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Archiv "Arbeitszeiten im Krankenhaus: Staatlich geduldeter Rechtsbruch" (13.02.2004)

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ie EU-Kommission hat wegen der Verletzung des Stabilitätspaktes gegen Deutschland und Frank- reich eine Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingeleitet. Das ist richtig und korrekt: Pacta sunt ser- vanda. Eine andere Frage ist es, wie in- nerhalb der Europäischen Union (EU) mit Gesetzen und Gerichtsur- teilen umgegangen wird, und ob den Richtern des EuGH ausreichend Respekt entgegen- gebracht wird. Es geht um die Arbeitszeiten und Bereit- schaftsdienste in Krankenhäu- sern, bei Feuerwehren und Ret- tungsdiensten. Eine diffuse Hetze gegen Ärzte und das

„marode Gesundheitssystem“

stehen derzeit hoch im Kurs.

Latente Antipathie findet man in der Berichterstattung vieler Medien. Hier geht es aber kei- nesfalls um „überzogene For- derungen einer verwöhnten Ärztelobby“, sondern um staat- lich geduldeten Rechtsbruch.

Gerichtsurteile, die der Politik passen, werden umgesetzt, missliebige Entscheidungen ignoriert.

Dass in den Krankenhäusern, insbe- sondere für Ärzte, unwürdige und ge- fährliche Arbeitsbedingungen herr- schen, ist längst bekannt. Dies ist Folge von immer mehr (meist sinnloser) Bürokratie, immer kürzeren Liegezei- ten und einem seit Jahrzehnten nicht angepassten Personalplan. Überstun- den von Ärzten sind die Regel, werden auf Druck der Verwaltungen aber nicht dokumentiert. Extreme Arbeitszeiten (teils am Stück im „normalen Arbeits- leben“ einer 4-Tage-Woche entspre-

chend), enormer Zeitdruck und ein rau- es Klima sind die Regel. Oft wird ver- sucht, das Problem zu individualisieren:

„Wenn Sie 30 Patienten und sechs Zu- gänge nicht in Ihrer normalen Arbeits- zeit versorgen können, dann sind Sie nicht belastbar und arbeiten nicht ef- fektiv.“ Die Zahl der Ärztinnen und

Ärzte, die – unter vier Augen – Überla- stung, Überforderung und Übermü- dung beklagen, ist aber inzwischen so groß, dass die Verschiebung zum indivi- duellen Problem nicht der Realität ent- sprechen kann.

Skandalkette, Teil 1

Am 23. November 1993 wurde die EU- Richtlinie 93/104 zu bestimmten Aspek- ten der Arbeitszeitgestaltung erlassen, die die gröbsten Missstände in den Mit- gliedsstaaten beseitigen sollte. Der deut-

sche Gesetzgeber änderte daraufhin zum 1. Juli 1994 das Arbeitszeitgesetz, wobei für die Krankenhäuser eine län- gere Umsetzungsfrist (bis zum 1. Januar 1996) vereinbart wurde. Die Umset- zung der Arbeitszeitrichtlinie war je- doch wirr, unschlüssig und falsch. Ob- gleich damals sehr viele Ärzte verfüg- bar waren, hat man die Arbeitsbedin- gungen im Krankenhaus nicht verbes- sert, sondern stattdessen eine realitäts- ferne Formulierung eingefügt.

Bei den Bereitschaftsdiensten wurde nur die Zeit der tatsächlichen Heranzie- hung zur Arbeit als Arbeitszeit gewer- tet, der Rest als Ruhezeit. Eine Farce:

Es ist keine Ruhezeit, wenn ein Arbeit- nehmer sich an einem vorgegebenen Ort aufhalten und jederzeit sofort (!) arbeitsbereit sein muss. Die Situation gleicht weniger einer Ruhezeit als viel- mehr einem Gefängnis. Die Möglich- keiten, diese „Ruhezeit“ zum Ruhen zu nutzen, sind extrem limitiert.

