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Archiv "Nicht das Gesundheitswesen steckt in der Krise, sondern die Gesundheitspolitik" (07.03.1997)

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as deutsche Gesundheitswe- sen ist allem Krisengerede zum Trotz noch immer eines der besten der Welt: Wer eine medizinische Leistung benötigt, be- kommt sie – ohne Ansehen der Per- son, des Geschlechts, des Alters, der Rasse oder seines Reichtums.

Wir haben eines der effiziente- sten Krankenhauswesen der Welt.

Nirgendwo sonst werden die sta- tionären Leistungen so preisgünstig, effektiv und qualitativ hochwertig er- bracht wie in unseren Krankenhäu- sern. Dabei haben insbesondere die Krankenhäuser bewiesen, daß sie ra- tionalisierungsfähig sind und über effektive Regulationsmechanismen verfügen: Wer sonst hat in den letzten fünf Jahren 110 Krankenhäuser und 68 000 Betten abgebaut, 12 Prozent der Pflegetage reduziert, 15 Prozent der Verweildauer zurückgefahren – und das trotz einer Fallzahlzunahme von mehr als fünf Prozent?

Wir haben eines der effiziente- sten Rettungssysteme der Welt. Die- ses sichert alljährlich das Überleben Tausender, deren Leben andernfalls verloren wäre.

Die Qualifikation unserer Ärzte ist eine der höchsten der Welt. Ein

Facharztanteil von 60 Prozent ist et- was, auf das wir stolz sein sollten, statt uns andauernd einreden zu lassen, wir müßten mehr Primärärzte ausbilden.

Wir können stolz darauf sein, daß wir es uns leisten können, hochqualifi- zierte Fachärzte auch in der primärärztlichen Versorgung einset- zen zu können. Die Grundidee der Weltgesundheitsorganisation (WHO), das Verhältnis Haus- zu Facharzt müs- se 60 : 40 betragen, mag für ein Ent- wicklungsland richtig sein, sie ist für ein hochentwickeltes In-

dustrieland auf dem Weg in die postindustri- elle Gesellschaft nicht richtungweisend.

Soziale Sicherheit und eine hervorragende gesundheitliche Versor- gung und Betreuung sind ein Standortfaktor ersten Ranges für eine Volkswirtschaft. Die Krise des Gesundheits- wesens ist in Wirklich- keit eine Finanzierungs- krise. Dabei liegt das Problem unseres Sy- stems nicht auf der Seite der Leistungen oder ih- rer Qualität. Vielmehr

liegt das Problem auf der Seite der Mittelaufbringung durch Beiträge vom Lohn. Das Gesundheitswesen ist auf Gedeih und Verderb auf die Wirt- schaftsleistung abhängig Beschäftig- ter angewiesen. Seine Kosten gehören zu den Lohnzusatzkosten. – Dabei müssen jedoch drei Aspekte berücksichtigt werden:

Das Gesundheitswesen macht nur einen kleinen Teil der Lohnzu- satzkosten aus. Der Löwenanteil ba- siert auf in freien Verhandlungen ge- schlossenen tarifvertraglichen Ver- einbarungen.

Die hohe Arbeitslosigkeit bela- stet unser Sozialsystem doppelt. Die Arbeitslosen fallen nicht nur teilweise

als Beitragszahler aus, in manchen Teilen der Sozialversicherung werden sie sogar zu Leistungsempfängern.

Schließlich muß oft auch der Staat über die Sozialleistung für ihre deut- lich niedrigere Prämie aufkommen.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Zusammensetzung des Brut- toinlandsprodukts (BIP) beständig gewandelt. Einer ständigen Zunahme von aus Kapital erwirtschafteten BIP- Anteilen steht ein abnehmender An- teil gegenüber, der in abhängiger Be- schäftigung erwirtschaf- tet wurde. Die Lohn- quote ist drastisch ge- sunken. Betrug sie 1982 noch 76,9 Prozent, so lag sie 1994 bei 70,7 Pro- zent. Dieser Trend ver- stärkt sich.

Damit erleben wir ein Paradoxon: Wäh- rend Deutschland im- mer reicher wird, immer mehr Kapital hat und damit Einkommen er- zielt, wird zugleich rela- tivimmer weniger Geld für die Gesundheitsver- sorgung aufgewendet.

