheitspflege" zuvor, die die (Selbst-)Gleichschaltung der Ver- bände und ihre Umgestaltung nach dem Führerprinzip vorschrieben.

(17) 1934 wurde vom Hauptamt für Volksgesundheit bei der Reichslei- tung der NSDAP für alle Verbände eine sinngemäß gleichlautende neue Satzung vorgeschrieben, die die „Ge- sundheitspflicht" zum obersten Prin- zip erhob: „Gesundsein ist die sitt- liche Pflicht des einzelnen gegenüber seinem Volk" lautete nun die Devi- se. (18)

Im Mai 1935 wurden die natur- heilkundlichen Laienverbände zur

„Reichsarbeitsgemeinschaft der Verbände für naturgemäße Lebens- und Heilweise" zwangsvereinigt. Sie unterstand dem Hauptamt für Volksgesundheit und somit dessen Leiter, Reichsärzteführer Wagner.

Erklärtes Ziel war, die Laienbewe- gung der ideologischen Führung ei- ner nationalsozialistischen Ärzte- schaft zu unterstellen, sie sollte mit- wirken an der „Schaffung eines wehrtüchtigen, wehrwilligen, schaf- fensfrohen, an Leib und Seele gesun- den Volkes". (19) Demgegenüber traten die therapeutischen Konzepte der unterschiedlichen Laienverbän- de (Homöopathie, Wasserheilkunde etc.) zunehmend in den Hinter- grund; die Einzelverbände wurden schließlich 1941 aufgelöst und durch den „Deutschen Volksgesundheits- bund" ersetzt.

Selbstverständlich schloß diese Entwicklung die Vereinnahmung der naturheilkundlichen Behandlungs-

möglichkeiten zum Zwecke der Öko- nomisierung der Medizin nicht aus, im Gegenteil: „Kein Kneippianer wird den Arzt wegen jener soge- nannten ,Bagatellschäden' aufsu- chen, er wird vielmehr mit den einfa- chen Kneippanwendungen sich zu helfen wissen." (20) Schulklassen, Rentner, Kriegsbeschädigte und

„Arbeitsopfer" wurden zu großange- legten Heilpflanzensammelaktionen mobilisiert: Im Rahmen der Autar- kiepolitik sollten jene 50 Millionen Reichsmark eingespart werden, die jährlich für den Import ausländi- scher Heilpflanzen aufgewendet werden mußten. Das perverseste Element des „deutschen Heilpflan- zenprojekts" war die Anlage der

„größten Heilkräuterplantage Eu- ropas" im KZ Dachau — hier stan- den kostenlose Arbeitskräfte ausrei- chend zur Verfügung! (21)

Rudolf Heß,

die Homöopathie und die Heilpraktiker

In Zeiten politischer Umwälzun- gen meldeten sich immer wieder bislang außenseiterisch gebliebene Richtungen zu Wort, um ihr Recht auf Anerkennung und Etablierung

einzufordern. So keimten auch in der homöopathischen Bewegung nach der „nationalsozialistischen Revolu- tion" Hoffnungen auf. Dabei konnte man sich auf den „Stellvertreter des Führers", Rudolf Heß, beziehen, der Sympathien für die Homöopathie hegte und bekanntermaßen selbst homöopathische Ärzte und Heil- praktiker konsultierte.

Heß hatte schon 1933 in einer Rede vor Heilpraktikern dafür ge- worben, daß Ärzte und Heilprakti- ker „im gemeinsamen Dienst an der Gesundheit der Nation" zusammen- arbeiten. (22) Dem „Rudolf-Heß- Krankenhaus" in Dresden als Mo- dellprojekt der Zusammenarbeit von

„Schulmedizin" und Naturheilkunde und „ärztlicher Forschungsanstalt für natürliche Heilweise" mit reichs- weiter Bedeutung stellte er seinen Namen zur Verfügung. (23) 1937 übernahm er die Schirmherrschaft des XII. Internationalen Homöopa- thischen Kongresses in Berlin, um

„das Interesse des nationalsozialisti- schen Staates an allen Heilweisen, die der Volksgesundheit dienen, zum Ausdruck zu bringen" und zugleich

