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Archiv "Psychisch Kranke in der Umweltmedizin" (31.03.2000)

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ie Umweltmedizin befasst sich mit denjenigen Erkran- kungen, die auf Umweltein- wirkungen zurückzuführen sind oder von den Betroffenen auf Umweltein- wirkungen zurückgeführt werden.

In den letzten Jahren hat die In- anspruchnahme von Umweltambu- lanzen und Beratungsstellen wegen umweltbedingter oder Umweltein- flüssen zugeschriebener Beschwer- den deutlich zugenommen.

Die Bundesärztekammer hat im

„Kursbuch Umweltmedizin“ Inhalte der theoretischen Weiterbildungs- gänge der Landesärztekammern für die mittlerweile bundesweit zu er- werbende Zusatzbezeichnung „Um- weltmedizin“ festgeschrieben. Das Kursbuch und ebenso die verstärkte Thematisierung in der ärztlichen Öf- fentlichkeit sind auch als ärztliche Antwort auf die Diskussion um mög- liche gesundheitliche Auswirkungen von Umweltschadstoffen zu sehen, nachdem paramedizinische Kreise zunehmende Aktivitäten entfaltet hatten. Fachliche Gründe spielen hier ebenso eine Rolle wie standes- politische Erwägungen. Das Kurs- buch behandelt klassische toxikolo-

gische, arbeitsmedizinische und al- lergologische Inhalte und dabei hauptsächlich die nachweisbaren Be- lastungen durch definierte Toxine oder Allergene. Die Hauptklientel der umweltmedizinischen Beratungs- stellen sowie der stationären Be- handlungseinrichtungen (zum Bei- spiel internistische Rehabilitations- kliniken mit „Entgiftungsangebo- ten“) besteht jedoch aus Patienten ohne toxikologisch fassbare Einflüs- se (4, 7).

Patienten in

Umweltambulanzen

Erfahrungen der interdiszipli- nären Umweltambulanzen an einzel- nen Universitätskliniken haben ge- zeigt, dass nur ein kleinerer Teil der Patienten Beschwerden hat, die nach differenzierter Labordiagnostik und den stets hinzuzuziehenden Unter- suchungen am Expositionsort einer bestimmten Noxe zugeordnet wer- den können. Die Mehrheit der dort

Hilfe suchenden ist nicht aufgrund einer fassbaren toxischen oder phy- sikalischen Belastung erkrankt. Die meisten Patienten klagen über Be- schwerden wie Müdigkeit, Verstim- mungszustände, Reizbarkeit, Kon- zentrationsstörungen, Leistungsknick, Parästhesien oder subjektiv ver- stärkten Haarausfall. Diese Be- schwerden sind uncharakteristisch und erlauben keine spezifische Zu- ordnung zu umschriebenen Bela- stungen. Liegt also bei dieser Patien- tengruppe ein psychoreaktiver Ent- stehungsmechanismus vor? Wenn ja:

Wie ist dieser zu verstehen?

Belastete Umwelt als Projektionsfläche

Nicht zuletzt aufgrund der in- tensiven Mediendiskussion hat die zivilisatorisch belastete und bedroh- te Umwelt einen großen Stellenwert im Erleben psychisch gesunder wie kranker Menschen. Tatsächliche Er- eignisse wie die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl, Ölverschmutzungen nach Tankerhavarien, Flussverseu- chungen durch Chemieunfälle, Ha- A-835

M E D I Z I N DIE ÜBERSICHT

Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 13, 31. März 2000

Psychisch Kranke

in der Umweltmedizin

Hanns Rüdiger Röttgers

Viele Patienten klagen über Störungen, die sie schädlichen Umwelteinflüssen zuschreiben, ohne dass auch bei sorg- fältiger Untersuchung eine Belastung durch Noxen oder Allergene nachweisbar wäre. Die Beschwerden und psychischen Befunde dieser Patienten entsprechen häu- fig denen hypochondrischer und konversionsneuroti- scher Erkrankungen; zuweilen handelt es sich um Psy- chosen. Diese Patienten mangels objektivierbarer Befun- de zurückzuweisen, liefert sie paramedizinischen Hilfs- angeboten aus oder führt zu einem Rückzug in Be-

troffenensubkulturen. Ebenso wenig wird eine unkritische Übernahme

der subjektiven Überzeugungen durch den behandeln- den Arzt der psychischen Erkrankung gerecht, denn sie verhindert eine angemessene psychiatrische Behandlung der unter oftmals hohem Leidensdruck stehenden Patien- ten.

