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Archiv "Die Emigration von Medizinern unter dem Nationalsozialismus" (22.09.1988)

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HEMEN DER ZEIT

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Die Emigration von Medizinern unter dem

Hans-Peter Kröner Nationalsozialism . ts

Seit Beginn der achtziger Jahre ist in der Bundesrepublik ein zuneh- mendes wissenschaftliches Interesse an der kulturellen und im engeren Sinne wissenschaftlichen Emigration unter dem Nationalsozialismus zu verzeichnen. Dieses Interesse hat sich unter anderem in der Veröf- fentlichung des von Werner Röder und Herbert A. Strauss herausge- gebenen „Handbuchs der deutschsprachigen Emigration" niederge- schlagen, das über 8000 Biographien deutschsprachiger Emigranten aus den Bereichen „Öffentliches Leben", „Kunst", „Literatur" und

„Wissenschaft" verzeichnet (1). *)

Welche Folgen hatte die Einwanderung hochqualifizierter Fachleute für die Wissenschaften der Aufnahmeländer und wie wirkte sich der „Exodus des Geistes" auf die Herkunftsländer aus (vornehmlich das Deutsche Reich und seine Nachfolgestaaten sowie Österreich)?

Mediziner hatten an dieser Zwangsauswanderung einen überragenden Anteil. Schon die Liste der „Notgemeinschaft Deutscher Wissen- schaftler im Ausland" führt 457 Mediziner an, die durch die National- sozialisten ihre Anstellung verloren hatten (2). Hierbei handelt es sich aber allein um wissenschaftlich tätige Mediziner. Die Zahl der ehedem praktisch tätigen, niedergelassenen Emigranten liegt weitaus höher und muß sich, nach eigenen Schätzungen, auf etwa 6000 belaufen (3).

Hinzu kommen noch etwa 3000 emigrierte Ärzte aus Österreich (4).

Medizin

und Judentum

Die wissenschaftliche und, im weiteren Sinne, akademische Emi- gration war im wesentlichen eine jü- dische Emigration, jüdisch aller- dings im Sinne von „nicht-arisch"

nach Maßgabe der rassistischen na- tionalsozialistischen Kategorien. Bei einem Bevölkerungsanteil von weni- ger als einem Prozent zählten sich 1933 etwa 6000 Ärzte zur jüdischen Religionsgemeinschaft. Hinzu ka- men noch über 2000 Ärzte, die nach den „Nürnberger Gesetzen" als

„nicht-arisch" galten (5). Das ergab einen Anteil von mehr als 15 Pro- zent an der Gesamtärzteschaft im

„Dritten Reich", die 52 500 betrug.

Gerade der überproportional hohe Anteil von Juden an den freien Be- rufen und damit auch an der Ärzte- schaft war eine Folge jener latenten Diskriminierung, die den Juden den Zutritt zum Staatsdienst oder zu Or- dinariaten wenn nicht verunmöglich- te so doch erschwerte, so daß ein Studium zunächst auch immer unter dem Aspekt des „Brotstudiums"

angetreten wurde (6).

Dennoch und vielleicht gerade wegen dieser Diskriminierung war der Beitrag der jüdischen Ärzte am Aufstieg der deutschen und österrei- chischen Medizin im späten 19. Jahr- hundert von grundlegender Bedeu- tung (7). Über 400 Namen nennt Siegfried Kaznelson in seinem Sam- melwerk „Juden im Deutschen Kul- turbereiche" und betont, daß es nur eine Auswahl der Bedeutendsten ist (8). Jeder Medizinstudent kennt die Henle-Schleife, den Auerbach-

*) Die Ziffern in () beziehen sich auf die Anmerkungen im Sonderdruck. Ein solcher kann sowohl beim Verfasser wie bei der Redak- tion angefordert werden.

schen-Plexus, den Edinger-Kern, die Herxheimer-, die Wassermann- Reaktion, den Romberg-Versuch, den Prausnitz-Küstner-Versuch, aber kaum einer weiß, daß es jüdi- sche Ärzte waren, denen diese Strukturen und Verfahren ihre Na- men verdanken Ähnliches gilt für Namen wie Freund, Traube, Kapo- si, Politzer, Binswanger, Aschheim, Zondek und Ehrlich. Gerade Paul Ehrlich, der Entdecker des Salvar- sans, verdeutlicht die Widersprüche einer jüdischen akademischen Kar- riere in Deutschland. Nobelpreisträ- ger und weltweit hochgeehrt, erhielt er doch erst 1914, ein Jahr vor sei- nem Tode, einen Ruf an die mit jüdischen Geldern neugegründete Universität Frankfurt.

