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Archiv "Psychisch Kranke in der Umweltmedizin: Umweltmedizinisch Kranke in der Medizin" (29.09.2000)

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gentlichen Ursache ihrer Beschwerden – unter einem hohen Leidensdruck ste- hen, besteht in dieser Vorgehensweise die einzige Chance, ernst genommen zu werden und Hilfe zu erfahren.

Hierin liegt auch die Stärke des wis- senschaftlich fundierten ganzheitlich therapeutischen Ansatzes im Gegen- satz zu den Aktivitäten paramedizini- scher Kreise, die sogar teilweise von Vertreterinnen und Vertretern der Schulmedizin ausgeübt werden.

So ist den Patienten dringend zu wünschen, dass ihnen nach gründlicher Abklärung und Ausschluss eines Um- weltschadstoffs als Ursache für ihre Be- schwerden der Weg zum Psychiater ge- wiesen wird. Dies erfordert in der Tat die von Herrn Röttgers geforderte Sen- sibilisierung und Fortbildung der Mitar- beiter umweltmedizinischer Institutio- nen.

Dr. med. Christiane König Öffentliches Gesundheitswesen Dr. med. Nikolaus Salzmann

Öffentliches Gesundheitswesen und Umweltmedizin Kreisgesundheitsamt Offenbach

Berliner Straße 60, 63065 Offenbach/Main

Zunahme umweltmedizinischer Krankheitsbilder

Meiner Ansicht nach werden oft Men- schen, die über psychische Beschwer- den klagen, vorschnell mit dem Etikett der psychogenen Ursache versehen.

Leider wird das Ausmaß der allgemei- nen Schadstoffbelastung von der so ge- nannten Schulmedizin noch weitge- hend geleugnet. Beispielhaft werden in dem Artikel die großen akuten Um- weltkatastrophen der letzten Jahre er- wähnt, die Problematik der Dauerex- position im Niedrig-Dosis-Bereich wird ignoriert, die vielfache Kombina- tion von Schadstoffen, zum Beispiel in einer einzigen Wohnung, findet keine Beachtung. Von den ungezählten Gift- stoffen ist nur ein sehr kleiner Teil to- xikologisch gut erforscht. Der Aus- druck „Patienten ohne toxikologisch fassbare Einflüsse“ ist von daher eine leere Formel ohne Aussagekraft.

Wenn solche Krankheitsbilder wie CFS, MCS, Fibromyalgie und andere beschrieben werden, ist es leicht für Organmediziner, eine psychogene Ur-

sache anzunehmen und die Verantwor- tung den Psychotherapeuten/Psychia- tern zu überlassen. Ohne Zweifel sind diese Menschen teilweise auffällig, zum Beispiel bei CFS, definiert als mehr als sechs Monate bestehende chronische Erschöpfung, mit Lymph- knotenschwellungen, oft mit erhöhter Temperatur, mit mehr als 50-prozenti- ger Reduktion von normalen Alltags- aktivitäten.

Ich bin seit mehr als 25 Jahren im psy- chotherapeutischen Bereich tätig und sehe in den letzten drei bis vier Jahren eine Häufung solcher Krankheitsbilder.

Selbstverständlich kenne ich auch sol- che Patienten wie im Bericht geschil- dert und selbstverständlich kann der Mensch wie mit jeder Krankheit in neu- rotischer Weise umgehen. Ich sehe in meiner Praxis aber häufig den umge- kehrten Fall: Die Patienten sind schwer depressiv, von ihrem Versagen über- zeugt, oft von extremer Unruhe und Ängsten geplagt. In der umweltmedizi- nischen Diagnostik findet sich dann ei- ne gravierende Immunstörung.

Wenn eine größere Anzahl von so genannten funktionellen Störungen bei einem Menschen auftritt, sollte der Psy- chotherapeut oder Hausarzt eine schleichende Vergiftung in Betracht ziehen und nach eindeutigen Anzei- chen einer hirnorganischen Störung fahnden: Störung der Merkfähigkeit und Konzentration, Vergesslichkeit, Neigung zu Fehlhandlungen. Gerade differenzierte Menschen, die die Fähig- keit zur Selbstbeobachtung haben, regi- strieren diese Symptome deutlich, er- wähnen sie aber aus Scham meist nicht spontan. Wenn solche Störungen sich erfragen lassen, dann erscheinen auch Depression und Unruhe in einem ande- ren Licht, nämlich hirnorganisch verur- sacht und werden nicht mehr als psy- chogen fehlgedeutet.