Schlüsselwörter: Umweltassoziierte Störung, Multiple Chemical Sensitivity, psychiatrische Differenzialdiagnose, angemessene psychiatrische Behandlung

ZUSAMMENFASSUNG

Psychiatric Disorders in Environmental Medicine The majority of patients with symptoms attributed to environmental effects do not show signs of intoxication or allergic reactions. Clinical findings as well as psycho- pathology resemble hypochondria or conversion disorders, but in some cases may also be caused by psychotic dis- orders. If these patients are blatantly rejected they tend to retreat in so-called patient support and advocacy net-

works and seek unsubstantiated treatment practices. If, on the other hand, the physician

uncritically accepts the patient’s underlying belief sys- tems, the necessary psychiatric treatment cannot be ini- tiated either.

Key words: Environmental illness, multiple chemical sen- sitivity, psychiatric differential diagnosis, adequate psy- chiatric treatment

SUMMARY

D

Amt für Gesundheit und Umweltmedizin (Lei- ter: Dr. med. Bernhard Krüger), Verden/Aller

(2)

logenkohlenwasserstoff-Einträge in das Grundwasser, aber auch ver- meintliche Faktoren wie Elektro- smog, Wasseradern, Erdstrahlen grei- fen als unbeeinflussbare Größen in das Leben ein und und gewinnen als Gegenstand von realen wie irrealen Ängsten eine große subjektive Be- deutung für viele Menschen. Da das Individuum mit seinen Sinnen das

„heimtückische“ Element der Bela- stungen nicht erfassen kann, handele es sich um Radioaktivität, chemische Niedrigdosisbelastungen oder die vermeintliche chronische Amalgam- vergiftung durch Zahnfüllungen, wird die erlebte Bedrohung um so größer. Diese beiden Faktoren, die Unbeeinflussbarkeit und die Nicht- erfahrbarkeit, stellen die zivilisatori- schen Umweltbedrohungen im sub- jektiven Erleben an die Seite sol- cher Bedrohungen, wie sie für den vormodernen Menschen unerklärli- che Phänomene, Geister und Natur- gewalten waren. Damit bilden sie ei- ne ideale Projektionsfläche für Ohn- macht und Ängste bestimmter, näm- lich phobischer Menschen und das Kausalitätsbedürfnis des funktionell Gestörten oder die Befürchtungen des hypochondrisch Kranken. Zu- dem können sie Thema des Beein- trächtigungserlebens von Wahnkran- ken werden.

Eine Phobie ist dann anzuneh- men, wenn anhaltende Ängste und ein deutliches Vermeidungsverhal- ten vor einer umschriebenen Noxe bestehen: Dabei kann es sich zum Beispiel um erhöhte Ozonwerte bei Sommersmog handeln, wenn dem nicht ein hyperreagibles Bronchial- system zugrunde liegt. Ein hypo- chondrisch Kranker beschäftigt sich übermäßig und dauerhaft mit kör- perlichen Zeichen oder Empfindun- gen, die seines Erachtens Beweis für eine schwere Erkrankung sind. Hier- her gehört aus dem umweltmedizini- schen Themenkreis etwa eine Krebs- phobie nach einer geringgradigen Formaldehyd-Exposition. Bekann- ter Anknüpfungspunkt waren in den 80er-Jahren die Holzregale eines schwedischen Selbstbaumöbelhau- ses. Funktionelle Störungen treten vor allem im gastrointestinalen Be- reich, als Herzbeschwerden und pseu- doneurologische Symptome auf und

führen bei Kranken auch dann zu der Überzeugung, körperlich krank zu sein, wenn keine organischen Er- krankungen oder pathophysiologi- schen Mechanismen vorliegen.

Wenn diese Patienten umweltmedi- zinische Stellen aufsuchen, beschul- digen sie häufig einen bestimmten Schadstoff und haben bereits in po- pulärwissenschaftlichen Veröffentli- chungen oder Betroffenenliteratur dazu „Beweise“ gesammelt.

Eine Wahnentwicklung im Sin- ne einer Paranoia kann dann vorlie- gen, wenn eine für die Umgebung nicht nachvollziehbare Überzeugung unbeirrbar aufrechterhalten wird.