Zwischen 1882 und 1909 gab es jeweils 20 bis 25 jüdische Ordina- rien; die Zahl sank bis 1917 auf 13 ab, was einem Anteil von einem

Prozent an den ordentlichen Profes- soren entsprach (9). Wenn auch in der Weimarer Republik die Zahl der jüdischen Ordinarien wieder an- stieg, so erwies sich doch der offen- kundige Antisemitismus der Studen- tenschaft (10) und der eher verdeck- te Antisemitismus der Professoren, der häufiger die Form eines sozialen Boykotts annahm (11), als Hemm- schuh für eine normale akademische Karriere, so daß sich die Mehrheit der jüdischen Wissenschaftler ent- weder Randfächern widmete, an we- niger traditionsgebundenen Univer- sitäten oder an außeruniversitären Forschungsinstitutionen wie den Kaiser-Wilhelm-Instituten forschte.

Zwischen 1933 und 1936 wurden un- gefähr 30 jüdische medizinische Or- dinarien

emeritiert oder zwangsent-

lassen.

Das entspricht einem Anteil von 6 bis 7 Prozent an der Gesamt- zahl der medizinischen Ordinarien

(2)

(12). Die medizinischen Fakultäten mit dem höchsten Anteil jüdischer Ordinarien zwischen 1925 und 1935 waren in Breslau und in Frankfurt.

Bevorzugte Fächer waren Dermato- logie, Pharmakologie und Hygiene.

Die klassische jüdische Karriere en- dete aber meistens im Extraordina- riat.

Ausschluß

und Vertreibung

Der Ausschluß der jüdischen und der politisch unerwünschten Ärzte und Wissenschaftler vollzog sich in mehreren Etappen (13). Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7.

April 1933 wurden alle beamteten Wissenschaftler und Ärzte „nicht- arischer" Abstammung aus ihren Anstellungen entlassen, sofern sie nicht Frontkämpfer im ersten Welt- krieg gewesen waren. Ebenso wurde entlassen, wer als politisch unzuver- lässig galt. Mit dieser auslegbaren Formel konnte auch die Frontkämp- fereinschränkung umgangen wer- den.

Die zunächst noch im Amt Ver- bleibenden verloren spätestens nach Erlaß der „Nürnberger Gesetze"

von 1935 ihre Anstellung. Die Maß- nahmen gegen die niedergelassenen Ärzte, die mit dem Verlust der Kas- senzulassung durch eine Verord- nung des Reichsarbeitsministeriums vom 22. April 1933 begonnen hat- ten, endeten mit der Aufhebung der Bestallung durch die „Vierte Ver- ordnung zum Reichsbürgergesetz"

vom 25. Juli 1938. Nur 709 jüdische Ärzte erhielten noch eine widerruf- liche Genehmigung, als „Kranken- behandler" jüdischer Patienten zu praktizieren.

Zu den Ordinarien, die 1933 und später ihren Lehrstuhl aufgeben mußten, gehörten der Altmeister der forensischen Psychiatrie Gustav Aschaffenburg aus Köln, die Der- matologen Oskar Gans aus Frank- furt und Max Jessner aus Breslau, die Physiologen Rudolf Höber (Kiel) und Hans Winterstein (Bres- lau), der Ophthalmologe Alfred Bielschowsky und der Gynäkologe Ludwig Fränkel (beide Breslau), der

Freiburger Internist Siegfried Thannhauser, die Pharmakologen Philipp Ellinger (Düsseldorf), Otto Riesser (Breslau), Martin Koch- mann (Halle), die Hygieniker Mar- tin Hahn (Berlin), Carl Prausnitz (Breslau), Max Neisser (Frankfurt), der Düsseldorfer Pädiater Albert Eckstein, der Kölner Physiologe Bruno Kisch und etliche mehr. Auch emeritierte Professoren wurden in die Emigration getrieben wie der weltberühmte Dermatologe Josef Jadassohn, der Pädiater Hugo Fal- kenheim oder der Nestor der deut- schen Urologie Leopold Casper.

