ie World Health Organization (WHO) definiert Gesundheit als einen Zustand vollkomme- nen physischen und sozialen Wohlbe- findens. Im Umkehrschluss heißt dies, dass nahezu jeder Mensch krank ist.
Ein solcher Gesundheitsbegriff kann nicht im Sinne eines sozialen Kran- kenversicherungssystems sein. Das Sozialgesetzbuch V verpflichtet daher den Arzt nurzur medizinisch ausrei- chenden und zweckmäßigen Heilbe- handlung; die Pflicht der Krankenver- sicherung beschränkt sich nach dem Gesetz auf die Erstattung der notwen- digen Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung, zur Besserung und zur Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit.
Nach § 12 Absatz l SGB V ge- hören nicht notwendige oder unwirt- schaftliche Leistungen nicht dazu. Die Grenzen der „medizinischen Notwen- digkeit“ haben sich mit dem medizini- schen Fortschritt allerdings verscho- ben. Beim Brustkrebs zum Beispiel ist ein Wiederaufbau heute selbstver- ständlicher, integraler Bestandteil im Therapiekonzept des Mammakarzi- noms, sofern die Brust nicht erhalten werden kann. Medizinisch notwen- dig? Keinesfalls: Eine Brustrekon- struktion verlängert die Lebenserwar- tung um keinen Tag, hat keinen Ein- fluss auf die Prognose, sondern setzt die Patientin den Unwägbarkeiten weiterer Eingriffe aus.
Vor nicht allzu langer Zeit waren noch Stimmen gegen den Brustaufbau zu hören; die Betroffene möge dar- über froh sein, mit dem Leben davon- gekommen zu sein. Der psychologi- sche Gewinn einer wiederhergestell- ten Silhouette wird heute von nieman-
dem mehr angezweifelt. Sogar für ei- nen so genannten Brustsofortwieder- aufbau, das heißt Amputation und Rekonstruktion in einer operativen Sitzung, bestehen kaum mehr Kontra- indikationen, vorausgesetzt natürlich, die Patientin wünscht es.
Der schnelle Wandel im Ver- ständnis von medizinisch Notwen- digem ist an diesem Beispiel gut er- kennbar. Gleichzeitig zeigt es auf, dass die medizinischen Techniken in- zwischen Verfahren ermöglichen, die das Leistungsspektrum erweitern.
Vor dem Hintergrund der demogra- phischen Veränderung der Bevölke- rungsstruktur wird die Problematik der dauerhaft nicht mehr finanzier- baren medizinischen Leistungen of- fenbar.
Der Gesetzgeber, der grundsätz- lich Eingriffe zur Formveränderung des äußeren Erscheinungsbildes zula- sten des Versicherungsträgers als un- gerechtfertigt ansieht, hat Ausnah- men zugelassen. Diese betreffen:
❃Korrekturen zur Verbesserung oder Wiederherstellung der Funktion,
❃Korrekturen zur Verbesserung oder Beseitigung von Entstellungen.
Einschränkend muss hinzugefügt wer- den, dass Korrekturen von physiologi- schen Veränderungen als Folge von Alter, Schwangerschaft, Ernährung, Abusus von Suchtmitteln und ande- rem keine medizinisch indizierten Eingriffe darstellen.
Die psychische Störung
Nicht selten ist das Argument zu hören, ein störendes, äußerliches Stig- ma führe zu psychischer Beeinträchti-
gung, und dies begründe automatisch die Erstattungspflicht. Das Bundesso- zialgericht hat in einem Urteil vom 20.
Februar 1993 (Az.: 1 RA 14/92) dazu folgendes festgestellt:
„Liegt eine psychische Störung vor, so ist sie mit den Mitteln der Psychiatrie und Psychotherapie zu behandeln. Jedenfalls umfasst die Leistungspflicht der Krankenkasse nicht die Kosten für operative Ein- griffe in einen regelrechten Körper- zustand, um auf diesem Wege eine psychische Störung zu beheben oder zu lindern.
Dies gilt selbst dann, wenn wegen der krankheitsbedingten Ablehnung der psychiatrischen, psychotherapeu- tischen Behandlung keine andere Möglichkeit der ärztlichen Hilfe be- steht. Bei psychischen Störungen, die als Dysmorphophobie einzustufen sind, ist eine ästhetische Operation in jedem Falle sogar kontraindiziert . . .“
Kostenübernahme befürworten- de Gefälligkeitsgutachten, in denen psychiatrische Notfälle aufgrund von physiologischen Befindlichkeitsstö- rungen konstruiert werden, schaden letztlich den Beitragszahlern und der Ärzteschaft, da die Beiträge und die gedeckelten Budgets dafür herhalten müssen.
Im Folgenden soll mit einigen Beispielen die grundlegende Proble- matik verdeutlicht werden.
❃Narbenkorrekturen: Ein 33-jäh- riger Patient stört sich an einer älteren eingezogenen, im ehemaligen Wund- bereich leichte Dysästhesien verursa- chenden Blinddarmnarbe. Diese ent- stellt nach Empfinden des Patienten den Bauch, wenn er eine Badehose
trägt. ✁
A-157 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 4, 28. Januar 2000
T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE
Plastische Chirurgie
Was die Kassen als Krankheit anerkennen
Recht eng gesteckt ist der Rahmen für Pflichtleistungen der Gesetzlichen Kranken- versicherung, wenn es um Korrekturen des äußeren Erscheinungsbilds geht.