Dabei ist das Denken, anders als zum Beispiel bei schizophrenen Menschen, jenseits des häufig sehr eingegrenzten Gegenstands des Wahns nicht erkennbar gestört. Die Wahnentwicklung kann bei einge- hender Untersuchung psychodyna- misch ableitbar sein. Wenn Ehepart- ner oder andere enge Bezugsperso- nen den Wahn eines Ersterkrankten übernehmen, spricht man wie in der folgenden Kasuistik von induziertem oder symbiontischem Wahn („folie à deux“). Hierzu ein Beispiel: Ein 60- jähriger Pensionär begibt sich auf Drängen seiner Hausärzte in die Psychiatrische Klinik, nachdem meh- rere umweltmedizinische Behandlun- gen in internistischen und psychoso- matischen Abteilungen erfolglos blie- ben. In der Untersuchung wird ein ausgeprägter symbiontischer Wahn sichtbar: Die Ehefrau ist davon über- zeugt, aufgrund eines vor Jahren mehrmals angewandten Flohschutz- mittels für die Hauskatze vermehrt an Haarausfall zu leiden und bringt diesen Vorgang mit großer Resonanz in die regionalen und überregionalen Medien. Die Bemühungen, unter- mauert durch verschiedene Grenz- wertbefunde von „Umweltlabors“, führen bis zu einer Anfrage im Eu- ropäischen Parlament. Bemerkens- wert ist, dass in der Korrespondenz ganz unterschiedliche Substanzen beschuldigt werden, die mit der frag- lichen Chemikalie nicht einmal ver- wandt sind. Der Ehemann sekun- diert seiner Ehefrau, unterstützt sie ausdrücklich, organisiert die Korre- spondenz mit anderen „Betroffe- nen“ und leidet nunmehr ebenfalls

an den dem Flohgift zugeschriebe- nen Symptomen. In der Klinik ge- lingt mit einer behutsamen Psycho- therapie und einer niedrigdosierten neuroleptischen Behandlung mit 2 mg Haloperidol/die eine schrittweise Distanzierung. Zu einer psychody- namischen Hypothese zur Krank- heitsentstehung trägt der Patient in dieser Behandlungsphase selbst ent- scheidend bei, indem er von frühe- ren „ehelichen Verfehlungen“ be- richtet, für die er jetzt mit seiner „ab- soluten Loyalität“ gegenüber der Ehefrau einzustehen habe, auch wenn er nicht jede Überzeugung tei- le. Die Ehefrau selbst akzeptiert die angebotene Mitbehandlung nur zö- gernd und bricht sie rasch wieder ab;

in der Nachuntersuchung nach der Entlassung ist der Ehemann wieder vollständig in das Wahnsystem ein- gebunden und zu keinerlei Distan- zierung mehr in der Lage.

Das Nozebo-Konzept

Hypochondrische und angstneu- rotische Entwicklungen sind also häufig der Hintergrund von der Um- welt zugeschriebenen Beschwerden, aber auch paranoide und querulato- rische Menschen knüpfen an ver- meintliche oder tatsächliche Um- weltbelastungen an. Aufgrund die- ser Differenzierung muss die postu- lierte Krankheit der MCS (Multiple Chemical Sensitivity) begründet in- frage gestellt werden. „We conclude that patients receiving this diagnosis may have one or more commonly re- cognized psychiatric disorders that could explain some or all of their symptoms“ (1). „MCS can be mostly defined in terms of beliefs and beha- viours“ (5).

In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff des „Nozebo-Effek- tes“ zu sehen: In Analogie zu dem bekannten Plazebo-Effekt ist ge- meint, dass Verhaltens- und Emp- findungsveränderungen und wahr- scheinlich auch autonom-vegetative Veränderungen zeitlich nach Um- welteinflüssen auftreten, aber eben ohne einen toxikologisch oder aller- gologisch fassbaren Kausalzusam- menhang. Birbaumer und Bock (2) fassen zusammen, dass „starke Er- A-836

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wartungshaltungen, die mit Beein- flussbarkeit und Angst gekoppelt sind, die Basis des Nozebo-Effektes darstellen“. Wahrscheinlich gilt Ent- sprechendes für das Chronic Fatigue Syndrome (CFS).

Anders ist dagegen das Sick Building Syndrome zu bewerten, das nach dem heutigen Wissensstand die Folge ungünstiger Verhältnisse kli- matisierter Großbauten darstellt und auf entsprechende Abhilfe meist remittiert (3).