Schon wenn die Leistun- gen nur gleichbleiben, müssen die Beitragssätze steigen. Wer in dieser Situation Beitragssatzstabi- lität verkündet und immer neue Ko- stendämpfungsmaßnahmen ergreift, um dieses politisch kurzsichtige Ziel durchzusetzen, betrügt die Kranken um den gesellschaftlichen und wirt- schaftlichen Fortschritt und gefährdet gleichzeitig einen der größten, inno- vativsten und wachstumsträchtigsten Bereiche der Volkswirtschaft.

Die öffentliche Diskussion der vergangenen zwei Jahrzehnte über das Gesundheitswesen und die ge- setzliche Krankenversicherung findet unzulässig verkürzt und verengt statt.

Sie konzentriert sich ausschließlich auf die Beitragssätze der gesetzlichen

Nicht das Gesundheitswesen steckt in der Krise,

sondern die Gesundheitspolitik

Das Gesundheitswesen ist ein innovati- ver, wachstumsträchtiger Wirtschafts- sektor – und ein klarer Standortvorteil Deutschlands. Das wird bei der irre- führenden Diskussion über Lohnneben- kosten, Beitragssätze und Kosten oft übersehen. Der Verfasser plädiert für ei- nen neuen Ansatz in der Gesundheitspo- litik, bei dem die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens erhalten und die Fi- nanzierungswege überprüft werden. Ei- ne besondere Rolle fällt dabei einer (zu reformierenden) Selbstverwaltung zu.

Frank Ulrich Montgomery

Montgomery ist als Präsident der Ärztekammer Hamburg Mitglied des Bundesärztekammer-Vorstan- des. Er ist außerdem Vorsitzender des Marburger Bundes. Top-Foto

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Krankenversicherung und damit auf den Kostenfaktor Gesundheitswesen.

Das Gesundheitswesen ist weit mehr als nur ein Kostenfaktor. Es ist einer der wichtigsten und innovativ- sten Wirtschaftssektoren Deutsch- lands, es stellt einen Arbeitsmarkt mit großem Wachstumspotential dar.

Zur Zeit sind im Gesundheitswe- sen im engeren Sinne knapp zwei Mil- lionen Menschen beschäftigt. Der Sachverständigenrat für die Konzer- tierte Aktion im Gesundheitswesen hat sogar eine Zahl von 4,2 Millionen Erwerbstätigen errechnet, die im wei- testen Sinn im Gesundheitswesen ar- beiten oder zumindest von ihm ab- hängen.

Das Gesundheitswesen ist noch immer von Arbeitsplatzzuwächsen geprägt. Dies wird unter anderem von einer BASYS-Veröffentlichung be- legt. Danach stieg die Zahl sozialver- sicherungspflichtig Beschäftigter im Gesundheitswesen im engeren Sinne von 1980 bis 1995 von 997 000 auf 1 557 000. Da die Arbeitsplätze in der Gesamtwirtschaft im gleichen Zeit- raum nur von 21 auf 22,5 Millionen gestiegen sind, hat sich der Beschäfti- gungsanteil des Gesundheitswesens in dieser Zeit von 4,7 Prozent auf 7 Prozent erhöht. Gleichzeitig stieg der Anteil der GKV-Ausgaben für diesen Personalsektor nur von 5,2 auf 5,5 Prozent und damit deutlich geringer.

Das heißt: Die Beschäftigungszu- wächse sind mit unterdurchschnittli- chen Einkommenszuwächsen erzielt worden. Effektiver und den Men- schen dienlicher konnten neue Ar- beitsplätze nicht geschaffen werden.

Nun ist es nicht Aufgabe der ge- setzlichen Krankenversicherung, Ar- beitsplätze zu finanzieren, dennoch:

Wir müssen fragen, ob es wirklich sinnvoll sein kann, sozial wertvolle, noch dazu preiswerte Arbeitsplätze durch Sparmaßnahmen im Gesund- heitswesen zu opfern, zugunsten von teureren Arbeitsplätzen in anderen Wirtschaftsbereichen, deren Entste- hen nicht einmal sicher ist. Laufen wir nicht gerade Gefahr, sehr reale Ar- beitsplätze zugunsten virtueller Job- chancen zu vernichten?

