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Archiv "Psychisch Kranke: Gewalt als Hilferuf" (19.09.2003)

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b aggressives Verhalten im Ju- stizvollzug oder im Maßregelvoll- zug, bei depressiven Jugendli- chen, Süchtigen, schizophren Erkrank- ten oder bei Sexualstraftätern – Gewalt gegen sich und andere stellt in vielen Fällen psychiatrischer Störungen einen Hilferuf dar. Mit Gründen für diese Art von Hilflosigkeit und Auswegen aus der Gewalt beschäftigten sich Vorträge, die Referenten auf den 5. Dortmund-He-

meraner Tagen für Psychiatrie in Dort- mund und Hemer vorstellten.

Die Gründe für Gewalt im Justizvoll- zug sieht Dr. Joachim G. med. Witzel, Chefarzt am Landeskrankenhaus für Fo- rensische Psychiatrie Uchtspringe, unter anderem in den fehlenden Kapazitäten psychiatrischer Konsiliardienste in der Ambulanz. Überforderte Anstaltsärzte und ausfällige Häftlinge, die auf die Si- tuation mit Verstümmelungen am eige- nen Körper, Schmieren mit Exkremen- ten oder Gewaltandrohungen bei Perso- nal und Mithäftlingen reagieren, erlebt Witzel häufig. Akute Fälle würden meist nicht in psychosomatische Kliniken ein-

gewiesen, weil dort das Sicherheitsrisiko als zu hoch eingestuft wird. In den mei- sten Maßregelvollzugsanstalten jedoch

„sind die Kapazitäten voll ausgeschöpft“, so Witzel, „und außerdem fühlen sie sich aufgrund anderes lautender Gerichtsur- teile meist nicht zuständig“.

Abhilfe, zumindest für die Dauer von sechs Monaten, schaffte ein Modellpro- jekt an der Justizvollzugsanstalt (JVA) Werl, in dessen Rahmen eine psychia-

trische Akutbehandlungsstation mit sechs Einzelzimmern in räumlicher Nähe zur Krankenstation der JVA ein- gerichtet wurde. Die dort aufgenomme- nen psychisch kranken Häftlinge, die aus 14 Haftanstalten in Nordrhein- Westfalen (NRW) stammten, konnten notversorgt und zum allergrößten Teil (97 Prozent) mit hochpotenten Neuro- leptika behandelt werden. „In 63,3 Pro- zent der Fälle zeigte sich eine deutliche Besserung“, so Witzel, „nur bei 6,7 Pro- zent war keine Besserung sichtbar.“

Über den Umgang mit aggressivem Verhalten bei Suchtpatienten referierte Dr. med.Thomas Kuhlmann, Chefarzt an

der Psychosomatischen Klinik Bergisch Gladbach. „Der Alltag eines Süchtigen ist von vielfältigen Spannungen geprägt“, so Kuhlmann. Um diese innerlichen Spannungen von Drogen- oder Medika- mentenabhängigen zu bewältigen, sei vor allem in der Entzugsphase Gewalt in Form von Drohungen gegenüber Mitar- beitern und anderen Patienten an der Ta- gesordnung. Im schlimmsten Fall komme es sogar zum Abbruch der Behandlung.

Seit Ende der 90er-Jahre setzt die Klinik in Bergisch Gladbach auf ein neues Ver- haltenskonzept: Bei Regelüberschreitun- gen wird versucht, den Konflikt unmittel- bar zu klären und dabei alle Mitarbeiter miteinzubeziehen. Nur auf diese Weise, erklärte Kuhlmann, könne Transparenz entstehen. Dabei zielt das Konzept des so genannten Motivational Interviewing darauf, den Widerstand des Patienten nicht mit konfrontativem Gegendruck zu beantworten, sondern mit einer Ände- rung des therapeutischen Interventions- stils.Widerstand wird als Symptom ange- sehen, um Zuspitzungen und Eskalatio- nen im Kontakt mit dem Patienten zu vermeiden.