Umgang mit psychisch kranken

„Umweltpatienten“

Bei der Frage, ob diese psychi- schen Reaktionen seitens der Ärzte- schaft angemessen beantwortet wer- den, sind vor allem zwei Tendenzen problematisch: Die übliche toxikolo- gische Herangehensweise sucht nach verifizierbaren Schadstoffexpositio- nen und noxenspezifischer Organ- pathologie und bietet Patienten oh- ne positiven Nachweis kein ange- messenes Hilfsangebot (8). Diese Patienten kehren desillusioniert der Medizin den Rücken und konsultie- ren selbst ernannte paramedizini- sche Experten oder verstricken sich in langwierige juristische Auseinan- dersetzungen mit den vermeintli- chen Schädigern; andere wiederum ziehen sich resigniert zurück.

Der entgegengesetzte Fehler im Umgang mit diesen Patienten ist die Übernahme des laienhaften Krank- heitsmodells durch den behandeln- den Arzt, sei es aus Unwissen oder aus unreflektierter Zuwendungsbe- reitschaft. Wenn Ärzte sich unzutref- fende Krankheitsmodelle wider bes- seres Wissen zu Eigen machen, han- deln sie nicht im Interesse des Pati- enten, sondern fördern seine Fehl- haltung und verstärken die Chronifi- zierungstendenz. Sie werden dem Patienten, dessen Beschwerden ja bleiben oder allenfalls einem Sym- ptomwechsel unterliegen, nicht ge- recht (6). Diese unkritisch akzeptie- rende und verführerisch bequeme Sichtweise, die ohne Rücksicht auf naturwissenschaftliche Überlegun- gen die Kausalitätszuschreibungen der Patienten übernimmt, führt zu

unüberlegten Krankheitsbegriffen wie der oben bereits erwähnten Mul- tiple Chemical Sensitivity.

Die Prägung solcher Krank- heitsentitäten, die lediglich durch ei- ne Anzahl funktioneller Symptome definiert werden, fördert zudem nicht substanziierte Behandlungs- verfahren. Eine unbekannte, aber ohne Zweifel erhebliche Zahl von Personen unterzieht sich zum Bei- spiel aufgrund der Fehldiagnose ei- ner Quecksilbervergiftung der so ge- nannten Amalgamausleitung mit ih- rerseits tatsächlich toxischen Kom- plexbildnern. Die unglückliche Rol- le mancher Ärzte und Zahnärzte hierbei ist nicht zu unterschätzen.

Ein besonders drastisches Beispiel hierfür illustriert die folgende Kasui- stik:

Ein etwa 55-jähriger, zuvor we- gen eines Lendenwirbelsäulen-Syn- droms und zunehmender Konflikte im Kollegium zunächst auf Zeit pen- sionierter Gymnasiallehrer kehrt mit Konzentrations- und Schlafstörun- gen von einer Urlaubsflugreise zu- rück und verlangt von seinem Haus- arzt die Einleitung einer „Entgif- tung“: Er sei von den Rückständen des zur Polsterreinigung im Flugzeug benutzten Sprays vergiftet worden.

Damit sei er nun endgültig dienstun- fähig.

In der Vergangenheit wurden bei dem Patienten bereits sämtliche Amalgamfüllungen entfernt und ei- ne Behandlung mit Komplexbild- nern durchgeführt, da ein Zahnarzt und ein Heilpraktiker eine chroni- sche Quecksilbervergiftung als Ursa- che von Reizbarkeit und Kopf- schmerzen vom Spannungstyp

„identifiziert“ hatten.

Der Hausarzt überweist den Pa- tienten an einen HNO-Arzt mit der Zusatzbezeichnung „Umweltmedi- zin“. Dieser rät, ohne weiter unter- sucht zu haben, unter explizitem Hinweis auf das Polsterreinigungs- mittel zu einer „stationären Entgif- tungskur“ in einer internistischen Privatklinik.

Die zur Kostenübernahme not- wendige amtsärztliche Stellungnahme wartet der Patient nicht ab – „es war ein Notfall, sonst hätte mir der Arzt keine Entgiftung verschrieben“ –, die internistische Klinik behandelt den

Patienten seinen Vorstellungen ge- mäß mit „entschlackend-ausschwem- mender Entgiftungskost“ und „De- toxikation“ mit Koloneinläufen. Im Entlassungsbrief übernimmt die Kli- nik das Krankheitskonzept des Pati- enten, äußert angesichts der „abge- laufenen Zeit seien toxikologische Laborbestimmungen nicht mehr sinn- voll gewesen“ und distanziert sich le- diglich implizit, indem der Begriff Ent- giftung einige Male in Anführungs- zeichen gesetzt wird.