Es bleibt die Hoffnung, dass, wenn solche für unsere bisherige Organmedi- zin unergiebigen Krankheitsbilder in ihrer Bedeutung erkannt werden, sich eine echte Prophylaxe der großen be- kannten Volksseuchen wie thromboem- bolische Erkrankungen, Rheuma und Tumoren betreiben lässt.

Dr. med. Christine Aschermann Nervenärztin – Psychotherapie Eichenstraße 6, 88299 Leutkirch

Umweltmedizinisch Kranke in der Medizin

Der Mensch und seine Umwelt stehen in einer sehr engen Beziehung zuein- ander und es gibt heutzutage mehr denn je zuvor Substanzen, die Risiken für die Gesundheit mit sich bringen.

Tagtäglich werden Hunderte neuarti- ger Substanzen hergestellt, mit denen die Menschheit in der Evolution bis- her nicht konfrontiert war. Anorgani- sche Schadstoffe stehen hier neben or- ganischen Schadstoffen, wie zum Bei- spiel Pestiziden, Formaldehyd, Löse- mitteln, Reinigungschemikalien, Zi- garettenrauch und Verbrennungspro- dukten.

Es wird zunehmend klar, dass Bela- stungen mit Luftschadstoffen Asthma begünstigen, dass Zigarettenrauchen Lungenkrebs verursacht und dass er- höhte Verkehrsabgase die Viskosität des Bluts steigern und hierdurch ver- mehrt Herzinfarkte beobachtet wer- den, dass Lärm Störungen vegetativer Funktionen und Herzinfarkte zur Fol- ge hat und dass langjährige Inhalation von Lösemitteln zerebrale Schäden nach sich zieht.

Was passiert? Offensichtlich sind viele Mediziner nur bereit, etwas als Phänomen wahrzunehmen und eine Kausalität zu akzeptieren, wenn es ei- ne mechanistische Erklärung auf dem Boden unseres naturwissenschaftli- chen Weltbildes gibt. Bei Gesundheits- störungen, die möglicherweise um- weltbedingt beziehungsweise komple- xer Art sind, stecken diese in einem Dilemma, das sie aber nicht realisie- ren.

Klassisch hierfür ist das Beispiel eines Patienten, der nach vielfachen Untersuchungen die Diagnose einer

„Herzneurose“ gestellt bekam. Die umweltmedizinischen Untersuchungen nach knapp zehn Jahren Beschwer- den bestätigten die Erkrankung durch Phosphorsäureester-Pestizide und Lö- semittel am Arbeitsplatz. Dies belegt die besondere Gefährdung durch inha- lative Belastungen, da der menschliche Organismus die an Feinstaub und Feinststaub gebundenen Stoffe auf- nimmt (1). Nach Passage der Phospho- lipidbausteine der Zellmembranen la- gern sich diese Stoffe an Nerven und M E D I Z I N

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Hirnsubstanz an, verursachen entzün- dungsähnliche Veränderungen, Störun- gen beziehungsweise Schädigungen.

Hypothalamus, Hippocampus und Amygdala sind die Hauptziele (2).

Diese wichtigen Schaltstellen neuro- naler Informationswege sind ebenso betroffen wie das autonome Nervensy- stem und die hormonelle Steuerung der Hypophyse (3, 4). Am respiratori- schen Epithel kommt es zu einer Her- absetzung des Zilienschlags und einer Steigerung der Permeabilität (5, 6). Es folgen „Entzündungen“ sensorischer Nervenfasern mit nachfolgender Vaso- dilatation, Ödemen und Kontraktio- nen der glatten Muskulatur (7). Mitur- sache dieser neurogenen Entzündung ist die neuroimmunologische Kopp- lung. Aufgeschaukelt wird dieser Vor- gang zusätzlich durch die von Epithel- zellen produzierten Zytokine, welche die Konzentration der Adhäsionsmo- leküle auf den Endothelzellen steigern (8).