Auch in der weitaus größeren Zahl der Extraordinarien finden sich bekannte Namen: die Pädiater Ste- fan Engel und Heinrich Finkelstein, die Psychiater Karl Birnbaum und Arthur Kronfeld, der Neurologe Kurt Goldstein, die Radiologen Franz Groedel und Ludwig Halber- staedter, , die Chirurgen Rudolf Nis- sen und Eduard Melchior, der So- zialhygieniker Benno Chajes, die In- ternisten Georg Klemperer und Ka- chel Hirsch, der Medizinhistoriker Richard Koch. Außerhalb der Uni- versität waren vor allem die Kaiser- Wilhelm-Institute von den Zwangs- entlassungen betroffen. Hier wurde mit dem Nobelpreisträger Otto Me- yerhoff und seinem nicht minder be- kannten Kollegen Carl Neuberg eine ganze biochemische Schule zur Emigration gezwungen. Nach dem Überfall auf Osterreich und die Tschechoslowakei wurden auch dort eine große Anzahl Wissenschaftler und Arzte ihrer Stellung enthoben und in die Emigration getrieben oder in ein Konzentrationslager de- portiert. Die Brutalität dieser Maß- nahmen führte zu einer panikartigen Massenflucht zu einem Zeitpunkt, an dem es immer schwieriger wurde, aufnahmebereite Länder zu finden.

Fast die gesamte Wiener Schule der Psychoanalyse emigrierte zusammen mit ihrem Begründer Siegmund Freud. Zu den Emigranten gehörten auch der Grazer Pharmakologe und Nobelpreisträger Otto Loewi, der Prager Pharmakologe Emil Starken- stein, der Prager Pathologe Arthur Biedl, der Wiener Pharmakologe Peter Pick, die Neurologen Otto Marburg und Max Schacherl, der

Otologe Heinrich von Neumann und sein emeritierter Kollege, der Rhi- nolaryngologe Markus Hajek (alle Wien), um nur die Bekanntesten zu nennen (14).

Erschreckend war, wie still- schweigend sich dieser Ausschlie- ßungsprozeß vollzog, wie wenig Pro- test es, von einigen couragierten Ausnahmen abgesehen (15), auf sei- ten der Ärzteschaft gab. Der Terror allein kann nicht — vor allem in der Anfangsphase — als ausreichende Er- klärung dienen, da die wenigen Pro- teste ohne persönliche Folgen für die Protestierenden blieben. Wirt- schaftliche Gründe wie die Aus- schaltung einer erfolgreichen Kon- kurrenz verbunden mit einem weit- verbreiteten, rassenbiologisch be- gründeten Antisemitismus innerhalb der Ärzteschaft vermögen da schon eher die allgemeine Indifferenz zu erklären. Für letzteres spricht auch der unproportional hohe Organisa- tionsgrad von Ärzten in NS-Organi- sationen wie SA und SS, oder, vor 1933, ein entsprechendes Enga- gement in antisemitischen Vereini- gungen wie zum Beispiel dem

„Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund" (16).

Wanderung

und Niederlassung

Der überwiegende Anteil der Ärzte und medizinischen Wissen- schaftler emigrierte in die USA (et- wa 50 Prozent); es folgen Palästina (22,4 Prozent), Großbritannien (12 Prozent) und die lateinamerikani- schen Länder (3,5 Prozent) (17). Ei- nen Sonderfall stellt die Türkei dar, wo im Zuge der Reformen Kemal Atatürks über 50 medizinische Emigranten an der Modernisierung der Universität Istanbul und dem Aufbau der Universität Ankara ei- nen entscheidenden Anteil hatten.

Zu dieser Gruppe gehörten unter anderen der Chirurg Rudolf Nissen, der Pädiater Albert Eckstein und der Dermatologe Alfred Marchioni- ni (18).