Tatsache ist: Von der gesetzlichen Krankenversicherung sind seit den 70er Jahren keinerlei Kostenexplo- sionen ausgegangen, die Steigerungen

der Beitragssätze erfordert hätten.

Die Beitragssatzsteigerungen sind vielmehr Ausdruck relativ sinkender Berechnungsgrundlagen der Einnah- men, eines vielgleisig angelegten Ver- schiebebahnhofs und politischer Ein- griffe in den Leistungsumfang.

Leider jedoch ist unverkennbar, daß sich in den letzten Jahren eine Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung dieser eigentlich sehr leicht nachweisbaren wirtschaftlichen Phänomene ergeben hat. So hat sich der Eindruck verfestigt,

l die Lohnkosten der Bundesre- publik seien übernatürlich hoch,

l diese Entwicklung sei vor al- lem auf überbordende Sozialleistun- gen und hier vor allem auf die GKV zurückzuführen, und

l die zunehmende Arbeitslosig- keit sei Ausdruck sinkender Unter- nehmergewinne und -chancen.

Lohnnebenkosten – eine Diskussion, die in die Irre führt

Diese Argumente aber sind falsch. Tatsache ist vielmehr, daß 1979 das Lohnsteueraufkommen und das Volumen der fünf aufkommensstärk- sten Unternehmenssteuern mit je- weils 7 Prozent denselben Anteil am Bruttosozialprodukt (BSP) hatten;

1995 hingegen ist das Lohnsteuerauf- kommen auf 8,8 Prozent gestiegen, während sich die Unternehmenssteu- ern halbiert haben.

Und selbst bei Berücksichtigung der Summe aller gesetzlichen Sozial- abgaben ergibt sich immer noch fol- gendes Bild: Betrug die Arbeitgeber- belastung aus Steuern und Sozialab- gaben 1979 noch 14,0 Prozent des BSP, so liegt sie 1995 nur noch bei 11,6 Prozent – wohlgemerkt einschließlich des Solidaritätszuschlages und des neuen Arbeitgeberanteils an der Pfle- geversicherung.

Und es blieb fast unbemerkt, daß von 1979 bis 1995

l der Anteil der Nettoeinkom- men aus Unternehmertätigkeit und Vermögen am BSP von 16,1 auf 18,9 Prozent gestiegen ist, während

l der Anteil der Nettolohn- und Gehaltssumme von 33,9 auf 28,2 Pro- zent zurückging.

Es hat also erhebliche gesell- schaftliche Verschiebungen zugun- sten von Wirtschaft und Kapital und zu Lasten der Arbeitnehmerschaft ge- geben!

In einer aufsehenerregenden Studie, die im Auftrag des Bundesmi- nisters für Wirtschaft erstellt wurde, analysiert das Münchener IFO-Insti- tut die Frage: „Sind Löhne und Steu- ern zu hoch? Bemerkungen zur Standortdiskussion in Deutschland.“

In dieser Studie wird klar festgestellt, daß die These vom Hochlohnland Deutschland falsch ist. „Auf gesamt- wirtschaftlicher Ebene sind die realen Lohnstückkosten weder übermäßig hoch, noch sind sie in den vergange- nen Jahren überdurchschnittlich ge- stiegen.“ Heißt also: Es ist falsch und vordergründig, Deutschland von vornherein als „Hochlohnland“ abzu- qualifizieren.

Hinter der pessimistischen Standortprognose verbirgt sich viel- mehr ein gezieltes Szenario einiger

„global players“ mit dem Ziel, noch bessere Produktionsbedingungen in Deutschland zu erreichen. Dieses Verhalten ist sicher legitim. Es bein- haltet jedoch die Aufkündigung der einmaligen „Konzertierten Aktion“

zwischen Arbeitnehmern, Arbeitge- bern und Politik, der für den Auf- schwung der Bundesrepublik nach dem Kriege verantwortlich war. So verändert sich die soziale und gesell- schaftliche Situation in unserem Lan- de dramatisch.