Jeder, der Bereitschaftsdienste leistet, weiß das. Bestenfalls ist es möglich zu lesen, zu essen oder fernzusehen. Auch ist das Umfeld in der Regel weder gastlich noch gemütlich und oft auch sehr laut.

Die Diskussion wird denn auch ausschließlich von solchen Interessenten forciert, die selbst noch nie einen einzigen Bereitschaftsdienst gemacht haben. Wenn ein Jurist schreibt, dass „(. . .) eine Zeit ohne Inan- spruchnahme im Bereitschafts- dienst, während der geschlafen werden kann, unzweifelhaft genauso gesundheitsförderlich wie der Schlaf an einem frei ge- wählten Aufenthaltsort (. . .)“ sei (An- dreas Breezmann in der NZA – Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, Heft 17/2002), zeigt allein schon die Gleich- setzung mit dem häuslichen Umfeld eine erschreckende Unkenntnis der Realität.

Charakteristisch für den Bereit- schaftsdienst ist auch, dass nur der Zu- fall die Lage und Dauer des Schlafes be- stimmt. Einmal sechs Stunden Schlaf haben einen anderen Erholungswert als sechsmal eine Stunde Schlaf. Nach sol- chen Nächten, in denen man stündlich aus dem Schlaf gerissen wird, wäre der P O L I T I K

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A386 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 713. Februar 2004

Arbeitszeiten im Krankenhaus

Staatlich geduldeter Rechtsbruch

Missliebige Urteile werden weiterhin ignoriert. Der übermüdete

Arzt bleibt. Als betroffener Arzt berichtet der Autor aus

dem Krankenhausalltag und kritisiert die Verantwortlichen.

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Autor dieses Beitrages wegen Übermü- dung inzwischen dreimal fast mit dem Auto tödlich verunglückt.

Durch die realitätsferne Bewertung der Bereitschaftsdienste als Ruhezeit ergeben sich Marathoneinsätze von 24 bis 36 Stunden am Stück. Dauer und Umstände des Schlafes sind dem Zufall überlassen. Dies gefährdet erheblich die Gesundheit von Arzt und Patient.

Es sollte jedem klar sein, dass nach zwölf bis 14 Stunden sowohl die Kon- zentration und als auch die Leistungs- fähigkeit erheblich nachlassen. Wer dennoch behauptet, er würde seine Pa- tienten danach noch optimal versorgen, ist nicht ehrlich oder aber ein Über- mensch.

Durch die realitätsferne Bewertung von Bereitschaftsdienst als Ruhezeit er- geben sich darüber hinaus Wochenar- beitszeiten von 60 bis 100 Stunden. Dies belastet die Familien der Betroffenen.

Für Fortbildung oder gar Freizeitakti- vitäten bleibt kaum Zeit. Aber nur ein ausgeruhter Arzt kann ein guter und motivierter Arzt sein, und nur ein Arzt,

der Zeit für Fortbildung hat, kann eine gute Medizin machen. Dies gilt in glei- cher Weise für Pflegekräfte, Sanitäter und Feuerwehrmitarbeiter.

Ein weiteres Problem: Der Begriff

„Bereitschaftsdienst“ wurde und wird gerne missbraucht. Auch wenn klar ist, dass Arbeit durchgehend anfällt und man vor Mitternacht (also nach frühe- stens 16 Stunden Arbeit) nicht zur Ru- he kommt, wird in der Regel munter Bereitschaftsdienst angeordnet. Würde der Bereitschaftsdienst mit Anstand und Augenmaß angeordnet, hätte man vielleicht sogar mit dem alten Arbeits- zeitgesetz leben können.

Skandalkette, Teil 2

Am 3. Oktober 2000 wurde nach Klage von spanischen Ärzten das so genann- te SIMAP-Urteil (Az.: Rs C 303/98) pu- blik, in dem der Europäische Gerichts- hof feststellt, was die Erfahrung und der normale Menschenverstand oh- nehin vermuten lassen: Bereitschafts-

dienst ist in vollem Umfang Arbeits- zeit.