Die mehr als 4000 Ärzteimmi- granten in den USA fanden eine wis- senschaftlich fundierte und institu- A-2574 (26) Dt. Ärztebl. 85, Heft 38, 22. September 1988

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tionell sowie universitär verankerte Medizin vor, die den Vergleich mit dem alten Kontinent nicht zu scheu- en brauchte, ja ihn in einigen Berei- chen wie den operativen Fächern schon überholt hatte und auch in den anderen Fächern sich anschick- te, die Führung zu übernehmen (19). Probleme bereiteten hier ein seinerzeit unverkennbarer Antise- mitismus der American Medical As- sociation der sich in Zugangser- schwernissen für ausländische Ärzte niederschlug. So mußten die Immi- granten zur Erlangung der staat- lichen Approbation das „State Board Examn" ablegen, was erneu- tes, mühsames Studieren in einer fremden Sprache und unter meist äußerst kargen, materiellen Bedin- gungen bedeutete (20). Meist muß- ten die Ehefrauen in dieser Zeit für den Lebensunterhalt der Familie sorgen? wie es im Tagebuch der Ber- liner Ärztin Hertha Nathorff ein- drucksvoll dokumentiert wird (21).

Ähnlichen Schwierigkeiten sa- hen sich Ärzteeinwanderer in Groß- britannien ausgesetzt, wo die British Medical Association versuchte, die Zahl der ausländischen Praktiker möglichst gering zu halten. Auch hier wurde der deutsche Abschluß nicht anerkannt, so daß Ärzte wie- der die Schulbank drücken mußten (22). In Palästina bewirkte der große Einstrom von Ärzten, die neben ih- rem Wissen häufig auch Instrumente und Apparate mitbrachten, einen Modernisierungsschub und förderte gleichzeitig die Entwicklung der me- dizinischen Spezialfächer. Auch am Aufbau des Krankenversicherungs- wesens sowie der medizinischen Fa- kultät der Hebräischen Universität hatten deutschsprachige Emigranten einen entscheidenden Anteil (23).

Der anhaltende Einstrom von Ärz- ten führte aber auch in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts zu einer zu- nehmenden Ärztearbeitslosigkeit, so daß sich viele Ärzte schon vor ih- rer Emigration für eine Tätigkeit in der Landwirtschaft oder in einem Handwerk umschulen ließen (24).

Nach Ausbruch des Krieges schlossen sich die Tore der meisten Aufnahmeländer. In den alliierten Staaten wurden die Emigranten nun häufig als „feindliche Ausländer"

angesehen, wurden — so in Frank- reich und in England — interniert oder gar nach Kanada oder Austra- lien deportiert. Bis zur Besetzung durch die Japaner, 1941, war das

„International Settlement" in Shanghai noch ein potentieller Zu- fluchtshafen vor allem auch für österreichische Emigranten; später drohte auch ihnen die Internierung durch die Japaner (25). Sehr wenig wissen wir bisher über die Aufbauar- beit, die ärztliche Emigranten in den Entwicklungsländern geleistet ha- ben. Beispielhaft ist die Basisarbeit, die der österreichische Sozialmedizi- ner Ludwig Popper als Militärarzt in Bolivien in den entlegendsten Re- gionen des Chaco geleistet hat (26).

Zur Wirkung

der medizinischen Emigration

Wenn wir nach den Wirkungen dieses medizinischen Massenexodus fragen, so stellt sich eine Vielzahl von Problemen auf den verschieden- sten Ebenen. „Wirkung" wird hier meist in doppelter Hinsicht als Transfer von Wissen in die Aufnah- meländer bzw. als Verlust für die Herkunftsländer verstanden. Da wird dann bilanziert, werden Nobel- preise gezählt, da wird der Verlust an Innovationsfähigkeit beklagt oder werden gar, in einer besonders infamen nachträglichen Umarmung, die Emigranten für die nationale Ruhmeshalle der Wissenschaften reklamiert. Übersehen wird dabei, daß die wissenschaftliche Transfer- leistung in einem mühevollen Ak- kulturationsprozeß entstand, in ei- ner wechselseitigen Auseinanderset- zung wissenschaftlicher Kulturen, daß der Verlust aber nicht nur ein arithmetisches Problem der Subtrak- tion darstellt, sondern auch ein Pro- dukt der Wissenschaftsentwicklung im Nationalsozialismus war, deren Wurzeln weit in die Zeit vor 1933 reichen und deren Auswirkungen nicht mit der Befreiung endeten.