Es wäre gleichwohl ein Trug- schluß zu glauben, die Lage sei gar nicht so ernst, man solle nur weiter so wurschteln, wie mit der gegenwärti- gen Gesetzesinflation von Sparpake- ten und Neuordnungsgesetzen. Die Lage ist vielmehr viel ernster – vor al- lem deswegen, weil nicht erkennbar ist, daß es der Bundesregierung ge- lingt, das wahre Problem in den Griff zu bekommen. Die soziale Symmetrie der Sparbemühungen hat eine erheb- liche Schlagseite bekommen, weil es wohl gelungen ist und auch weiter ge- lingen wird, drastische Spargesetze zu verabschieden, nicht aber erkennbar wird, daß zugleich die Arbeitgeber, die Industrie und die großen „global players“ sich verpflichten, das Erspar- te wirklich auch in Arbeitsplätze in Deutschland umzusetzen.

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Noch nie waren die Menschen von der Notwendigkeit des Sparens und gesellschaftlicher Veränderungen so überzeugt wie gegenwärtig. Es wä- re schlimm, wenn das neu aufkei- mende Solidaritätsgefühl dazu miß- braucht würde, bei uns solidarisch zu sparen, damit sich andere eigennützig bedienen können.

Wir brauchen jetzt eine Initiative, eine Diskussion, die uns aus dem Tal der Depression herausführt und uns gestattet, das Gesundheitswesen der Zukunft zu konzipieren. Dabei wer- den auch Ärzte gefordert sein, zusam- men mit Wirtschaftswissenschaftlern und Politikern neue Eckpunkte zu de- finieren. Die alte Bismarcksche Trias

„Solidarität – Subsidarität – Eigenver- antwortung“ muß dabei neu gegenein- ander abgegrenzt werden. Unsere Po- litik muß darauf ausgerichtet sein, den erkennbar eintretenden Mangel zu vermeiden, nicht ihn zu verwalten.

Und hier ist die Selbstverwaltung ge- fordert! Denn nur die sachnahe Kom- petenz der Fachleute aus allen Verant- wortungsbereichen kann zu vernünfti- gen Lösungen für die Patienten, Versi- cherten und Mitarbeiter führen.

Reformierte Selbstverwaltung

Entscheidend für die Überle- bensfähigkeit eines bewußt selbstver- waltet strukturierten Gesundheitswe- sens wird in der Zukunft die Funkti- onsfähigkeit der Selbstverwaltung sein. Das größte Hindernis der Selbst- verwaltung heute ist die sektorale Be- zogenheit ihrer Entscheidungsgremi- en. So entscheiden nach SGB V un- terschiedliche Gremien über die Pro- bleme des ambulanten und des sta- tionären Bereiches; sie kommen na- turgemäß auch zu unterschiedlichen Ergebnissen, die dann mühsam abge- stimmt werden müssen. Die Viel- schichtigkeit und Abgeschottetheit einzelner Selbstverwaltungsstränge muß zusammengeführt werden zu ei- nem Selbstverwaltungsgremium mit Entscheidungskompetenz für alle Be- reiche.

Es kann keinen Sinn ergeben, Al- leinveranstaltungen der Krankenkas- sen (Stichwort: Einkaufsmodell), der Leistungserbringer (Stichwort: sek-

torübergreifender Sicherstellungsauf- trag) oder der Politik (Stichwort:

staatliches Gesundheitswesen) zu konzipieren. Alle diese Modelle ge- hen von einer antiquierten Omnipo- tenzvorstellung einzelner Gruppen aus. Die Steuerungsentscheidungen der Zukunft verlangen den Sachver- stand und die Umsetzung gemeinsam gefaßter Beschlüsse auf allen Ebenen und in allen Bereichen.

Die in der gegenwärtigen Debat- te immer wieder betonte „Vorfahrt für die Selbstverwaltung“ kann nur dann erfolgreich werden, wenn als er- ster Schritt die babylonischen Ent- scheidungsstränge der Selbstverwal- tung zusammengeführt werden. Eine derart reformierte Selbstverwaltung könnte dann darangehen, Unwirt- schaftlichkeiten zu beseitigen, Stan- dards zu entwickeln und Qualität durchzusetzen.