Die Entscheidung des Gerichtes im Jahr 2000 wäre eine (späte) Möglichkeit gewesen, für vernünftige Arbeitsbedin- gungen in deutschen Krankenhäusern zu sorgen und den Schutz der Mitarbei- ter und somit auch der Patienten vor Übermüdung sicherzustellen. Die Ge- setze der Physiologie gelten immer – unabhängig davon, was Bundestag, Ge- richte oder Kostenträger beschließen.

Aber die Bundesregierung entschied sich zu juristischen Schikanen und be- hauptete, das Urteil gelte nur für Spani- en. Der Kieler Klinik-Assistenzarzt Dr. med. Norbert Jäger klagte gegen diese Auslegung des SIMAP-Urteils:

Die Arbeitsbedingungen seien in Deutsch- land und in Spanien vergleichbar. Zu- dem stehe europäisches Recht über na- tionalem Recht. Der EuGH sah dies ge- nauso und bestätigte am 9. September 2003 erneut, dass Bereitschaftsdienst, der vor Ort geleistet wird, in vollem Umfang als Arbeitszeit zu werten ist (Az.: RsC 151/02).Weitere bestätigende Urteile waren zuvor von der Politik ebenfalls ignoriert worden: am 3. Juli 2001 die zweite EuGH-Entscheidung

„Sergas“ (Az.: RsC 241/99, Italien betref- fend), am 18. Februar ein erstes Urteil des Bundesarbeitsgerichts (Az.: 1 ABR 2/02) und am 5. Juni 2003 ein zweites Urteil aus Erfurt (Az.: 6 AZR 114/02).

Skandalkette, Teil 3

Nach jahrelangem Taktieren, Ignorie- ren, Bagatellisieren und andauernden juristischen Spitzfindigkeiten hat die Bundesregierung dann am 10. Septem- ber 2003 eine Neufassung des Arbeits- zeitgesetzes vorgelegt, die – vom Ver- mittlungsausschuss bearbeitet – zum 1. Januar 2004 in Kraft getreten ist.

Die Möglichkeit, das verwirrende, in sich widersprüchliche und unschlüssige alte Arbeitszeitgesetz komplett zu ent- rümpeln, wurde dabei konsequent nicht genutzt – Tradition verpflichtet – und stattdessen ein neues Arbeitszeitgesetz geschaffen, dass weiterhin für Unklar- heiten und Irritationen sorgt, erweitert noch um praxisuntaugliche Regelungen (Widerspruchsrecht). In Kenntnis der Vorgeschichte fällt es schwer, darin kei- P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 713. Februar 2004 AA387

Die Übergangsklausel

Auslegungssache

Davon, dass am 1. Januar ein revidiertes Ar- beitszeitgesetz in Kraft getreten ist, hat bislang kaum ein Arzt etwas gemerkt. In den meisten Krankenhäusern wird der ärztliche Bereit- schaftsdienst immer noch größtenteils zur Ru- hezeit gezählt. Die Zahl der Ärzte, deren wöchentliche Arbeitszeit die 48-Stunden-Gren- ze nicht überschreitet, kann an einer Hand ab- gezählt werden.

Das Problem: Die Klinikarbeitgeber werten die in § 25 Arbeitszeitgesetz verankerte Über- gangsregelung für bestehende Tarifverträge dahingehend, bis Ende 2005 alles beim Alten lassen zu können. „Die Katastrophe ist noch einmal ausgeblieben“, betonte denn auch Se- bastian Hofmann von der Deutschen Kranken- hausgesellschaft gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt. Erfreulicherweise habe der Gesetz- geber den Krankenhäusern zwei Jahre mehr Zeit für die teure Umstellung der ärztlichen Arbeitszeiten gegeben.

