Obwohl oder weil im Einfüh- rungsvortrag (Horst Baier, Konstanz) und in den State- ments des Podiumsgesprä- ches während des jüngsten Bad Nauheimer Gesprächs überwiegend kritische bis po- lemische Positionen zur "Nor- mierung" bezogen wurden, konnte der Zuhörer aus der anschließenden mit einem Beitrag von Hans-Georg Kraushaar, Frankfurt/Main (Di- rektor und Geschäftsführer der AOK für Frankfurt/Main und Main-Taunus-Kreis) ein- geleiteten Diskussion ein aus- gewogenes Urteil und eine zukunftsweisende politische Meinung zum traktierten Pro- blemkreis gewinnen. Schlag- lichter aus der Diskussion:
0
Soweit die ärztliche Berufs-ausübung angewandte Naturwissen- schaft ist und der ständigen Quali- tätssicherung bedarf, sind "Normie- rungen" in der Medizin unverzicht- bar, zumal naturwissenschaftliche Erkenntnis nicht zuletzt auf der Ent- deckung von Normen in multiplen Fakten und Vorgängen beruht. Je- doch dürfen notwendige Regelungen ärztliches Handeln in der Einzigar- tigkeit jedes individuellen Falles nicht fremdbestimmt durch rechts- verbindliche Normierungen unange- messen eingrenzen und festlegen.
Standards sind zur Qualitätssi- cherung notwendig (Hans Konrad Selbmann), zur Orientierung hilf- reich, müssen jedoch auch begründe- te Regelabweichungen offenhalten (Henning Blume, Eschborn, für Arz- neimittelqualität und -anwendung;
Konrad Schwemmle, Gießen, für die Chirurgie). Insbesondere die Kom- munikation mit dem Patienten muß völlig frei von fremdbestimmten Normen gelebt werden können (Hanns Gotthard Lasch, Gießen).
f) Die These eines Wider- spruchs zwischen Freiberuflichkeit und zentral fixierten Normen (Peter Oberender, Bayreuth) ist in dieser Formulierung irrtumsträchtig. Jeder
DEUTSCHES
ARZTEBLATT
TAGUNGSBERICH - T
akademische freie Beruf ist ein gere- gelter Beruf, der aufgrund einer Mindestqualifikation, die ihrerseits die Basis für das Patientenvertrauen ist, ausgeübt wird. Freiheit im freien Beruf wird immer in und durch Pflichterfüllung gelebt.
Insoweit ist auch der Hinweis auf die Ausübung "mittelbarer Staatsverwaltung" durch Selbstver- waltungen in Form von Körperschaf- ten öffentlichen Rechts nur die hal- be Wahrheit. Entscheidend ist, daß nicht unmittelbare, sondern eben nur mittelbare Staatsverwaltung statt- findet. Die Selbstverwaltung der frei-
Normierung
in der Medizin
en Berufe ist eine wesentliche Vor- aussetzung auch für die Freiheit der Patienten und Klienten: Wie wäre es um die Freiheit des Staatsbürgers bestellt, wenn zum Beispiel die Be- rufsaufsicht über die Steuerberater nicht bei der Steuerberaterkammer läge, sondern die Berufsaufsicht über den Steuerberater als unmittel- bare Staatsaufsicht von demselben Finanzbeamten wahrgenommen würde, der auch für die Steuererklä- rung des Mandanten des Steuerbera- ters zuständig ist?
Es gibt keine soziale und keine rechtliche Ordnung ohne Normen. Es kommt jedoch darauf an, daß eine richtige Balance zwischen notwendi- gen und nützlichen Normierungen und pflichtbewußter Wahrnehmung von Freiheitsrechten gelebt werden kann (J. F. Valrad Deneke, Bann).
0
Die Dichotomie zwischen der Tendenz zur Entmündigung der Bürger in der Entwicklung vom Sozi- alstaat zum Gesundheitsstaat (HorstBaier) und der Zielvorstellung einer liberalen Ordnungspolitik, die Prin- zipien der sozialen Marktwirtschaft in die Politik der sozialen Sicherung übernimmt, scheint durch Kompro- misse nicht überbrückbar und nicht auflösbar. Das kann zu polemischen Kontroversen bis zur Verwirrung der Fronten führen (exemplarisch das Streitgespräch Peter Oberender, Bayreuth, mit Michael Arnold, Tü- bingen).
Dabei fällt auf, daß auch erhal- tenswerte liberale Strukturen der So- zialpflichtigkeit den Fürsprechern marktwirtschaftlich zu ordnender Selbstverantwortung für die existen- tiellen Risiken aus dem Blickfeld zu verschwinden drohen. Andererseits kann dieser Verlust an Realitätsbe- zug dazu führen, daß der zukunfts- trächtige Kern freiheitlicher Re- formthesen gerade bei Fachleuten nicht mehr "ankommt".
e
Lehre aus dem Disput: Die Verfechter freiheitlicherer Ordnun- gen haben bessere realpolitische Chancen, je konkreter und nüchter- ner sie argumentieren, um Mehrhei- ten zu gewinnen. Polemik kommt nur bei denen an, die schon "katho- lisch" sind, baut aber unnötige Sper- ren bei denen, die noch überzeugt werden müssen.Man darf auf die Dokumentation dieses Bad N auheimer Gesprächs der Landesärztekammer Hessen ge- spannt sein; sie wird die notwendige Diskussion des Themas weiter vertie- fen und wachhalten (Gerhard Löwen- stein, Frankfurt/Main). Je mehr und je schneller sich die Sozialpolitik, wie am Beispiel einer gesetzlichen Pflege- versicherung zu sehen, vom prakti- zierten Subsidiaritätsprinzip ent- fernt, desto eher wird es Chancen für liberale Reformen geben.
...,.. Dringend notwendig aller- dings wäre es, dazu eine gründliche Sozialenquete durchzuführen, die danach fragt, in welche völlig verän- derten sozialen Strukturen hinein heute Sozialpolitik getrieben wird.
Gerade weil sich die sozialen Tatbe- stände aufgefächert haben, und zwar auf hohem Niveau, kann die Sozial- politik weniger denn je mit dem Blick auf die Bedürfnisse von Rand- gruppen das gesellschaftliche Ganze
normieren. J.F.V.D.
A-2890 (50) Dt. Ärztebl. 88, Heft 36, 5. September 1991