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Archiv "Finanz- und Sozialpolitik: Weiter aufwärts, aber ohne Schwung" (10.11.1995)

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POLITIK LEITARTIKEL

Finanz- unc S ozial 301itik

Weiter aufwärts, aber ohne Schwung

Steuerausfälle führen 1996 zu steigenden Defiziten — Sozialbeiträge werden stärker angehoben

D

er konjunkturelle Auf- schwung hat an Dynamik ver- loren. Die Bundesregierung und die wirtschaftlichen For- schungsinstitute haben daher ihre Wachstumsprognosen für das laufen- de und das nächste Jahr korrigiert.

Für 1995 wird jetzt nur noch mit einer realen Wachstumsrate des Bruttoin- landsprodukts (BIP) von 2,25 Prozent und für 1996 von 2,5 Prozent gerech- net, während bis über die Jahresmitte hinaus noch Wachstumsraten von annähernd drei Prozent erwartet wor- den waren. Daß die Konjunkturpro- gnosen zu optimistisch angelegt wa- ren, zeichnete sich freilich schon seit dem Frühjahr ab, als sich das Kon- junkturklima nach der massiven Auf- wertung der Mark und nach den ho- hen Lohnabschlüssen in der Tarifrun- de dieses Jahres abkühlte. Die ökono- mischen und politischen Konsequen- zen dieser konjunkturellen Fehlein- schätzung sind beträchtlich:

• In den Haushalten der Ge- bietskörperschaften und Sozialkassen haben sich die Defizite gegenüber dem Vorjahr wieder vergrößert. Für 1996 besteht in allen öffentlichen Haushalten ein hoher zusätzlicher Konsolidierungsbedarf. Die Steuer- einnahmen des Staates bleiben 1995 und 1996 um insgesamt 55,5 Milliar- den Mark hinter der ursprünglichen Haushaltsplanung zurück; diese be- ruhte auf der Steuerschätzung vom Mai dieses Jahres. Die mittelfristige Finanzplanung des Bundes war schon Makulatur, als sie im Juli beschlossen wurde. Die Steuermindereinnahmen werden nun allein für den Bund für 1995 mit 9,8 Milliarden Mark und für 1996 mit 11,4 Milliarden Mark bezif- fert. Länder und Gemeinden werden noch stärker als der Bund betroffen;

sie könnten mit einer Ausweitung der Kreditfinanzierung reagieren, was der Bund zu vermeiden sucht. Die Kor- rektur der Steuerschätzung ist aller- dings nur zum Teil die Folge der Abschwächung der konjunkturellen Auftriebskräfte. Von größerem Ge- wicht ist das Zurückbleiben der Ein- nahmen aus der veranlagten Einkom- mensteuer und aus der Körper- schaftsteuer. Der Fiskus hat überra- schend hohe Steuererstattungen für das Rezessionsjahr 1993 zu gewähren.

Anstieg der

Arbeitslosenhilfe

• Die Belebung am Arbeits- markt läßt weiterhin auf sich warten.

Konnte Finanzminister Waigel im Frühsommer noch darauf setzen, daß die Arbeitslosigkeit in Ost und West fühlbar zurückgeht, so zeigt sich jetzt, daß einem deutlichen Anstieg der Be- schäftigtenzahlen im Osten eine leich- te Zunahme der Arbeitslosigkeit im Westen gegenübersteht. Es bestätigt sich wieder einmal, daß mit einem fühlbaren Abbau der Arbeitslosigkeit nur bei realen Wachstumsraten von drei Prozent und mehr zu rechnen ist.

Da diese nicht in Sicht sind, wird der Bund auch 1996 Zuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeit zu zahlen haben. In seinen Etatentwurf hatte Waigel für 1996 keinen Zuschuß mehr eingeplant; jetzt wird mit einem Zu- schußbedarf von 4,3 Milliarden Mark und einem Anstieg der vom Bund fi- nanzierten Arbeitslosenhilfe um rund zwei Milliarden Mark gerechnet.