Psychosomatische und psychiatri- sche Erklärungen, wie beispielsweise früher beim „Magenulkus-Typ“ sind schnell bei der Hand. Dies, obwohl auf- grund molekularbiologischer Dispositi- on eine exogene Noxe als Auslöser für bestimmte Erkrankungen hinzukom- men muss (9, 10).

Wie sehr Umweltschadstoffe die Zy- tokinexpression und das Leistungs- profil des Immunsystems beeinflussen, wie diese die Expression von Zell- adhäsionsmolekülen durch chronische Metallzufuhr, die Induktion der Heat- Shock-Proteine (HSP) verursachen, ist bestens untersucht. So zeigen neueste Studienergebnisse aus der Psycho-Neu- ro-Immunologie, wie bedeutsam die immunrelevanten Zytokine für den Datentransfer im Zentralnervensystem sind (11).

Angesichts dieser Sachverhalte wird verstehbar, warum Neurologen und Psychiater besonders wachsam sein müssen, um Fehldiagnosen zu vermei- den.

Literatur beim Verfasser

Dr. med. Michael P. Jaumann Arzt für Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten Stimm- und Sprachstörungen, Umweltmedizin Marktstraße 25, 73033 Göppingen E-Mail: aboensch@aol.com

Schlusswort

Ich möchte zunächst allen Autoren für die sachlichen und konstruktiven Kom- mentare danken; dies ist bedauerlicher- weise bei diesem Thema nicht selbst- verständlich. Der Funktionär einer „In- teressengemeinschaft“ etwa nahm den Aufsatz zum Anlass, mich in Schreiben an das Robert Koch-Institut sowie re- gionale und überregionale Medien per- sönlich zu diffamieren und strengte ein Dienstaufsichtsverfahren bei meinem Arbeitgeber an. Dieser solle disziplina- risch gegen mich vorgehen und mir ein weit reichendes Tätigkeitsverbot ertei- len.

Ich sehe dem allerdings wie auch den ähnlich gelagerten Drohungen eines so genannten „Systematischen Ökologen“

mit großer Gelassenheit entgegen; die Vorgänge unterstreichen sicherlich un- freiwillig die Richtigkeit meiner Über- legungen.

Den Kollegen Zilker und Hausteiner bin ich für die Bestätigung dankbar, dass die Patienten selbst bei sensibler Vorgehensweise für eine fachgerechte psychiatrische Hilfe offen sind und die denunziatorische Warnung vor einer angeblichen „Psychiatrisierung“ eher Vorurteilen als tatsächlich fürsorgeri- schen Impulsen entspringt. Es ist be- dauerlich, dass gerade Gesundheitspo- litiker unter Rückgriff auf alte Stereoty- pen eine ganze medizinische Fachrich- tung und mit ihr Menschen mit psychi- schen Erkrankungen diskriminieren und den Weg zu einer angemessenen Behandlung erschweren.

Die Kollegen Alsen-Hinrichs, Bauer und Wassermann verweisen darauf, dass manche Patienten, bei denen eine noxenbedingte Erkrankung vorliegt, erst nach einer „Odyssee“ korrekt dia- gnostiziert und behandelt werden. Dies ist bedauerlich und unterstreicht mein Anliegen fachübergreifender Koopera- tion bei umweltassoziierten Beschwer- den. Dass „die Symptome umweltbe- dingter Krankheiten und psychogener Störungen auf langen Strecken iden- tisch“ sein sollen, ist jedoch nicht zu- treffend. Vielmehr ähneln die Symp- tome der „Umwelt“ zugeschriebener Störungen denen bestimmter psychi- scher Erkrankungen mit anderen subjektiven Krankheitsmodellen. Die

Gründe dafür habe ich beschrieben.