Als die Kostenübernahme für die Behandlung, verbunden mit der äußerst behutsamen persönlichen Empfehlung einer psychiatrischen Behandlung, abgelehnt wird, ant- wortet der Patient mit beleidigenden Schreiben an den Gutachter, Wider- spruch und letztlich Klage.

Aus psychiatrischer Sicht liegen bei dem Patienten eine Somatisie- rungsstörung und eine querulatori- sche Entwicklung vor. Zudem könn- te der Patient unter einer beginnen- den hirnorganischen Leistungsmin- derung leiden, wofür Reizbarkeit und Konzentrationsstörungen spre- chen.

Zum psychodynamischen Hin- tergrund ist eine lange latent schwe- lende Auseinandersetzung mit der ebenfalls als Lehrerin tätigen, we- sentlich jüngeren Ehefrau zu erwäh- nen; die Flucht in Symptome und fortwährende Auseinandersetzung erspart dem Patienten die Konfron- tation mit dem vor allem im Ver- gleich zur Ehefrau zunehmend ein- geschränkten kognitiven und kör- perlichen Vermögen, vermeidet aber auch Anstrengung und Konflikte am Arbeitsplatz.

Die Ehefrau wiederum stützt das Krankheitskonzept des Eheman- nes und seine Forderung nach immer neuen stationären „Entgiftungen“

vehement und entlastet sich so zu- mindest zeitweise von dem zuneh- mend im Umgang reizbareren und mürrischeren Ehemann.

So haben die Patienten häufig nicht nur eine Odyssee durch ver- schiedene Krankenhausabteilungen hinter sich, sondern sind auch mit den oben erwähnten pseudomedizi- nischen Heilverfahren in Kontakt gekommen. Deren Vertreter versu- chen – teils aus eigener Überzeu- A-838

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DIE ÜBERSICHT

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Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 13, 31. März 2000 gung, teils aus wirtschaftlichem In-

teresse – Angst vor der Schulmedizin im Allgemeinen und der Psychiatrie im Besonderen zu schüren und spin- nen die Erkrankten in Betroffenen- Subkulturen ein.

Psychiatrisch-psycho- therapeutisches Vorgehen

Diese Patienten müssen ange- sichts der hohen subjektiven Evi- denz ihrer Überzeugungen sehr be- hutsam und ohne reduktionistische naturwissenschaftliche Konfrontati- on angesprochen werden. Denn die simple Mitteilung eines „normalen“

Schadstoffwertes im Serum stellt we- der die Beschwerden ab, noch wird sie dem Leiden des Kranken gerecht.

Auf dieser Ebene angegangen, wür- de der Patient eher nach dem näch- sten und wieder nächsten Parameter suchen, um sich letztlich dann doch durch irgendeine bedeutungslose Laborabweichung bestätigt zu se- hen.

Erst wenn die Bedingungen der Erkrankung, ihre Psychodynamik und die aufrechterhaltenden Fak- toren und ihre Zusammenhänge mit einer vorbestehenden psychischen Störung klar geworden sind, wird es möglich, dem Patienten einen „ge- ordneten Rückzug“ vom Symptom ohne Gesichtsverlust zu bahnen und eine angemessene psychiatrisch-psy- chotherapeutische Behandlung zu beginnen.

Wenn die als umweltassoziiert erlebte Störung das Symptom einer tiefergehenden psychischen Krank- heit, zum Beispiel einer Psychose ist, muss natürlich die Grunderkran- kung behandelt werden. Oft aber handelt es sich nicht um eine Psycho- se, sondern um neurotische Erkran- kungen. Dann ist – je nach der indivi- duellen Situation – entweder eine kognitiv-verhaltenstherapeutische oder eine psychodynamische Be- handlung indiziert. Es gelten mutatis mutandis dieselben Behandlungs- prinzipien wie bei anderen hypo- chondrischen oder Somatisierungs- störungen.

Besonders wichtig ist es, auf die die Krankheit aufrechterhaltenden Faktoren gezielt einzugehen. Denn

oft liegen nach einer langen Odyssee bereits eine so tiefe Fixierung auf die Thematik und eine Fehlausrichtung der gesamten Lebensgestaltung vor (bis hin zum Einzug in angeblich ex- positionsgeschützte Häuser, die Iso- lation von der Umgebung und die Berentung), dass auch intensive the- rapeutische Bemühungen kaum er- folgreich sein können.