Gewalt als Folge von

Depression bei Jugendlichen

Mit Gewalt in Form von selbstverletzen- dem Verhalten bei Jugendlichen beschäf- tigte sich der Vortrag der Münsteraner Professorin Dr. Cecilia A. Essau. In der so genannten Bremer Studie zu Depres- sionen bei Jugendlichen, die Essau zu- sammen mit Kollegen vom Zentrum für Rehabilitationsforschung der Univer- sität Bremen von 1996 bis 1997 durch- führte, wurden 1 035 Jugendliche im Al- ter von zwölf bis 17 Jahren zu ihrem All- gemeinbefinden befragt. Im Ergebnis ga- ben 18 Prozent der Jugendlichen an, un- ter Depresssionen zu leiden, Mädchen häufiger als Jungen. Als Folge ihrer De- pressionen äußerten wiederum 18 Pro- zent, einen konkreten Suizidplan gehabt zu haben, beinahe zehn Prozent unter- nahmen einen Suzidversuch, 2,1 Prozent wurden aufgrund der Depression sta- tionär behandelt. Erkennbar, so Essau, sei auch der Trend zum kollektiven Selbstmord, was sich an der steigenden Zahl von Internet-Suizid-Foren (derzeit 30 in Deutschland) bemerkbar mache.

T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 3819. September 2003 AA2421

Psychisch Kranke

Gewalt als Hilferuf

Im Mittelpunkt der 5. Dortmund-Hemeraner Tage für Psychiatrie stand Gewalt als Phänomen psychiatrischer Störungen.

Autoaggressive Gewalt in Form von Suizid nimmt bei Jugendlichen zu.

Foto:epd

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T H E M E N D E R Z E I T

A

A2422 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 3819. September 2003

Als möglichen Ausweg aus Depres- sionen und selbstverletzendem Verhal- ten bei Jugendlichen sieht Essau das

„Friends-Program“ – ein australisches Modell zur Prävention von Angst und Depressionen bei jungen Menschen.

Mithilfe von Motivationsübungen zur Überwindung von Angst- und Selbst- zweifeln sowie Karikaturen und Zeich- nungen werden Kinder und Jugendliche an ihre Ängste herangeführt und sollen lernen, diese zu überwinden. „Erwar- tungsangst, Vermeidungsverhalten, De- moralisierung, Hilflosigkeit und Sucht- verhalten von Jugendlichen als Vorboten einer Depression sollen auf diese Weise verhindert werden“, so Essau. Zurzeit wird das „Friends-Program“ im Rahmen einer Präventionsstudie an 14 Schulen in NRW getestet.

Über Gewalttaten schizophren Er- krankter referierte Prof. Dr. med. Ul- rich Trenckmann, Leitender Arzt der Hans-Prinzhorn-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Hemer. „Schizo- phrenen Gewalttaten nachzusagen ist in den meisten Fällen falsch“, kritisierte Trenckmann. Nur fünf Prozent aller an Schizophrenie Erkrankten begehen laut Trenckmann Gewalttaten, und das auch nur nach langem, ungünstigem Krankheitsverlauf und vielfachen sta- tionären Aufnahmen. Bei diesen fünf Prozent handele es sich meist um eine paranoid-halluzinatorische Form der Schizophrenie bei fehlender Medikati- on. „Besteht bei solchen Fällen keine Rückzugsmöglichkeit oder Option für alternatives Handeln, verstärkt das die Gefahr eines gewaltsamen Übergriffs“, berichtete Trenckmann. In vier bis zehn Prozent der Fälle richte der Schizophre- ne die Gewalt gegen sich selbst, in den restlichen Fällen könne sie nähere An- gehörige, professionelle Helfer und manchmal sogar Unbeteiligte treffen.