Für die Medizin müßte eine sol- che Wirkungsanalyse nicht nur die Vielzahl der verschiedenen Länder mit ihren unterschiedlichen wissen-

schaftlichen Traditionen und Ge- sundheitssystemen berücksichtigen, sondern auch alle klinischen und theoretischen Spezialfächer mit in die Untersuchung einbeziehen. Hier ist der einzelne Medizinhistoriker offensichtlich überfordert, so daß solche Untersuchungen — die noch ausstehen — nur im Rahmen einer Dis- ziplingeschichte der einzelnen Fächer unternommen werden können.

Den höchsten Anteil an den Fä- chern stellten die Internisten mit

11,5 Prozent, die aber eh den größ- ten Anteil von Fachärzten an der Gesamtärzteschaft bildeten. Beson- ders auffallend aber ist die hohe Zahl emigrierter Psychiater und Neurologen (ohne Psychoanalyti- ker!), die einen Anteil von 10,7 Pro- zent an den medizinischen Emigran- ten stellten, während ihr Anteil an der Gesamtärzteschaft nur knapp zwei Prozent betrug. Überdurch- schnittlich hoch war auch die Zahl der emigrierten Pädiater mit 5,3 Prozent gegenüber einem Anteil von 2,5 Prozent an der Gesamtärzte- schaft. Der Anteil der anderen Fä- cher entsprach mehr oder weniger der Fächerverteilung vor 1933 (27).

In den Grundlagenfächern sind die Biochemiker am häufigsten vertre- ten, gefolgt von den Pathologen, Bakteriologen, Physiologen und Pharmakologen.

Gewiß gab es große singuläre Leistungen in den klinischen Fä- chern. Zu nennen wären der Neuro- chirurg Sir Ludwig Guttmann, die Brüder Zondek in Israel, der Kar- diologe David Scherff in den USA oder sein New Yorker Kollege, der Dermatologe Rudolf Baer, um nur eine kleine Auswahl zu treffen. Die Entwicklung in den klinischen Fä- chern hing aber ganz wesentlich von Fortschritten der Grundlagenfächer ab, wo die eigentlichen innovativen Leistungen erbracht wurden. Dafür stehen die Namen so berühmter Emigranten wie die Nobelpreisträ- ger Hans Krebs, Boris Chain oder Sir Bernard Katz oder die Patholo- gen Paul Kimmelstiel und Hans Pop- per. Daß die Größe eines Faches und die Zahl der Emigranten nicht allein ausschlaggebend für eine Wir- kung waren, zeigt das Beispiel der Medizingeschichte, zu deren emi-

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grierten Vertretern Erwin Acker- knecht, Henry Sigerist (allerdings schon vor 1933), Ludwig Edelstein (alle USA), Max Neuburger und Walter Pagel (beide England) und Süßman Muntner (Israel) gehören (28).

Die Aufreihung großer Namen wissenschaftlich erfolgreicher Medi- ziner verstellt aber den Blick auf die Tatsache, daß die medizinische Emigration im wesentlichen eine ärztliche Emigration war, daß die niedergelassenen Praktiker den überwiegenden Anteil an dieser Emigration stellten und daß es wechselseitige Übergänge zwischen wissenschaftlich arbeitenden und praktizierenden Medizinern gab, so daß man besser von einer akademi- schen Emigration sprechen sollte.