„die Ärzteschaft insgesamt auf(zu)- fordern, auch bisher abgelehnte . . . Heilmethoden unvoreingenommen zu prüfen". (24) Von 1936 bis 1939 wurden durch das Reichsgesund- A-1024 (32) Dt. Ärztebl. 86, Heft 15, 13. April 1989

(4)

heitsamt Prüfungen homöopathi- scher Arzneimittel durchgeführt (die freilich auch in der homöopathi- schen Ärzteschaft wegen der nach ihrer Meinung einseitigen Prüfung auf pharmakologische Wirksamkeit heftig umstritten waren).

Hoffnungen und Skepsis wech- selten bei den homöopathischen Ärzten und Laienfunktionären in ra- scher Folge. Der Vorsitzende des Deutschen Zentralvereins homöo- pathischer Ärzte, Dr. Hanns Rabe, bemerkte 1936 nachdenklich: „Die Homöopathie . . . ist tatsächlich in sich ein so geschlossenes Ganzes, daß es nicht leicht fallen wird, sie in dem Neubau der geplanten deut- schen Heilkunde beliebigen Ortes zu verwenden . . ." (25) Die Entwick- lung gab ihm recht: Die Integration der Homöopathie in das Medizinstu- dium gelang nicht; kein einziger Lehrstuhl für Homöopathie wurde während des Dritten Reiches an ei- ner deutschen Universität geschaf- fen. Und nach dem „Englandflug"

von Heß (1941) verlor die Homöo- pathie ihren relevantesten Protektor im Parteiapparat.

Ein Wort noch zum Heilprakti- kergesetz von 1939, an dessen Zu- standekommen Rudolf Heß neben Reichsärzteführer Wagner maßgeb- lich beteiligt war, und das häufig in seiner Bedeutung mißverstanden wurde, denn es hat einen ambivalen- ten Charakter: Zwar wurde durch das Gesetz der Heilpraktikerstand erstmalig staatlich anerkannt, gleich- zeitig sollte es jedoch auch zu seinem Aussterben führen, denn die Ausbil- dung von Nachwuchs wurde den Heilpraktikern verboten. So sollte das Heilpraktikergesetz — wie es Goebbels' Zeitung „Das Reich" for- mulierte — „Wiege und Grab eines Berufsstandes zugleich" sein. (26) Damit wurde der lange gehegte Wunsch der Ärzteschaft nach Auf- hebung der „Kurierfreiheit" durch den nationalsozialistischen Staat tendenziell verwirklicht. (27) (Das Verbot der Ausbildung von Heil- praktikernachwuchs wurde bekannt- lich durch ein Bundesverwaltungsge- richtsurteil nach dem Krieg aufgeho- ben; ansonsten ist das Heilpraktiker- gesetz im wesentlichen unverändert in Kraft.)

Die „Schulmedizin"

setzt sich durch

Während der Jahre 1933 bis 1936 forderte Reichsärztefiihrer Wagner in Reden immer wieder den

„Aufbau einer umfassenden, beide Richtungen der Medizin in sich schließenden neuen deutschen Heil- kunde" (28) und die „Synthese zwi- schen der sogenannten Schulmedizin und der biologischen Heilkunst"

(29). Ziel war — wie gezeigt — die Überwindung der Vertrauenskrise in die Medizin, die Schaffung eines ein- heitlichen nazistischen Ärztestandes und die Vereinnahmung der natur- heilkundlichen Laienbewegung für die Zwecke nationalsozialistischer Gesundheitspolitik. Ab 1936 wurde die „Krise der Medizin" zunehmend zu einer „Krise der charakterlichen

Die bisher erschienenen Beiträge:

Prof. Dr. med. Gunter Mann: Biologis- mus — Vorstufen und Elemente einer Medizin im Nationalsozialismus (Heft 17/1988); Prof. Dr. phil. Gerhard Baa- der: Rassenhygiene und Eugenik — Vorbedingungen für die Vernich- tungsstrategien gegen sogenannte