Joachim Graf von Finckenstein
D
Diese Korrektur kann keine Kas- senleistung sein, da die Narbe als Fol- ge eines physiologischen Heilungs- prozesses nicht a priori entstellt. Mei- stens lassen sich weder ästhetische Besserungen noch die Beseitigung narbiger Dysästhesie zufriedenstel- lend erzielen. Die Korrektur einer
Gesichtsnarbe ist nach einschlägigen Kommentaren nur medizinisch auf Kosten der Kassen indiziert, wenn sie entstellend wirkt. An anderen Kör- perstellen, insbesondere über Gelen- ken, muss sie funktionsbehindernd sein. Bei Kindern kann eine Narbe (zum Beispiel nach Verbrühung), die
zu psychosozialen Konflikten führt, auch dann für die Krankenkassen er- stattungspflichtig werden, wenn keine Funktionsstörung vorliegt.Bei abste- henden Ohren wird die Entscheidung in ähnlicher Weise getroffen.
❃Brustoperationen: Eine 56-jäh- rige Patientin bemerkt, dass ihre Brust im Verlauf der Wechseljahre an Umfang zugenommen hat und dass die neue, ungewohnte Fülle im Missverhältnis zur übrigen Körpersil- houette steht.Eine Hypertrophie der weiblichen Brust ohne eigentlichen Krankheitswert ist keine medizini- sche Indikation zur Reduktionplastik zulasten der Krankenkassen (Abbil- dung 1). Erst bei Mammagiganto- mastien erheblichen Ausmaßes mit hartnäckigen Intertriginalekzembil- dungen in den Brustumschlagsfalten, schmerzhaften BH-Schnürfurchen im Schulterbereich oder gewichts- bezie- hungsweise haltungsbedingten Wir- belsäulenschäden liegt eine behand- lungspflichtige „Krankheit“ im Sinne des Gesetzes vor.Je nach Konstituti- on kann davon ausgegangen werden, dass eine medizinische Indikation be- steht, wenn mehr als 500 Gramm pro Seite entfernt werden müssen (grober Anhaltswert).
❃Eine 33-jährige Patientin leidet unter einer deutlichen Brustatrophie nach zwei Schwangerschaften. Der Wunsch nach „erneuter Füllung“ ih- rer ehemaligen Körbchengröße führt sie zum plastischen Chirurgen. Eine angeboren kleine, leicht asymmetri- sche oder physiologisch nach Schwan- gerschaft oder altersbedingt erschlaff- te Brust ist keine Erkrankung und kann nicht zulasten der Krankenkas- sen korrigiert werden. Erst eine deut- lich entstellende Brustaplasie oder Brustfehlanlage darf über die gesetzli- chen Versicherungsträger beseitigt werden. Der Zustand nach einer Brust(teil)amputation stellt eine Er- krankung im Sinne des SGB V dar.
Die Rekonstruktion und die Folge- eingriffe (Brustwarze, Angleichungen der Gegenseite) gehen zu Lasten der Krankenkassen.
❃ Adipositaseingriffe: Eine jun- ge, sportliche Patientin stört das hart- näckig verbleibende Fettgewebe im Gesäßbereich nach erfolgreich durch- geführter Diät mit einem Gewichts- verlust von fünf Kilogramm.
A-158 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 4, 28. Januar 2000
T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE
Tabelle
Korrektur des äußeren Erscheinungsbilds und Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen (12 klassische Entscheidungsbeispiele)
Narbenkorrektur NEIN
Ausnahme: Funktionsbehinderung oder Entstellung, besonders im Gesicht und bei psychosozialen Problemen im Kindesalter
Beseitigung von Hauterschlaffungen im Gesicht NEIN Ausnahme: Oberliderschlaffung mit Gesichtsfeldeinschränkung
ab 10° bei Blick nach oben; krankhafter Oberlid-Muskeltonus;
Unterliderschlaffungen mit pathologischem Ektropium
Anlegen abstehender Ohren JEIN
JAbei Kindern bis zur Pubertät, wenn sie zu psychosozialen
Problemen führen, später NEIN;Ohren werden als abstehend bezeichnet bei einem Muschel/Schädel-Winkel von mehr als 45°
Nasenkorrekturen NEIN
Ausnahme: Äußere, entstellende Veränderungen durch Unfälle oder Tumoren;
innere Veränderungen bei Atembehinderung (Septumschiefstand o.ä.)
Brustwiederherstellung JA
nach Krebs, bei Brustfehlanlage etc.
Brustvergrößerung NEIN
Ausnahme: die Brustfehl-/Brustminderanlage
Brustverkleinerung NEIN
Ausnahme: Brustgigantomastien mit objektivierbarem Krankheitsbild.