Das sieht der Marburger Bund anders: Zwar könnten bestimmte Vorschriften bestehender Tarifverträge bis Ende 2005 weiter ange-

wandt werden. Diese gelte aber nur für jene Regelungen, die eine Verlängerung der tägli- chen Arbeitszeit mit Ausgleich vorsehen. Die durchschnittliche wöchentliche Höchstar- beitszeit von 48 Stunden dürfe keineswegs überschritten werden. Und: „Unabhängig da- von entfaltet das Arbeitszeitgesetz im öffent- lichen Dienst nach Urteil des Bundesarbeits- gerichts vom 18. Februar 2003 (Az.: 1 ABR 2/02) keine Wirkung, sofern es hinter den Vor- gaben der EU-Arbeitszeitrichtlinie 93/104 zurückbleibt“, schreibt die Klinikärztegewerk- schaft in einem Leitfaden für ihre Mitglieder.

Der Marburger Bund benennt die Möglich- keiten der Ärztinnen und Ärzte, sich gegen ei- ne Arbeitszeit zu wehren, die gegen das Ar- beitszeitgesetz verstößt. Dazu zählen das ab- teilungsinterne Gespräch, die Einbeziehung der Personal- und Betriebsräte, die Kontakt- aufnahme mit der Mitarbeitervertretung und gegebenenfalls die Klage. Wichtig: Der Betrof- fene kann einen Verstoß gegen das Arbeits- zeitgesetz überprüfen lassen. Zuständig sind die Gewerbeaufsicht beziehungsweise die Ämter für Arbeitsschutz auf Landesebene.

Über den Personal- oder Betriebsrat haben Beschäftigte die Möglichkeit, sich an die zu- ständige Behörde zu wenden und die Gestal- tung der Arbeitszeit überprüfen zu lassen. JF

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ne Absicht zu sehen. Schon ist erneut Streit entbrannt, für wen die zweijähri- ge Übergangsfrist für bestehende Tarif- verträge (siehe Textkasten „Übergangs- klausel“) gilt. Von einer klaren Rege- lung, das heißt immer und ausnahmslos einzuhaltende Ruhezeit von elf Stun- den und wöchentliche Höchstarbeits- zeit von 48 Stunden (auch eine wö- chentliche Arbeitszeit von 50 oder 55 Stunden wäre vertretbar), ist nichts zu erkennen – stattdessen Ausnahmen, Sonderregeln, „Wenn und Aber“. Si- cher, ein Bereitschaftsdienst in einer Rheumatologischen Rehaklinik, Der- matologischen Klinik oder bei der Feu- erwehr ist etwas anderes als ein Bereit- schaftsdienst in einer Kreiskranken- haus-Chirurgie mit großem Einzugsge- biet. Der Gesetzgeber wird aber nicht den Unterschieden gerecht, wie er vor- gibt, sondern lässt Arbeitsschutz und Arbeitszeit weiter im Unbestimmten.

Skandalkette, Teil 4

Das Taktieren geht weiter. Noch immer diskutieren Personen, die selbst nie ei- nen einzigen Bereitschaftsdienst gelei- stet haben, darüber, ob dies denn wirk- lich Arbeitszeit sei und die Gerichte

nicht irren. Es wäre wohl zu einfach, selbst für eine Woche an Bereitschafts- diensten teilzunehmen, um sich eine Meinung zu bilden. Es soll der Eindruck erweckt werden, es hätten arbeits- scheue unersättliche Ärzte geklagt, um mit wenig Arbeit viel Geld – im Schlaf – zu verdienen. Auch fehlten Ärzte – in den Vorjahren sehr hochmütig aus den Kliniken vertrieben – zur Umsetzung.

Ein klares Bekenntnis für oder gegen das SIMAP-Urteil, zuletzt bestätigt im Fall „Jäger“, gibt es auch nach mehr als drei Jahren nicht. Verantwortung wird hin- und hergeschoben, vom Bund zu den Ländern, von dort zu den Arbeitge- bern, von denen zurück zu Ländern, Bund oder EU.