„Minderwertige" im Nationalsozialis- mus (Heft 27/1988); Prof. Dr. Werner- Friedrich Kümmel: Die „Ausschal- tung" — Wie die Nationalsozialisten die jüdischen und die politisch mißlie- bigen Ärzte aus dem Beruf verdräng- ten (Heft 33/1988); Dr. Hans-Peter Kröner: Die Emigration von Medizi- nern unter dem Nationalsozialismus (Heft 38/1988); Dr. Georg Lilienthal:

Medizin und Rassenpolitik — Der „Le- bensborn e. V." der SS (Heft 44/1988);

Dr. med. Peter Reeg: Deine Ehre ist die Leistung — Auslese und Ausmerze durch Arbeits- und Leistungs-Medizin im Nationalsozialismus (Heft 51-52/1988); Christiane Rothmaler:

Zwangssterilisationen nach dem „Ge- setz zur Verhütung erbkranken Nach- wuchses" (Heft 4/1989); Prof. Dr.

med. Dr. phil. Rolf Winau: Die Frei- gabe der Vernichtung „lebensunwer- ten Lebens" (Heft 7/1989); Prof. Dr.

med. Eduard Seidler: Alltag an der Peripherie — Die Medizinische Fakul- tät der Universität Freiburg im Win- tersemester 1932/33 (Heft 9/1989);

Prof. Dr. Dr. Klaus Dömer: Anstalts- alltag in der Psychiatrie und NS-Eu- thanasie (Heft 11/1989); Prof. Dr. phil.

Gerhard Baader: Menschenversu- che in Konzentrationslagern (Heft 13/1989); Michael Hubenstorf: Von der „freien Arztwahl" zur Reichsärz- teordnung (Heft 14/1989).

Einstellung . . . zu Volk und Rasse"

uminterpretiert, „welche der natio- nalsozialistische Umbruch . . . über- wunden hat". (30) Führende Vertre- ter der „Schulmedizin" — die wohl die Mehrheitsmeinung der deut- schen Ärzte repräsentierten — for- derten, das „Krisengerede" zu been- den und sich „konstruktiver Aufbau- arbeit" zuzuwenden. Sie erhielten Unterstützung von maßgeblichen NS-Politikern und Rasse-Ideologen, die die wissenschaftlichen Leistun- gen der deutschen Hochschulen als

„über jeden Zweifel erhaben" dekla- mierten. (31) Die exakte Naturwis- senschaft wurde vom Leiter des Ras- senpolitischen Amtes der NSDAP, Dr. Walter Groß, als „Ergebnis ger- manischen Geistes" gefeiert. (32) Und die Zeitschrift der SS, „Das Schwarze Korps", attestierte 1938:

„Die Schulmedizin ist schon nicht mehr die Schulmedizin alten Schlages, sondern eine umfassende Heilwissenschaft." (33) Hintergrund für diese Entwicklung waren die Er- fordernisse des Vierjahresplanes ab 1936. Die Naturärzte sahen sich er- neut an den Rand gedrängt. Ihre Kritik an „Schulmedizin", Naturwis- senschaft und chemisch-pharmazeu- tischer Industrie wurde nach Kriegs- beginn vom NS-Regime nicht mehr geduldet. Resigniert stellten sie fest:

„Wir stehen noch vor den Toren der ,Neuen Deutschen Heilkunde'." (34) Der Tod von Dr. Wagner im März 1939 und die Ernennung seines Nachfolgers Dr. Leonardo Conti zum Reichsgesundheitsführer mar- kierten den Endpunkt der „Synthe- sebestrebungen" von „Schulmedi- zin" und Naturheilkunde.

Vom Ergebnis her muß man feststellen, daß die nationalsozialisti- sche Gesundheitspolitik der Ärzte- schaft tendenziell das Monopol auf die Heilbehandlung zuteilte und daß die „Schulmedizin" und mit ihr die pharmazeutisch-technische Großin- dustrie zu einer neu fundierten Do- minanz im Gesundheitswesen gelan- gen konnte, die bis heute fortwirkt.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Alfred Haug Arzt für Allgemeinmedizin Hengeloer Straße 13 2800 Bremen 66 A-1026 (34) Dt. Ärztebl. 86, Heft 15, 13. April 1989

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