Definierte toxisch oder allergisch be- gründete Umweltkrankheiten (zum Beispiel Haut- und Lungenerkrankun- gen, induzierte Malignome) dagegen haben etwa mit Angsterkrankungen und somatoformen Störungen wenig gemein. Dass Psychiater „gut beraten wären, exogene Ursachen für bestehen- de psychische Gesundheitsstörungen in ihre Kausalitätsbetrachtungen einzube- ziehen“, ist unumstritten und einer plu- ridimensionalen Psychiatrie wesensei- gen. Ebenso aber sind Kollegen somati- scher Fächer gut beraten, bei psychi- schen Störungen und nach Abschluss der eigenen Diagnostik die Patienten nicht ins Leere laufen zu lassen oder gar

„ut aliquid fiat“ unzutreffende Krank- heitsmodelle zu perpetuieren.

Herr Kollege Meyer zu Schwabedis- sen postuliert, dass CFS und MCS „Fol- ge unvollständig abgebauter Nahrungs- mittel“ seien. Hierzu wäre vieles zu diskutieren, das den Rahmen eines Schlusswortes überschreitet. Der von ihm beschriebene hilfreiche Effekt ei- ner reflektierten Lebensweise und ei- ner Strukturierung der Ernährung bei funktionellen Störungen sollte aber nicht unterschätzt werden.

Die Anregung der Kollegen Dunkel- berg und Paufler, die Entstehungsbe- dingungen umweltassoziierter Störun- gen ohne Noxennachweis in der Begriff- lichkeit des Antonovskyschen Saluto- genesekonzepts zu betrachten, ist eine wichtige Erweiterung der Verständnis- möglichkeiten. Ich stimme insbesonde- re den Überlegungen zum Verlust des Kohärenzerlebens in einer fragmentier- ten und dem individuellen Sinnver- ständnis zusehends entfernteren Um- welt, die hier in der weitesten, bis ins Transzendente gehenden Weise zu ver- stehen ist, uneingeschränkt zu. Dies steht aber der Annahme eines psycho- reaktiven Mechanismus keinesfalls ent- gegen, sondern illustriert ihn auf eine bedenkenswerte Weise.

Die Kollegen König und Salzmann sprechen einen bedeutsamen Faktor für das Verständnis individueller Krank- heitsmodelle an: die unterschiedliche Gewichtung selbst verursachter Noxen wie UV-Exposition, Nikotin und Alko- hol, deren Bedeutung subjektiv gering gewertet wird, und die hohe Sensibilität M E D I Z I N

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gegenüber externen, also nicht indivi- duell zu steuernden, wenn auch oft epi- demiologisch weniger bedeutenden Fak- toren.

Herr Kollege Fink verweist anhand einer Kasuistik auf ein „Sick-Building- Syndrom“ in einem Neubau ohne Kli- maanlage: Ich konzediere gerne, dass die künstliche Gebäudeklimatisierung einen häufigen Promotor, aber keine notwendige Vorbedingung hierfür dar- stellt.

Frau Kollegin Aschermann plädiert für eine umfassende Differenzialdia- gnostik bei hirnorganischen Beein- trächtigungen: dem ist zuzustimmen, da das Syndrom der kognitiven Beein- trächtigung ganz unterschiedlich verur- sacht sein kann (degenerative Erkran- kungen, Intoxikationen, aber auch ko- gnitive Beeinträchtigungen durch eine depressive Störung).

Herr Kollege Jaumann schließlich betont zutreffend unter anderem die Bedeutung inhalativer Noxen, etwa von Lösungsmitteln, und spricht sowohl hirnorganische Veränderungen als auch solche des Immunsystems an.

Zusammenfassend möchte ich noch einmal herausstellen, dass die psychia- trische Mitwirkung in der Umweltmedi- zin zum einen darum unverzichtbar ist, weil das Ausmaß der subjektiven Evi- denz von Krankheitsmodellen und die Veränderung der Selbst- und Fremd- wahrnehmung infolge psychiatrischer Erkrankungen den Kollegen somati- scher Fächer häufig nicht vertraut ist und so falsche Weichenstellungen för- dert, zum anderen nur so eine Erfolg versprechende Behandlung derjenigen Menschen ermöglicht wird, bei denen eine der Umwelt zugeschriebene Sym- ptomatik tatsächlich Ausdruck einer psychischen Erkrankung ist. Dass die- se Menschen einen bedeutenden Teil der Rat suchenden Patienten in Um- weltambulanzen darstellen, ist unum- stritten.