Um so dringender sollte für die beschriebene Patientengruppe mög- lichst frühzeitig der Psychiater in die Diagnostik und Behandlung einbe- zogen werden. Um die Mitarbeiter umweltmedizinischer Ambulanzen und Beratungsstellen für den Um- gang mit diesen Patienten vorzube- reiten und ihnen die richtigen Wei- chenstellungen zu ermöglichen, ist zudem eine angemessene Berück- sichtigung psychiatrischer Probleme in den umweltmedizinischen Curri- cula zu fordern.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2000; 97: A-835–840 [Heft 13]

Literatur

1. Blank DW, Rathe A, Goldstein RB: A controlled study of 26 subjects with „20th century disease“. J Am Med Assoc 1990;

264 (24): 3166–3170.

2. Bock KW, Birbaumer N: Multiple Chemi- cal Sensitivity. Schädigung durch Chemi- kalien oder Nozobo-Effekt? Dt Ärztebl 1998; 95: A91–94 [Heft 3].

3. Bullinger M: Befindlichkeitsstörungen. In:

Wichmann HE, Schlipköter HW, Fülgraff G (Hrsg.): Handbuch Umweltmedizin.

Landsberg: ecomed Verlag 1992; V 13, 1–11.

4. Kraus T, Anders M, Weber A, Hermer P, Zschiesche W: Zur Häufigkeit umweltbe- zogener Somatisierungsstörungen. Ar- beitsmed Sozialmed Umweltmed 1995; 30:

147–152.

5. Simon GE: Psychiatric treatments in mul- tiple chemical sensitivity. In: Toxicol Ind Health 1992; 8 (4): 67–72.

6. Staudenmayer H: Clinical consequences of the EI/MCS „diagnosis“: Two paths.

Regul Toxicol Pharmacol 1996; 24: 96–110.

7. Tretter F: Umweltbezogene funktionelle Syndrome. Int Praxis 1996; 37: 669–686.

8. Weinert FE: Kommunikationsprobleme zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit.

Phys Bl 1993; 49 (4): 277–282.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Hanns Rüdiger Röttgers, M. A.

Amt für Gesundheit und Umweltmedizin

Lindhooper Straße 67 27283 Verden/Aller

DIE ÜBERSICHT/FÜR SIE REFERIERT

Patienten mit idiopathischer Lungenfibrose sterben meist inner- halb von vier bis fünf Jahren nach Diagnosestellung an einer therapie- refraktären Fibrosierung der Lunge.

Die meisten Patienten mit dieser ätiologisch unklaren Erkrankung, die durch eine rasche fibroprolifera- tive Destruktion der Lunge bei nur minimaler entzündlicher Aktivität gekennzeichnet ist, erhalten als Ulti- ma Ratio eine Kortikoid-Medikati- on. Diese führt jedoch nur bei einem kleinen Teil der Patienten zu einer klinischen Besserung. Charakteri- stisch für die ideopatische Lungenfi- brose sind die Proliferation von Fi- broblasten und die intestinale Akku- mulation von Kollagen.

Eine österreichische Studie un- tersuchte den Wert einer Kombinati- onsbehandlung von Interferon gam- ma-1b mit Glukokortikoiden und verglich diese mit der herkömm- lichen Glukokortikoid-Monothera- pie. In der Untersuchung wurden 18 Patienten über zwölf Monate be- handelt, dabei erhielt die Kontroll- gruppe Prednisolon 7,5 mg pro Tag als Monotherapie während die Be- handlungsgruppe zusätzlich 200 µg Interferon gamma-1b dreimal pro Woche subkutan erhielt. Während sich die Lungenfunktionen bei den Patienten der Kontrollgruppe im Verlauf der Behandlung sämtlich verschlechterten, kam es in der In- terferon-Gruppe zu einer signifikan- ten Verbesserung. Die bekannten grippeartigen Nebenwirkungen des Interferons waren nur in der An- fangsphase der Therapie zu beob-

achten. acc

Ziesche R et al.: A preliminary study of long-term treatment with interferon gamma-1b and low dose prednisolone in patients with idiopathic pulmonary fibrosis. N Eng J Med 1999; 341: 1264–

1269.

Dr. Block, Medizinische Fakultät der Universität Wien, Währinger Gürtel 18–10, A 1090 Wien, Österreich.

Dr. Louise Parker, Sir James Spence In- stitute, Royal Victoria Infirmary, New- castle upon Tyne NE1 4LP, England.

Behandlung

der idiopathischen

Lungenfibrose

Referenzen

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