Vor allem aber läßt die wissenschaft- liche Erfolgsgeschichte vergessen, daß die Emigrationsgeschichte auch und vor allem eine Leidensgeschich- te ist, daß ihr Diskriminierung, Aus- schluß und Demütigung vorausgin- gen, daß sie häufig erneute Demüti- gung und mühsame Lehrjahre in ei- ner fremden Umgebung beinhaltete und daß das Trauma der Vertrei- bung auch einen Bruch in der Le- bensgeschichte bedeuten konnte, der einen Verlust des Urvertrauens, ein Gefühl der Entwurzelung und Heimatlosigkeit zurückließ. So soll- te der Erfolgsgeschichte der wissen- schaftlichen Emigration auch eine Sozialgeschichte der medizinischen Emigration gegenübergestellt wer- den, in der erst die Bedingungen des Erfolgs sichtbar würden, in der die Möglichkeiten des Scheiterns und der personalen Beschädigung im for- mellen und informellen Beziehungs- netz der ersten Akkulturationsjahre untersucht würden. Ein Problem stellt dabei — neben der diffizilen Quellenlage — der hohe Differenzie- rungsgrad dieser Emigranten dar, der sich einer vordergründigen Typi- sierung, wie sie dem Bild vom „As- similationsjuden" zugrunde liegt, entzieht. Während man vielleicht bei der Mehrzahl von niedergelasse- nen Ärzten von einer gewissen jüdi- schen Ethnizität unabhängig von ih- ren religiösen Überzeugungen aus- gehen kann (29), so findet man bei den Wissenschaftlern eine Fülle von

Stilbildungen, die von einer tiefen, auch religiösen Verwurzelung im Ju- dentum wie im Falle des orthodoxen Bruno Kisch bis zum Agnostizismus eines modernen Naturwissenschaft- lers, der sich auch von den ethni- schen Wurzeln des Judentums weit entfernt hat, reicht, wofür zum Bei- spiel der Wiener Endokrinologe Ju- lius Bauer stehen könnte (30).

Auch von den aus politischen Gründen emigrierten Ärzten war ein großer Teil jüdischer Herkunft, so daß sie in doppelter Hinsicht ver- folgt waren (31). Ihr Anteil an der medizinischen Gesamtemigration betrug nach eigenen Berechnungen etwa sieben Prozent und entsprach damit ungefähr dem Anteil der poli- tischen Emigranten an der Allge- meinemigration (6 Prozent) (32).

Die Mehrzahl war vorher im Verein sozialistischer Ärzte und in der Ar- beitsgemeinschaft sozialdemokrati- scher Ärzte organisiert gewesen, war von der Sozialhygiene Alfred Grotjahns beeinflußt und in mannig- faltigen sozialmedizinischen Aktivi- täten involviert gewesen (33). Für einen Wissenstransfer in die Auf- nahmeländer waren gewiß nur Ein- zelfälle von Bedeutung wie Benno Chajes, der die Gründung der ersten privaten Krankenversicherung in Palästina anregte, oder Franz Gold- mann, der zuletzt Öffentliches Ge- sundheitswesen (Public Health) an der Harvard Universität lehrte (34).

Ungleich bedeutender war aber der Verlust für die Herkunftsländer, in denen die Sozialmedizin durch ras- senhygienische Auslese- und Aus- merzepraktiken ersetzt wurde. Auch nach dem Krieg wurde nur langsam wieder ein neues Verständnis für die soziale und politische Dimension der Medizin entwickelt.

Nach 1945

Nur wenige sind nach dem Krieg zurückgekehrt. Der Rückkehreran- teil der medizinischen Emigranten beträgt etwas mehr als fünf Prozent (35). Die Gründe sind vielfältig. Für viele war es auf Grund der erlittenen Demütigungen, der Erfahrung von Boykott, Ausschluß und Vertrei- bung, der Ermordung von Angehö-

rigen und vor allem wegen des Holo- causts unmöglich, zurückzukehren.

Häufig hatte man auch schon eine neue Existenz gegründet, die man nicht für eine ungewisse Zukunft im Nachkriegsdeutschland oder in Österreich aufgeben wollte. Ab- schreckend wirkte wohl auch, daß manche geistigen Wegbereiter der nationalsozialistischen Medizinver- brechen nach einer kurzen Entnazi- fizierung zu einer zweiten Karriere antraten (36). Tatsächlich war ein Argument gegen die Rückberufung vertriebener Wissenschaftler, daß die unter dem Nationalsozialismus Berufenen nach erfolgreicher Ent- nazifizierung Anspruch auf Wieder- einstellung in die alte Position hat- ten, so daß angeblich nicht genü- gend qualifizierte Stellen zur Verfü- gung standen (37). Grundsätzlich wird man davon ausgehen müssen, daß die Bereitschaft, Emigranten wiederaufzunehmen gering war, daß die Bezeichnung „Emigrant" sogar als disqualifizierendes Etikett im po- litischen Tagesgeschäft benutzt wer- den konnte, wie das Beispiel Willy Brandt gezeigt hat.