Wenn das vorgeschlagene Vorgehen – das heißt Ausschluss toxikologischer und allergologisch fassbarer Beschwer- deursachen, dann psychiatrische Diag- nostik und bei positivem Nachweis ei- ner Erkrankung Empfehlung einer ent- sprechenden Behandlung – die Regel würde, könnte manchem Patienten ein langer Leidensweg erspart bleiben.

Erfreulicherweise findet dieser Ge- danke zunehmend Eingang in die Ver- fahrensweisen umweltmedizinischer Institutionen (1).

Notwendige Voraussetzung für eine breite Verwirklichung dieses Grundsat- zes wäre allerdings, hier wiederhole ich das Schlussplädoyer meines Aufsatzes, die intensivere Berücksichtigung psych- iatrischer Inhalte in den umweltmedizi- nischen Curricula.

Literatur

1. Jansen B, Kimbel R, Jung D: Umweltmedizinisches Zen- trum der Universität Mainz. Umweltmed Forsch Prax 5 (2) 2000; 118 f.

Dr. med. Hanns Rüdiger Röttgers, M. A.

Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Öffentliches Gesundheitswesen – Umweltmedizin

Sozialpsychiatrischer Dienst des Landkreises Verden Lindhooper Straße 67, 27283 Verden/Aller

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zu dem Beitrag

Moderne

Operationsverfahren des Rektumkarzinoms

Sind adjuvante Maßnahmen notwendig?

von

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Volker Schumpelick

Dr. med. Stefan Willis Dr. med. Reinhard Kasperk in Heft 17/2000

DISKUSSION

Multimodale Therapie beibehalten

Bei der Behandlung des Rektumkarzi- noms sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten entscheidende Fortschrit- te erzielt worden: Die Fünf-Jahres- Überlebensrate liegt heute, über alle Tumorstadien gerechnet, bei etwa 60 Prozent. Dabei können bis zu 85 Pro- zent der Patienten kontinenzerhaltend operiert werden. Es ist Schumpelick und Mitarbeitern daher nur zuzustim-

men, wenn sie jegliche Form eines

„therapeutischen Nihilismus“ in dieser Situation als „für eine aufgeklärte Ge- sellschaft nicht würdig“ bezeichnen.

Bedauerlich ist jedoch, dass die Auto- ren einer differenzierten Darstellung des Arsenals moderner Operations- verfahren eine weniger differenzierte Schilderung der adjuvanten Therapie- modalitäten gegenüberstellen. Sie ver- sehen gerade diejenige Komponente mit einem Fragezeichen, die in den letzten Jahrzehnten entscheidend zu einer Verbesserung der Prognose und Lebensqualität von Patienten mit Rek- tumkarzinom beigetragen hat, die Strahlentherapie. Aus radioonkologi- scher Sicht sind deshalb folgende An- merkungen wichtig.

In einem erst kürzlich publizierten Konsensus der chirurgischen, radiolo- gischen und internistischen Arbeitsge- meinschaft der Deutschen Krebsge- sellschaft (1) zur Behandlung des Rek- tumkarzinoms wurde außerhalb klini- scher Studien die postoperative Radio- chemotherapie bei Tumoren im UICC- Stadium II und III (also pT3/4 oder pN+) ausdrücklich empfohlen. Grund- lage hierfür waren nicht nur amerika- nische Studien in den achtziger Jahren, die schon die National Institutes of Health der USA im Jahre 1990 zu einer solchen Empfehlung bewogen hatten.

Auch die Ergebnisse der jüngsten Stu- dien zur adjuvanten (3) und neoadju- vanten Therapie des Rektumkarzi- noms (4) haben erneut bestätigt, dass die in ein multimodales Therapiekon- zept eingebundene Radiotherapie nicht nur in der Lage ist, die Lokalrezidivrate zu senken, sondern auch einen Überlebensvorteil zu be- wirken.