Die Mittelaufbringung in der ge- setzlichen Krankenversicherung muß von den Ungerechtigkeiten innerhalb des Familienlastenausgleichs befreit werden. Dazu gehört die Doppelbela- stung mehrverdienender Familien.

Auch in der Krankenversiche- rung der Rentner muß die Frage nach solidarischeren Lösungen bei Bezie- hern hoher Renten gestellt werden.

Die Veränderung des Rentenspek- trums (von der Aufbau- zur Erbenge- neration) läßt heute insbesondere die

„solidarische“ Versicherung der Be- zieher hoher Renten durch Arbeit- nehmer mit kleinen Einkommen frag- würdig erscheinen.

Dieses wird um so dringlicher, als durch demographische Faktoren die Zahl der Rentner relativ zur Erwerbs- bevölkerung weiter anwachsen wird und medizinisch bedingt heute erheb- lich mehr und intensivere Leistungen am alten Patienten möglich sind.

Die alleinige Heranziehung des aus abhängiger Beschäftigung erwirt- schafteten Einkommens bis zu einer Bemessungsgrenze muß ebenfalls den gesellschaftlichen Realitäten ange- paßt werden. Es gibt heute sehr hohe Einkommen, die zur vollen Familien- mitversicherung und – gemessen am Gesamteinkommen – sehr niedrigen Versicherungszahlungen führen.

Und es gibt Bürgerinnen und Bürger, die zwar nur über ein kleines Einkommen in abhängiger Beschäfti-

gung (zum Beispiel als Angestellter der eigenen Firma) verfügen, aber er- hebliche „Neben“einkünfte haben.

Hier wird der Bismarcksche Gedanke der Solidarität persifliert.

Eine gerechte Neuregelung unter Berücksichtigung des Gesamtein- kommens hätte darüber hinaus den Vorzug, den Einfluß der Arbeitgeber und ihrer Organisationen weiter zurückzudrängen. Früher oder später wird man dann auch die Frage nach der Berechtigung der Arbeitgeberbe- teiligung an den Selbstverwaltungs- aufgaben insgesamt stellen müssen.

Langfristig brauchen wir sie nicht.

Bewährte

Strukturelemente erhalten

Aus der Enttäuschung der Be- troffenen über fehlgeschlagene „Ge- sundheitsreformen“ heraus blühen al- ternative Strukturmodelle, die sich durch Unausgewogenheit und Uto- pismus auszeichnen. Dabei wird ger- ne vergessen, daß das Gesundheits- wesen in Vergangenheit und Gegen- wart sich auf der Leistungsseite als äußerst leistungsfähig erwiesen hat.

Es gilt also die bewährten Struktur- elemente hier zu erhalten und zu ver- stärken.

l Nötig ist eine evolutionäre Veränderung, vor allem der Finanzie- rungsmodalitäten, die mit Ruhe und Augenmaß alle Beteiligten zusam- menführt, statt sie zu separieren oder gar in unlösbare Konflikte unterein- ander zu hetzen.

l Die Solidarität in der Kran- kenversicherung muß wieder dem ein- fachen Grundsatz folgen, daß in der Krankenversicherung zwar der Aus- gleich zwischen krank und gesund und zwischen alt und jung, nicht aber zwi- schen Arm und Reich geregelt werden kann. Der versicherte Personenkreis sollte sich auf diejenigen beschränken, die der Solidarität bedürfen – das sind nicht die 92 Prozent der heute gesetz- lich Versicherten, und es wird eine Frage der gesellschaftlichen Diskussi- on sein, die Linie zwischen der Grup- pe derjenigen, die Solidarität brau- chen, und denjenigen zu definieren, die Solidarität geben können.

Alle anderen – also diejenigen, die eher Solidarität geben könnten,

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statt ihrer zu bedürfen – müssen sich zwangsweise versichern, können aber nach wirtschaftlichen Prinzipien ihre Krankenversicherung frei wählen.

Dabei muß eine hohe Flexibilität der Prämiengestaltung gewährleistet sein. Wer Selbstbeteiligung möchte und sie sich leisten kann, soll sie ha- ben!