Bei Schizophrenen im Alter bis 26 Jahre bestehe ein siebenfach erhöhtes Risiko hinsichtlich Gewalttaten. Alles in allem handelt es sich laut Trenckmann jedoch um ein überschätztes Phänomen.

Gewalt als Hilferuf, so der Tenor der Tagung, spiegelt in den meisten Fällen ein Phänomen psychiatrischer Störungen wider, das sich gegen den Betroffenen selbst und nur selten gegen die Bevölke- rung richtet.Auswege gibt es – sie müssen nur umgesetzt werden. Martina Merten

V

or kurzem war ich auf einer Party, auf der sich Chirurgen in der Über- zahl befanden. Aber anstatt über ihre erfolgreichen minimalinvasiven Feldzüge gegen verschlossene Beckenarterien zu berichten, meinten sie nur: Wir biegen uns unter der Last der Bögen. Sie meinten die KTQ-Bö- gen (KTQ = Kooperation für Transparenz und Qualität im Krankenhaus), deren Bearbeitung zusammen mit anderen Maßnahmen zur Qualitätssiche- rung und zum Qualitätsmanagement (QS+QM) mittlerweile 20 Prozent der Arbeitszeit auffressen.Auch wenn diese Berge von Fragebögen und Formu- laren vorerst nur in den Krankenhäusern ihr Unwesen treiben, so habe ich bereits viel davon gehört.

Meine Patienten berichten erschüttert, dass Wünsche nach Auskünften mit der stereotypen Antwort beschieden werden: „Ruhe! Ich muss den Bo- gen ausfüllen, das ist Qualität!“ Diese Fragenkataloge wollen unter ande- rem Folgendes wissen: Gibt es schriftliche Anweisungen bezüglich Vorbe- funden zur Anamneseerhebung? Inwieweit ist es gewährleistet, dass die An-

forderungen von diagnostischen Untersuchungen und Maßnahmen struktu- riert erfolgen? Welche Handlungsorientierungen werden für Mitarbeiter zur Aufsichtspflicht bei bestimmten Patientengruppen gegeben? Inwieweit wird die Zeitspanne zwischen Entlassung eines Patienten und der Über- mittlung aller vollständigen Informationen an die nachbehandelnden Ver- sorgungseinrichtungen überprüft?

Nun, mir als Fachmann für Serpentinismus (= Herausschlängeln aus widrigen Lebenslagen) kam sofort eine blendende Idee: Wir schnitzen uns ein Computerprogramm, das diese Bögen automatisch beantwortet, somit können alle glücklich und zufrieden ihrer Arbeit nachgehen.

Klappt doch nicht, meinten die Kollegen, spätestens wenn wir alle die- selben Noten haben und keiner abgestraft wird, kommt die Qualitäts- doktrin dahinter. Kein Problem, meinte ich in meinem therapierefrak- tären Optimismus: Wir mieten ein verfallenes Landhaus in Ostdeutsch- land, stellen ABM-Kräfte als Patienten ein und Laienschauspieler als Doktoren. Vollendet ist meine Vision, wenn am runden Tisch der Qualitäts- sicherung die Formularberge der KTQ über mein Computerprogramm zur Landhausklinik kreisen und diese alle Jahre wieder sanktioniert wird. So- mit habe ich aus der mir eigenen Perspektive (von schräg unten) alle glück- lich gemacht: Den Landesdenkmalschutz, der seine Baudenkmäler saniert sieht, die Qualitätsdoktrin und nicht zuletzt die ge- schätzten chirurgischen Kollegen, die endlich wieder ungestört operieren können.

Falls ich einmal operiert werden müsste, suche ich mir eine Klinik aus, die nicht zertifiziert ist. Die Wahr- scheinlichkeit, dort Kollegen anzutreffen, die ihr Hand- werk noch beherrschen, ist statistisch einfach höher.

Weil in den KTQ-Kliniken nur noch diese Bögen aus- gefüllt werden. Dr. med. Thomas Böhmeke

KTQ

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