Richtig ist, dass der optimierte Ein- satz einer jeden adjuvanten Therapie nur bei strikter Anwendung moderner chirurgischer Radikalitätsprinzipien, insbesondere der totalen Mesorek- tumexzision (TME), beurteilt werden kann. Eine Studie, die die alleinige Operation mit TME gegen eine zusätz- liche präoperative Bestrahlung ran- domisiert, wird derzeit von einer nie- derländischen Gruppe unter interna- tionaler Beteiligung durchgeführt (2).

Langzeitergebnisse wurden bislang noch nicht publiziert. Die aktuell ver-

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öffentlichten Ergebnisse der amerika- nischen NSABP-R-02-Studie zeigten jedoch, dass die postoperative Radio- chemotherapie selbst bei Lokalrezi- divraten von nur noch 13 Prozent im Arm ohne Bestrahlung zu einer weite- ren signifikanten Reduzierung der Lokalrezidivrate auf acht Prozent führte; ein Überlebensgewinn durch die Radiochemotherapie im Vergleich zur alleinigen postoperativen Chemo- therapie war nur für Untergruppen nachweisbar (5).

Die wichtigste Komponente bei der Behandlung des Rektumkarzinoms ist die kunstgerechte, lokal kurative Ope- ration (R0). Wie von den Autoren richtig beschrieben, hängt die postope- rative Komplikationsrate und das Überleben dabei entscheidend vom

„Prognosefaktor Chirurg“ ab. So wird auch die Indikation zur (neo-)adju- vanten Radiotherapie in Zukunft von der Rezidivrate des einzelnen Opera- teurs bestimmt werden. Wenn man flächendeckend die postoperative Be- strahlung infrage stellt, wird man der tatsächlichen Schwankungsbreite des chirurgischen Leistungsspektrums mit auch in den letzten Jahren publizierten Lokalrezidivraten zwischen 5 Prozent und 40 Prozent nicht gerecht.

Nicht nur die chirurgische Therapie wurde in den letzten zwanzig Jahren entscheidend verbessert, sondern auch die Bestrahlungstechnik durch dreidi- mensionale Bestrahlungsplanung, in- dividuell kollimierte Bestrahlungsfel- der und strahlenbiologisch optimierte Fraktionierungen. So zeigt eine Zwi- schenauswertung unserer laufenden multizentrischen Studie zur adjuvan- ten und neoadjuvanten Radiochemo- therapie des Rektumkarzinoms (Pro- tokoll CAO/ARO/AIO-94) mit mitt- lerweile mehr als 580 rekrutierten Pati- enten eine chronische Toxizität am Gastrointestinal- und Urogenitaltrakt von weit unter fünf Prozent. Der Hin- weis auf „nicht übersehbare Langzeit- folgen“ der postoperativen Radiothe- rapie ist daher schwer verständlich.

Fazit: Nicht jeder Patient mit Rek- tumkarzinom im UICC-Stadium II/III, den wir heute gemäß den Empfehlun- gen der Deutschen Krebsgesellschaft bestrahlen, wird möglicherweise in den nächsten Jahren auch noch ein Kandi-

dat für die Radiochemotherapie sein.

Eine risikoadaptierte Individualisie- rung der Strahlentherapie hat aber so vielfältige Faktoren wie Tumorsitz, Grading, Befall von Lymph- und Ve- nengefäßen, prädiktive biologische Marker, chirurgische Qualität zu berücksichtigen, sodass es weiterer sorgfältig geplanter Untersuchungen und prospektiver Studien bedarf, die heute noch nicht vorliegen. Bis dahin sollte bei der Behandlung des Rektum- karzinoms ein so erfolgreich etablier- tes multimodales Therapiekonzept nicht infrage gestellt werden.

Literatur

1. Junginger T, Hossfeld DK, Sauer R, Hermanek P: Ad- juvante Therapie bei Kolon- und Rektumkarzinom.

Dt Ärztebl 1999; 96: A-698–700 [Heft 11].