Das Problem besteht im Sozial- transfer zwischen diesen beiden Gruppen: dieser wird sich letztlich in unserer Gesellschaftsordnung nur über ein steuerfinanziertes Aus- gleichsmodell regeln lassen. Deswe- gen ist auch die Mitwirkung des Staa- tes an Gremien der „Selbst“verwal- tung in Zukunft unerläßlich.

Die Politik muß sich ihrer sozial- politischen Verantwortung bewußter werden und darf nicht auf die Wahr- nehmung der ihr von der Gesellschaft übertragenen Aufgaben verzichten.

Sie hat die Verpflichtung zum Aus- gleich und zur Moderation. Der ge- genwärtig erkennbare Trend, durch Überlassung eines von der Politik der Höhe nach allein bestimmten Global- budgets, das dann von der Selbstver- waltung verteilt werden darf, Verant- wortung zu delegieren, ohne notwen- dige Kompetenzen zu verleihen, ist ein gefährlicher Irrweg. Es ist allein der Versuch, den gesundheitspoliti- schen „Plumpsack“ im Haus der Krankenkassen oder der Ärzteschaft abzulegen.

Wer das Globalbudget verwaltet, muß auch Einfluß auf sein Zustande- kommen haben. Die Definition der Höhe eines Budgets muß immer von den erforderlichen Leistungen her er- folgen. Wer allein von wirtschaftli- chen Parametern her definiert, zeigt, daß ihm die Versorgung der Kranken und die Verhinderung von Krankheit a priori weniger wichtig sind.

Um das zu verhindern, schon deswegen führt an einer zusammen- gefaßten Selbstverwaltung unter Ein- schluß der Politik kein Weg vorbei.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Frank Ulrich Montgomery Radiologische Klinik des UKE Martinistraße 52, 20246 Hamburg

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ie Akzente beginnen sich zu verschieben. Waren wir Ärzte – und besonders wir Kas- senärzte – bislang einem ein- heitlichen Chor der Sparmeister aus- gesetzt, so mehren sich jetzt die nach- denklicheren Stimmen, die mahnen, auch einmal hinter die Spareffekte zu schauen. Das Gesundheitswesen ist ja nicht nur ein Kostenblock. Es sichert auch Arbeitsplätze – direkt und indi- rekt. Und es ist ein wesentlicher Fak- tor zur vielbeschworenen Standortsi- cherung. Denn eine gute medizinische Versorgung senkt die Fehlzeiten in den Betrieben und hilft mit, die Pro- duktivität zu erhöhen. Das Gesund- heitswesen ist kein Faß ohne Boden.

Es ist ein wichtiger Bestandteil unse- rer Gesellschaft und unserer Wirt- schaft – und ein zukunftsträchtiger da- zu. Blinde Sparpolitik allein würde diesen Bereich zerstören. Neue Kon- zepte sind gefragt.

Gesundheitswesen als „Black box“

Das deutsche Gesundheitswesen gilt als „Black box“. Da es zum einen sehr zersplittert ist, aber auch weil ei- ne Datenerhebung in der Tat recht schwer ist, weiß kaum einer so recht, wie die wirtschaftlichen Rahmenda- ten unserer Gesundheitsversorgung aussehen. Gewiß, man kennt die glo- balen Ausgaben und deren Verteilung auf die Leistungsträger. Aber damit hat es sich auch schon fast – ideale Be- dingungen also für die Vereinfacherer in den Verbänden und in der Politik.

Und wirklich ist ja auch in den vergan-

genen Jahren kaum eine Gelegenheit ausgelassen worden, dem Gesund- heitswesen ganz allgemein Ver- schwendung wirtschaftlicher Ressour- cen vorzuwerfen.