Enttäuschend ist besonders, dass sich die Ärzteschaft gegenseitig attackiert, anstatt geschlossen zu handeln. Warum kam und kommt von den Chefärzten keine Unterstützung? Gerade die Chef- ärzte müssten ein großes Interesse dar- an haben, dass die Arbeit – auf mehr ausgeschlafene Köpfe verteilt – viel gründlicher, entspannter, patientenzu- gewandter und mit Luft für etwas Lehre gemacht werden kann. Es wäre Aufga- be der Chefärzte und der Verwaltung, mithin gerade auch der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Öf-

fentlichkeit und Politik zu verdeutli- chen, dass gute und innovative Medizin Geld kostet und bezahlt werden muss, wenn man sie will. Qualität steigern, Bürokratie maximieren, Zuwendung und Zeit für den Patienten und zugleich das Personal minimieren – das kann sich nicht vereinen lassen. Wenn aber bereits innerhalb der Ärzteschaft Unei- nigkeit herrscht und beispielsweise die Beschlüsse des Deutschen Ärztetages 2001 keinerlei Bedeutung für leitende Ärzte haben, darf man sich nicht wun- dern, wenn Politiker und Kostenträger dies auch ausnutzen.

„Vor Ort“ tut sich weiterhin über- wiegend nichts, geplante Verbesserun- gen sind nicht erkennbar. Die Erpro- bung neuer Arbeitszeitmodelle, von der Ulla Schmidt und die DKG gerne reden, existiert nur auf dem Papier.We- der altes noch neues ArbZG werden eingehalten. Die Krankenhausgesell- schaft empfiehlt bereits zwischen den Zeilen in der Verbandszeitschrift „das Krankenhaus“ (Heft 1/2004), zunächst weiter nichts zu tun und auf eine Än- derung der EU-Arbeitszeitrichtlinie 93/104 zu warten. Wenn es darum geht, missliebige Gerichtsurteile und Geset- ze zu ignorieren, können die Betreiber von Krankenhäusern, Rettungsdien- sten und Feuerwehren auf starke Part- ner bauen, die Gerichtsurteile ebenfalls missachten und Rechtsbruch in be- stimmten Bereichen des Rechts wohl- wollend tolerieren: Bundesregierung, Landesregierungen und die EU-Kom- mission.

Das SIMAP-Urteil ist ein differen- ziertes und kluges Urteil, das der heuti- gen Arbeitswelt gerecht wird. Es ist kei- ne Entgleisung eines verwirrten Rich- ters, die man korrigieren müsste. Es schützt Mitarbeiter vor Übermüdung und Überlastung und schützt damit auch Patienten – es ist für alle Europäer ein gutes Urteil. Wer aber hoffte, Bun- desregierung und EU-Kommission würden, angeregt durch die Luxembur- ger Richter, Visionen für die Menschen in Europa entwickeln, die zudem mehr Beschäftigung garantieren, wurde er- neut enttäuscht.

Aber schlimmer noch: Die Bundesre- gierung drängt neben anderen National- staaten die EU-Kommission, die Rege- lungen der Arbeitszeit wieder den Na- P O L I T I K

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A388 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 713. Februar 2004

EuGH-Urteil

Kein Anspruch auf mehr Geld

Die ärztlichen Bereitschaftsdienste gelten zwar jetzt voll als Arbeitszeit, dürfen aber nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) geringer bezahlt werden als reguläre Arbeit. Wie die Erfurter Richter am 28. Januar verkündeten (Az.: 5 AZR 530/02 und 5 AZR 503/02), können Ärzte und Rettungssanitäter aus der Rechtsprechung des Europäischen Ge- richtshofs (EuGH) zur Einstufung von Bereit- schaftsdiensten als Arbeitszeit keinen An- spruch auf höhere Vergütung ableiten. Bei der maßgeblichen EU-Arbeitszeitrichtlinie 93/104 gehe es ausschließlich um Gesundheitsschutz und nicht um Bezahlung. Damit wies das Ge- richt die Klagen eines Krankenhausarztes und eines Rettungsfahrers ab. Nach den im Ge- sundheitswesen üblichen Vertragsklauseln sei

der Bereitschaftsdienst ausreichend bezahlt.