Zu den Rückkehrern gehörten der Pädiater Albert Eckstein, der aber kurz nach seinem Ruf an die Universität Hamburg verstarb, die Dermatologen Oskar Gans und Al- fred Marchionini, die beide später zu Rektoren der Universität Frank- furt bzw. München gewählt wurden, der Physiologe Otto Kestner als Emeritus, der Pharmakologe Otto Riesser (Universität Frankfurt) und der Internist Herbert Herxheimer.

Von den politischen Emigranten kehrten unter anderem Andreas Knack und Kurt Glaser zurück, die nacheinander zu Präsidenten der Ge- sundheitsbehörde Hamburg aufstie- gen. Ein Teil der politischen Emi- granten kehrte in die DDR zurück, so der Internist Felix Boenheim, der Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf oder der Chirurg Maxim Zetkin.

Nach Österreich remigrierten der Psychiater Hans Hoff, die Chirurgen Felix Mandl und Franz David (David war als KPÖ-Mitglied ein politischer Emigrant), der Neurologe Max Scha- cherl und andere (38).

Wie weit der Einfluß der Emi- granten auf die Medizin der Her- A-2576 (30) Dt. Ärztebl. 85, Heft 38, 22. September 1988

(5)

DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

BLICK INS AUSLAND

Niederlande: Privatversicherer gegen Versicherungsreform

kunftsländer durch Gastprofessu- ren, Übersetzungen, Kongresse reicht, entzieht sich noch einer Be- urteilung. Horst Möller schätzt, daß ungefähr 26 Prozent des Verlustes durch die „kulturelle Emigration"

(das heißt Wissenschaft, Politik, Kunst und Literatur) durch Remi- gration wettgemacht wurde und konstatiert einen großen Einfluß der Emigranten auf die Nachkriegskul- tur in der Bundesrepublik (39). Für die Medizin, die den größten Anteil an der „akademischen Emigration"

stellte, gilt das mit Sicherheit nicht.

Der eigentliche Verlust läßt sich aber nicht bilanzieren noch quantifi- zieren: Es ist ein Verlust an Men- schen, die sich engagierten, die un- sere Kultur, unsere Sprache liebten, deren Vertreibung daher eine Leer- stelle in unserem öffentlichen Leben und unserer politischen Kultur zu- rückließ. Wenigstens die Erinnerung an sie sollten wir aufrechterhalten, käme doch ein Vergessen einer zweiten Vertreibung gleich. Dieses Erinnern ist um so notwendiger in Zeiten einer zunehmenden Auslän- derfeindlichkeit, in denen das böse Wort vom „Wirtschaftsemigranten"

die Runde macht, das Asylrecht ver- schärft wird und auch in so man- chem Stellenangebot ein „deutscher Arzt" gesucht wird.

Literatur und Anmerkungen beim Sonderdruck

Anschrift des Verfassers:

Dr. Hans-Peter Kröner Institut für Theorie und Geschichte der Medizin der Westfälischen Wilhelm-Universität

Waldeyerstr. 27, 4400 Münster

Die bisher erschienenen Beiträge:

Prof. Dr. med. Gunter Mann: Biologis- mus — Vorstufen und Elemente einer Medizin im Nationalsozialismus (Heft 17/1988). Prof. Dr. phil. Gerhard Baa- der: Rassenhygiene und Eugenik — Vor- bedingungen für die Vernichtungsstrate- gien gegen sogenannte „Minderwerti- ge" im Nationalsozialismus (Heft 27/1988). Prof. Dr. Werner-Friedrich Kümmel: Die „Ausschaltung" — Wie die Nationalsozialisten die jüdischen und die politisch mißliebigen Arzte aus dem Beruf verdrängten (Heft 33/1988)

Die niederländischen Privatver- sicherer haben die Pläne der Utrech- ter Regierung für eine umfassende Krankenversicherungsreform scharf kritisiert. Die Versicherer führen drei Argumente an:

> Die Ziele der Kabinettsplä- ne, ein effizienteres Gesundheitswe- sen durch den Einbau von Marktele- menten und verstärkte Konkurrenz, würden nicht realisiert.