Doch allmählich wendet sich das Blatt. Bemühungen, ein wenig mehr Licht in das Dunkel zu bringen, zeigen erste Erfolge. Und prompt beweist sich, daß die gesundheitliche Versor- gung kein „konsumptiver Bereich“

unserer Wirtschaft ist, sondern im Ge- genteil zu den wenigen verbliebenen innovativen Sektoren zählt – und daß er in hohem Maß positive Effekte für die Wirtschaft setzt.

l Neuen Schätzungen zufolge leben rund 4,2 Millionen Beschäftigte direkt oder indirekt vom Gesund- heitswesen.

l Seit Anfang der achtziger Jah- re dürfen die Gesamtausgaben der Gesundheitssektoren nur noch im Rahmen der Grundlohnsumme stei- gen. Diese Marke ist auch weitgehend eingehalten worden, aber im selben Zeitraum wurden 1,4 Millionen neue Arbeitspläze geschaffen! Betriebs- wirtschaftlich gesehen ist dies ein enormer Produktivitätszuwachs.

l Die Krankenversicherung selbst arbeitet weiterhin sehr sparsam.

Rechnet man die gesetzgeberischen Effekte der Umschichtungen inner- halb der sozialen Sicherungssysteme einmal zusammen, werden der Kran- kenversicherung allein seit 1992 nach Berechnungen des Verbandes der An- gestellten- und Arbeiter-Ersatzkassen 16,5 Milliarden DM entzogen. Anders ausgedrückt: Hätte der Gesetzgeber sein bereits vor Jahren gegebenes Versprechen gehalten, den Verschie-

Gesetzliche Krankenversicherung

Gesucht: Neue Wege der Finanzierung

In der Politik reift die Erkenntnis, daß die Sparmöglichkeiten vor allem im ambu- lanten Bereich ausgereizt sind. Doch die Finanzierungsprobleme bleiben. Dr. med.

Lothar Wittek, Vorstandsmitglied der KBV und Vorsitzender der KV Bayerns, schlägt vor, die lohnbezogene Finanzierung zugunsten einer getrennten Beitragsbe- messung für Selbständige, abhängig Beschäftigte und Unternehmen zu verlassen.

Lothar Wittek

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1997; 94: A-577–580 [Heft 10]

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bebahnhof endlich stillzulegen, wür- den wir uns jetzt nicht über Beitrags- satzerhöhungen unterhalten, sondern darüber, wie stark die Beiträge ge- senkt werden könnten.

Vor allem die nicht geringer ge- wordene Versuchung, Mittel zwi- schen den Sicherungssystemen Ren- ten-, Kranken-, Arbeitslosen- und nun auch noch Pflegeversicherung hin- und herzuschieben, verdeckt die wahren Probleme. So ist es nicht nur unsinnig, die Finanzengpässe der Rentenversicherung mit Milliarden der Kranken- oder gar der Pflegever- sicherung notdürftig zu stopfen, es ist sogar kontraproduktiv: die wahren Probleme der jeweiligen Versiche- rung werden nur kurzfristig über- tüncht und tauchen kurze Zeit später um so deutlicher sichtbar wieder auf.

Wirtschaftsfaktor Gesundheitswesen

Das Beispiel Krankenversiche- rung zeigt, daß das Gesundheitswesen zu einem der wenigen Bereiche gehört, in dem heute noch Arbeits- plätze geschaffen werden, es zeigt auch, daß die pharmazeutische und medizintechnische Industrie eine der letzten ist, in denen Deutschland noch zur Weltspitze zählt. Verdeckt wird auch, daß Mittel, die dem Gesund- heitswesen zufließen, direkt wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückgege- ben werden. Sie halten zu einem nicht unwesentlichen Teil die Wirtschaft am Laufen – im Gegensatz zu anderen Bereichen, die sich auf konsumptive Aufgaben beschränken oder vor- nehmlich Rücklagen bilden.

Doch nun droht dem Gesund- heitswesen die Luft auszugehen. Es ist ausgezogen worden bis auf die nackte Haut, und die Politiker wun- dern sich, daß man einem nackten Mann nicht in die Tasche greifen kann. Klinikchefs und niedergelasse- ne Ärzte beschäftigen sich mit dem- selben Notprogramm: Wie viele Ar- beitsplätze muß ich abbauen, damit meine Kosten getragen werden kön- nen? Die vorbildlichen Strukturen werden gefährdet, weil zu kurzsichtig auf Einsparungen geschaut wurde.

Doch die wahren Probleme müssen anders gelöst werden.