Der Assistenzarzt hatte in seinem Arbeitsver- trag mit einer badischen Privatklinik Nacht- und Wochenend-Bereitschaften vereinbart.

Als Basis für die Bezahlung eines Bereit- schaftsdienstes von 24 Stunden wurden 13,2 Stunden zugrunde gelegt. Die Regelung ist mit dem Bundesangestelltentarif vereinbar.

Sie bedeutet nicht, dass etwa bei dem Arzt 10,8 von 24 Stunden nicht bezahlt würden, betonte das BAG. Vielmehr werde der Bereit- schaftsdienst in voller Länge bezahlt, aller- dings zu einem verringerten Stundensatz. Das sei zulässig, weil auch die Inanspruchnahme der Arbeitnehmer geringer als im regulären Dienst sei. So bekomme der Arzt für eine Inan- spruchnahme von 55 Prozent 68 Prozent des regulären Gehalts. Dies sei auch der Höhe nach nicht unangemessen, urteilte das BAG.

Auf die Frage, ob die Bereitschaftsdienste nach den deutschen oder europäischen Ar- beitszeit-Begrenzungen überhaupt zulässig waren, komme es für die Berechnung der Ver-

gütung nicht an. JF

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tionalstaaten zu überlassen. Was zu- nächst positiv nach „Liberalismus statt Zentralismus“ klingt, hat nur einen ein- zigen Zweck: den Nationalstaaten die Möglichkeit zu eröffnen, das EuGH-Ur- teil zu umgehen. Nach vorne von Ge- sundheitsschutz, Innovation und besse- ren Arbeitsbedingungen reden, im Hin- tergrund Druck auf die EU-Kommission

ausüben, die Arbeitszeitrichtlinie 93/104 aufzuweichen – das ist hinterhältig.

Die zuständige EU-Kommissarin Anna Diamantopoulou hat bereits an- gekündigt, dem Richterspruch auch weiterhin nicht folgen zu wollen, son- dern die maßgebliche EU-Arbeitszeit- richtlinie 93/104 zu ändern: Die Mit- gliedsstaaten sollen demnächst selbst entscheiden können, ob sie Bereit- schaftsdienste als Arbeitszeit werten.

Das Gerichtsurteil habe große Proble- me ausgelöst. Wenn es akzeptiert wür- de, würden allein in Deutschland zu- sätzlich 15 000 neue Ärzte benötigt, meint die für Arbeit und Soziales zu- ständige Kommissarin. Das Urteil dro- he somit, die Gesundheitssicherungssy- steme der Mitgliedsstaaten zu unter- graben. Daneben sei die Umsetzung zu teuer.

Aber stellt das SIMAP-Urteil die EU-Mitgliedsstaaten wirklich vor große Probleme? Sind es nicht vielmehr ein- zelne Regierungen und die EU-Kom- mission, die unwillig scheinen, neue Ideen zu entwickeln und neue Prioritä- ten zu setzen?

In Deutschland wurden jahrelang Arbeitszeiten von 24 bis 36 Stunden

„am Stück“ von der Bundesregierung und den Aufsichtsbehörden bagatelli- siert oder ignoriert. Erst nach dem Jä- ger-Urteil wurde unter Zwang und mit einer mysteriösen zweijährigen Über- gangsfrist für Tarifverträge reagiert – in der Hoffnung, dass in zwei Jahren die zugrunde liegende europäische Arbeits- zeitrichtlinie geändert sein wird. Die EU-Kommission hat auf eine 2001 ein- gereichte Klage bis heute nicht mehr als die Vergabe eines Aktenzeichens zu-

stande gebracht, kritische Anfragen werden nichtssagend beantwortet. Den gleichen Stil pflegen das Bundesmini- sterium für Wirtschaft und Arbeit sowie das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung. Bundestagsab- geordnete zeigen sich desinteressiert oder überfordert. Der Ausschuss für Gesundheit des Bundestages fühlt sich nicht zuständig. Der Petitionsausschuss schafft es nicht, mehr als Eingangsbe- stätigungen zu verschicken. Zuständig oder gar verantwortlich sind immer an- dere.