2. Kapiteijn E, Kranenbarg EK, Steup WH et al.: Total mesorectal excision (TME) with or without preop- erative radiotherapy in the treatment of primary rec- tal cancer. Prospective randomised trial with stand- ard operative and histopathological techniques.

Dutch ColoRectal Cancer Group. Eur J Surg 1999;

165: 410–420.

3. Tveit KM, Guldvog I, Hagen S et al.: Randomized controlled trial of postoperative radiotherapy and short-term time-scheduled 5-fluorouracil against surgery alone in the treatment of Dukes B and C rec- tal cancer. Br J Surg 1997; 84: 1130–1135.

4. Swedish Rectal Cancer Trial: Improved survival with preoperative radiotherapy in resectable rectal can- cer. N Engl J Med 1997; 336: 980–987.

5. Wolmark N, Wieand HS, Hyams DM et al.: Random- ized trial of postoperative adjuvant chemotherapy with or without radiotherapy for carcinoma of the rectum: National Surgical Adjuvant Breast and Bowel Project Protocol R-02. J Natl Cancer Inst 2000; 92: 388–396.

Dr. med. Claus Rödel Prof. Dr. med. Rolf Sauer

Klinik und Poliklinik für Strahlentherapie Universität Erlangen-Nürnberg Universitätsstraße 27, 91054 Erlangen

Schlusswort

Wir danken den Kollegen aus Erlan- gen für ihren kritischen Kommentar.

Es ging uns in unserer Arbeit nicht darum, den zurzeit gültigen Konsens zur adjuvanten Therapie des Rektum- karzinoms „flächendeckend“ zu wider- rufen. Gleichwohl sollte deutlich her- vorgehoben werden, dass eine wie auch immer geartete und optimierte Zusatztherapie kein Ersatz sein darf für eine kompetente, anatomie- und pathologiegerechte chirurgische Tu-

morentfernung. Dieser Appell richtet sich daher naturgemäß vor allem an die chirurgisch tätigen Kollegen.

Ein Defizit derzeit gültiger Empfeh- lungen zur adjuvanten Therapie des Rektumkarzinoms liegt insbesondere darin, dass diese auf Studien beruhen, in denen eine konsequente totale Me- sorektumexzision nicht durchgeführt wurde. Wenn auch noch keine Ergeb- nisse randomisierter Studien vorlie- gen, so haben wir es dennoch mit einer Datenlage zu tun, die in kaum zu über- treffender Deutlichkeit die Überle- genheit der TME mit Lokalrezidivra- ten von fast ausnahmslos deutlich un- ter zehn Prozent belegt (1). Um es sa- lopp zu formulieren, fragt sich derjeni- ge, der einmal das kleine Becken nach akribischer TME gesehen hat, welches Gewebe denn nun in dieser Region noch postoperativ bestrahlt werden soll.

Hinsichtlich der von uns erwähnten Langzeitfolgen einer Radiotherapie ist zu betonen, dass es hier nicht nur um akute Toxizitäten an Gastroin- testinal- und Urogenitaltrakt geht, sondern aus chirurgischer Sicht auch Funktionsstörungen zu berücksichti- gen sind. Jede Form der Bestrahlung führt in dieser durch die notwendige Operation ohnehin schon marginalen Situation zu weiteren Einschränkun- gen der Kontinenzleistungen (2).

Über diesen Preis einer wie auch im- mer gearteten prä- oder postoperati- ven Radiotherapie in Form einer Le- bensqualitätseinschränkung ist bis- lang viel zu wenig bekannt.

Literatur

1. Chandler P, Orkin B: Rectal carcinoma: operative treatment. In: Beck D, Wener S, Fazio V (ed.): Fun- damentals of anorectal surgery. London: Saunders 1998; 339.

2. Ooi B, Tjandra J, Green M: Morbidities of adjuvant chemotherapy and radiotherapy for resectable rectal cancer. Dis Colon Rectum 1999, 42: 403–418.

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Volker Schumpelick Dr. med. Stefan Willis

Priv.-Doz. Dr. med. Reinhard Kasperk Chirurgische Universitätsklinik und Poliklinik der RWTH Aachen

Pauwelsstraße 30, 52074 Aachen M E D I Z I N

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