Als die Grundlagen der Kran- kenversicherung gelegt wurden, war es logisch und nachvollziehbar, die so- lidarische Finanzierung des Risikos Krankheit auf dem Faktor Arbeit auf- zubauen. Denn mit in der Regel ab- hängiger Arbeit erwirtschafteten so- wohl der allergrößte Teil der Bevöl- kerung als auch die Unternehmen ihr Auskommen und ihre Gewinne.

Doch dies hat sich geändert. Die Produktivität in den Industriebetrie- ben ist dank Automation und interna- tionaler Zusammenarbeit dramatisch angestiegen. Auch im Dienstlei- stungsbereich ist wegen der Compu- terisierung, die praktisch keinen Be- reich mehr ausläßt, die traditionelle Form der abhängigen

Arbeit auf dem Rück- zug; statt großer Firmen mit vielen Abteilungen wird jetzt mit einem Netz selbständiger Part- ner gearbeitet.

Damit ist aber der herkömmlichen GKV- Finanzierung die Grund- lage entzogen. Bun- desgesundheitsminister Horst Seehofer hat zu Recht darauf hingewie- sen, daß es in der GKV und vor allem im ambu-

lanten Bereich momentan kein Aus- gabenproblem gebe, sondern ein Ein- nahmeproblem: Die zunehmende Ausdünnung der Arbeitsprozesse und der immer höhere Sockel der Arbeits- losigkeit, von dem viele Wirtschaftsex- perten glauben, daß er uns noch lange erhalten bleibt, entziehen dem Ge- sundheitswesen immer mehr Gelder.

Eine Lösung wäre, die bewährte und zwischen den politischen Parteien unstrittige Finanzierung durch Arbeit- geber und Arbeitnehmer vom Lohn zu entkoppeln. Das heißt nicht, daß an der solidarischen Finanzierung grundsätzlich gerüttelt werden soll;

aber ist die finanzielle Gesamtsituati- on wirklich noch geeignet, das Beitrag- saufkommen solidarisch je zur Hälfte aufzubringen? Hat nicht doch die Ra- tionalisierungswelle der letzten 30 Jah- re zu einer einseitigen Entlastung ge- führt? Kann die Beitragsbemessung nicht nach getrennten Systematiken erfolgen für abhängig Beschäftigte, für Selbständige und für Unternehmen?

Für den Arbeitnehmer ist der Lohnbezug sinnvoll, er hat sich be- währt. Bei Unternehmen mit einem hohen Personalanteil kann eine Kom- bination mit einem festgeschriebenen Arbeitgeberanteil die Probleme der Zukunft meistern. Der Trend zur bes- seren Versicherungsleistung belastet somit nicht den Wirtschaftsstandort, der Versicherte selbst kann seit dem 1. Januar dieses Jahres seine Kran- kenkassen jährlich wechseln, bei Bei- tragserhöhungen sogar sofort.

Selbständige haben einen ande- ren Versicherungsbedarf. Sie finanzie- ren diesen allein aus versteuertem Einkommen. Wenn der Finanzmini- ster nicht bereit ist, die Beiträge steu- erlich als Kosten anzuer- kennen, liegt es nahe, für die Beitragsfestsetzung den Ertragsbezug vorzu- sehen. Bleiben noch die Konzerne, die sich durch Personalabbau und Glo- balisierung, also Verla- gerung der Produktion, zunehmend Kostenvor- teile verschafft haben – und sich damit teilweise aus der Solidargemein- schaft verabschiedet ha- ben. Wurde in der Ver- gangenheit häufig die

„Maschinensteuer“ gefordert – die Globalisierung der Wirtschaft ist dar- über hinweggegangen. Der Umsatz- bezug wäre im Falle der Konzerne die geeignete Kennziffer. Er würde si- cherstellen, daß ein angemessener Beitrag zur Solidargemeinschaft gelei- stet würde.

Alle beziehen ihre Vorteile aus unserem hochentwickelten und hoch- effizienten Gesundheitswesen: Ar- beitnehmer und Arbeitgeber, Kranke und Gesunde. Es geht auch um die Si- cherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Wir müssen uns der Diskussion stellen.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1997; 94: A-580–581 [Heft 10]

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Lothar Wittek Vorsitzender der KV Bayerns Mühlbaurstraße 16

81677 München Lothar Wittek Foto: Bernhard Eifrig

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