Unverbindliche Richtgröße: mehr als 500 g Gewebeentfernung je Seite
Tätowierungsentfernung NEIN
Ausnahme: allergische Reaktionen auf die Farbgebung, Schmutztätowierungen
Hauttumor-, Hautfleckenentfernung JEIN
JAbei Neigung zur malignen Entartung; NEINbei störenden
Hauterhebungen und/oder -farbgebungen (zum Beispiel Sommersprossen)
➓ Fettabsaugung NEIN
Ausnahme: bei krankhafter Elephantiasis beziehungsweise bei therapierefraktärer, mechanischer Behinderung
❶ Bauchfettschürzenbeseitigung NEIN
Ausnahme: erhebliche, mechanische Beschwerden oder bei hartnäckigen Intertriginalekzemen
❷ Transsexualität JA
sofern die Psychotherapie den Alltagstest über zwei Jahre begleitet hat und dabei das Spannungsverhältnis zwischen Geschlechtsidentifikation und körperlichem Geschlecht nicht zu verhindern oder erträglich
zu lindern vermochte.
Beseitigung von Fettleibigkeit geht grundsätzlich nicht zulasten der Versicherungsträger. Auch wenn alle anderen Maßnahmen ausgeschöpft sind, sind lokalisiert verbleibende Fettpolster oder „zellulitische“ Un- ebenheiten keine Krankheiten, für deren Beseitigung der Versicherungs- träger aufzukommen hätte. Anders verhält es sich bei dem folgenden Bei- spiel: Ein 24-jähriger Patient hat kon- sequent über 80 Kilogramm von 180 auf unter 100 Kilogramm abgenom- men, sodass eine klassische „Bauch- fettschürze“ entstanden ist, die neben schwer therapierbaren Pilzdermato- sen besonders im Sommer bis zu uro- logischen Beschwerden beim Wasser- lassen führen kann (Abbildung 2).
Nach massiver Gewichtsabnahme mit konsekutiven Intertriginalekzemen und/oder mechanischen Störungen oder zum Beispiel bei krankhafter Elephantiasis geht der operative Ein- griff auf Kosten der Versicherungs- träger.
Krankhafte Folgen von Schönheitsoperationen
Über krankhafte Folgen ästhe- tischer Operationen finden sich in der Literatur keine eindeutigen Stel- lungnahmen. Meines Erachtens ge- hören Folgeeingriffe wie zum Beispiel bei Kapselfibrosen nach Implantat- einlagen oder stationäre Nachbe- handlungen wegen postoperativer
Zwischenfälle zur Leistungspflicht der Krankenversicherungen, ebenso wie die Folgen des Rauchens oder extremer Sportarten im Krankheits- fall dazugehören.
Eine salomonische Entscheidung traf die AOK Garmisch bei einer Pa- tientin, deren vor 15 Jahren eingesetz- ten Silikonprothesen sich verhärteten und zur Operation anstanden. Einer Entfernung und anschließenden Raf- fung zur – wenn auch verkleinerten – Wiedergewinnung der Brustform stimmte sie zu, einem Austausch er- neuter Prothesen nicht.
Es gehört zur Aufgabe des Arz- tes, seinen Patienten realistische Vor- gaben für das mitzugeben, was nach
heutigem Stand als Leistung von den Krankenkassen erstattungsfähig ist.
Er sollte aber auch den Mut aufbrin- gen, der Vollkaskomentalität einiger Patienten entschieden entgegenzu- treten. Das Bewusstsein wird damit zunehmend geschaffen, nicht jede ärztliche Leistung gehöre automa- tisch von den Krankenkassen ersetzt.
Die in der Tabelle aufgeführten Bei- spiele sind typische, in der täglichen Praxis am häufigsten auftretende Fra- gen. Durch die Vielfältigkeit der mög- lichen Pathologien kann diese Liste nicht den Anspruch auf Vollständig- keit erheben.
Die Erstattungssituation sollte im Vorfeld geklärt werden. Zusam- men mit dem Medizinischen Dienst, dem Haus- und Facharzt sowie gege- benenfalls auch dem Psychiater soll- ten die Weichen gestellt werden, dass der Krankenkasse eine faire Entschei- dungsfindung ermöglicht wird.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A-157–159 [Heft 4]
Das Literaturverzeichnis ist über den Sonder- druck beim Verfasser und über die Internetseiten (www.aerzteblatt.de) erhältlich.
Anschrift des Verfassers
Dr. med. Joachim Graf von Finckenstein Facharzt für Plastische Chirurgie Wittelsbacher Straße 2 a
82319 Starnberg
A-159 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 4, 28. Januar 2000
T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE
Abbildung 2: Die Dermolipektomie einer Bauchfettschürze ist dann von den Krankenkassen zu bezahlen, wenn zum Beispiel nach starker Gewichtsabnahme erhebliche mechanische Behinderungen oder therapie- refraktäre Intertriginalekzeme bestehen. Fotos: Kreiskrankenhaus Starnberg
Abbildung 1: Brustreduktionsplastik bei einer 56-jährigen Patientin. Die Mamma ist zwar beidseitig groß, aber nicht krankhaft hypertroph, und somit sind die Krankenkassen nicht zur Übernahme der Operations- kosten verpflichtet.