> Die privaten Krankenversi- cherungen kritisieren auch, daß sie in ihren bisherigen Marktpositionen beschnitten würden. Dadurch, daß der gesetzlichen Krankenversiche- rung künftig die Rolle eines Markt- führers und einer Zentralkasse zuge- wiesen werden soll, werde die Posi- tion privater Versicherungen als Ri- sikoträger unterminiert. Darüber hinaus vertrage sich ein gesetzliches Sicherungssystem nicht mit einem System, bei dem Normzahlungen an eine interne Zulassungspflicht ge- koppelt werden.

> Dritter Grund: Die privaten Versicherungen meinen, daß sie ihre Aufgabe nur dann angemessen aus- üben können, wenn sie im Prinzip vollständig mit Nominalprämien ar- beiten. Korrekturen auf Grund des Prinzips der Leistungsfähigkeit müß- ten außerhalb des Versicherungssy- stems vorgenommen werden.

Nach den Plänen der niederlän- dischen Regierung wird beabsich- tigt, spätestens 1992 eine umfassen- de Krankenversicherungsreform in Kraft zu setzen, die im wesentlichen auf den Vorschlägen der von der Re- gierung eingesetzten „Kommission Dekker" basiert. Danach soll eine gesetzlich geregelte Basishaftpflicht- versicherung für jeden Einwohner der Niederlande eingeführt werden.

Das zu versichernde „Basispaket"

soll durch gesetzliche Rahmenbedin- gungen festgelegt werden; es soll 85 Prozent der Leistungen für das Ge- sundheitswesen und verwandte ge- sellschaftliche Dienstleistungen um- fassen. Die restlichen 15 Prozent sol-

len in einer zusätzlichen Versiche- rung ohne Versicherungspflicht un- tergebracht werden. Für den Versi- cherer gilt hinsichtlich des „Basispa- ketes" eine unbegrenzte Zulas- sungspflicht für jeden Versicherten, der sich bei ihm anmeldet — auch wenn er nur von dem einen zu dem anderen Versicherer wechseln will.

Für die zusätzliche Versicherung gilt eine Zulassungspflicht unter näher festzulegenden Bedingungen.

Die Finanzierung sieht folgen- des Reglement vor: Die Prämie für die Basisversicherung wird nahezu vollkommen — erwartet wird zu 80 Prozent — anteilsmäßig über das Ein- kommen erhoben. Das Finanzamt zieht die Prämien ein und leitet sie an eine zentrale Sozialkasse weiter.

Die restliche Prämie für das „Basis- paket" wird nominal und vom Ver- sicherer selbst erhoben. Dies gilt auch für die Prämie für das Ergän- zungspaket. Die Zentralkasse muß ihre Einnahmen über die Versiche- rer verteilen. Dies geschieht über sogenannte „Normzahlungen" an die Versicherer, die auf dem Versi- chertenbestand dieser Versicherung beruhen, wobei eine Reihe von Risi- kofaktoren, wie Alter, Geschlecht, Gesundheit u. a. berücksichtigt wer- den. Die Versicherer erhalten ihre Einnahmen in Form von Normzah- lungen und einer oder zwei Nomi- nalprämien

Derzeit gibt es in den Niederlan- den einen „gespaltenen" Kranken- versicherungsmarkt• eine soziale, gesetzliche Versicherung und eine private Krankenversicherung. In der gesetzlichen Versicherung sind rund 60 Prozent der Bevölkerung, vor al- lem Arbeitnehmer und Bezieher staatlicher Unterstützungen mit ei- nem Einkommen von weniger als 50 000 hfl, versichert. Die Prämie wird prozentual über das Einkom- men erhoben; das Leistungspaket ist gesetzlich festgelegt. Die restlichen 40 Prozent der Bevölkerung sind ausschließlich privat versichert. HC

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