Recht nach Kassenlage, der Rechts- staat als Einbahnstraße. Ein Staat, der peinlich genau die Einhaltung von Bau- ordnungen, Vorschriften und Gesetzen verlangt, fühlt sich selbst daran nicht ge- bunden – eine beunruhigende Entwick- lung. Hans-Peter Doepner P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 713. Februar 2004 AA389

Das „Ingolstädter Modell“

Kürzer arbeiten, weniger verdienen

In Zeiten des Ärztemangels liegt die Vermu- tung nahe, dass jene Krankenhäuser, die den Ärzten bereits jetzt humane Arbeitszeiten bie- ten, keine Probleme haben, ihre ärztlichen Stel- len adäquat zu besetzen. Weit gefehlt: Er habe im Gegenteil das Problem, dass sich die Ärzte teilweise andere Arbeitgeber suchten, sagte Heribert Fastenmeier, Geschäftsleiter des Kran- kenhauszweckverbandes Ingolstadt, am 19.

Januar beim Euroforum-Krankenhaus-Kon- gress in München.

Das oft lobend erwähnte „Ingolstädter Mo- dell“ basiert auf der Idee, die täglichen Regel- arbeitszeiten der Ärzte zu verlängern, um die nächtlichen Bereitschaftsdienste verkürzen zu können. Damit einher geht eine Verlänge- rung der Service- und Betriebszeiten auf den

Stationen (jetzt: werk- tags von 7 Uhr bis 18 Uhr). Dies sei auch aus wirtschaftlichen Grün- den notwendig, betont

Fastenmeier: Um die unter DRG-Bedingungen notwendigen Verweildauerkürzungen erzie- len zu können, müsse die Arbeitszeit am Pati- enten verlängert werden. Der Bereitschafts- dienst dauert von 22 Uhr bis 7 Uhr und zählt in vollem Umfang zur Arbeitszeit. Um die ärztliche Arbeitskraft nicht in den weniger arbeitsintensiven Nächten zu „vergeuden“, gibt es in Ingolstadt fächerübergreifende Be- reitschaftsdienste, sodass nachts weniger Ärzte im Krankenhaus sind als früher. So ist beispielsweise ein Arzt allein für die orthopä- dische und die unfallchirurgische Abteilung zuständig. Dies sei haftungsrechtlich durch- aus nicht ungefährlich, räumt der Geschäfts- leiter ein. Obwohl die Bereitschaftsdienste voll auf die Arbeitszeit angerechnet werden, ist die Vergütung deutlich geringer als zur Re- gelarbeitszeit.

Da der einzelne Arzt im „Ingolstädter Mo- dell“ wesentlich weniger und zudem kürzere Bereitschaftsdienste ableistet als in anderen Krankenhäusern, verdient er auch erheblich weniger. Ärzte, die früher 12 000 bis 14 000 Euro brutto im Jahr mit ihren Diensten ver- dient hätten, kämen jetzt auf etwa 6 000 bis 8 000 Euro, rechnet Fastenmeier vor. Mit den so eingesparten Finanzmitteln könne man die zusätzlichen Ärzte bezahlen, die notwen- dig sind, um das Modell umzusetzen. Aller- dings sind nicht alle Ärzte bereit, diese Ge- haltseinbußen hinzunehmen. Sie suchen sich einen anderen Arbeitgeber. Fastenmeier hofft, die Abgänge langfristig mit Ärztinnen und Ärzten kompensieren zu können, denen humane Arbeitsbedingungen und mehr Frei- zeit wichtiger sind als der höhere Verdienst.

Jens Flintrop Unveränderte Dienst-

pläne: Nur in wenigen Krankenhäusern wur- den die Arbeitszeiten an die Vorgaben aus Luxemburg angepasst.

Foto:Peter Wirtz

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