• Die Sozialbeiträge werden stärker angehoben, als noch zur Jah- resmitte zu erwarten war. Das gilt für die Rentenversicherung. Bundesar-

beitsminister Blüm hat einen Verord- nungsentwurf vorgelegt, der die Er- höhung des Rentenbeitrags von der- zeit 18,6 Prozent auf 19,2 Prozent 1996 vorsieht. Ursprünglich war mit allenfalls 19,1 Prozent gerechnet wor- den. Mitte 1996 wird der Beitragssatz zur Pflegeversicherung, wenn diese mit den Leistungen bei stationärer Pflege beginnt, von jetzt einem Pro- zent auf 1,7 Prozent angehoben. Bun- desgesundheitsminister Seehofer hat für die gesetzliche Krankenversiche- rung einen Beitragszuschlag von 0,5 Prozentpunkten prognostiziert. Bis zur Jahresmitte 1996 ist also mit ei- nem Beitragszuschlag von insgesamt etwa 1,8 Prozentpunkten zu rechnen.

Zur höheren Beitragsbelastung trägt auch wiederum der Anstieg der Bei- tragsbemessungsgrenzen bei. Diese steigen in der Renten- und Arbeitslo- senversicherung von derzeit 7 800 auf 8 000 Mark Monatseinkommen und in der Kranken- und Pflegeversicherung von derzeit 5 850 auf 6 000 Mark. Ein Arbeitsentgelt von 8 000 Mark wird 1996 mit Sozialabgaben von annä- hernd 3 000 Mark belastet; davon ha- ben Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils die Hälfte zu zahlen.

Trotz dieser negativen Fakten bewerten die Konjunkturforschungs- institute in ihrem Herbstgutachten die Rahmenbedingungen für die Kon- junktur als günstig. Dabei wird darauf verwiesen, daß sich der Aufwertungs- effekt teilweise wieder zurückgebil- det habe; der Dollarkurs gibt freilich weiterhin Rätsel auf. Das Zinsniveau sichert eine günstige Investitionsfi- nanzierung. Die Geldmenge wächst moderat; die Gefahr, daß sich der Preisanstieg wieder beschleunigen könnte, erscheint gering. Eine Kehrt- wende in der Geldpolitik sei so bald Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 45, 10. November 1995 (15) A-3029

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Tabelle

Die Prognose für Gesamt-Deutschland

POLITIK

nicht zu erwarten, sagen die Institute, die darauf setzen, daß vom privaten Konsum im nächsten Jahr Impulse ausgehen. Nach den Steuererhöhun- gen in diesem Jahr wird 1996 die Steu- erbelastung durch die Freistellung des Existenzminimums und die Neurege- lung des Familienlastenausgleichs ge- senkt. Dieser den Konsum stimulie- rende Effekt wird jedoch durch den Anstieg der Sozialabgaben zu einem großen Teil wieder kompensiert, ein Faktum, das auch die Konjunkturfor- scher unterschätzen. Mit leicht stei-

Leistungsbilanzsaldo

(Mrd. DM) — 34,2

genden Kapitalmarktzinsen und kurz- fristigen Zinsen wird erst im Lauf des nächsten Jahres gerechnet.

Sozialtransfer nach Osten verringern

Wie üblich geben die Institute auch Empfehlungen zur Wirtschafts- und Finanzpolitik. Danach sollen die Finanztransfers nach Ostdeutschland auf dem Niveau der letzten Jahre von annähernd 200 Milliarden Mark stabi- lisiert werden. Bei konstanter Investi- tionssumme sei es jedoch notwendig, die Sozialtransfers zu verringern, um die investiv verwendeten Mittel zu verstärken, fordern die Institute. Das Abkoppeln der nicht invasiven Trans-

LEITARTIKEL

fers von der Einkommensentwick- lung werde sich nicht vermeiden las- sen. Der Hinweis dürfte sich auf die Anpassung der Renten und der Lei- stungen der Arbeitslosenversiche- rung beziehen.

Wachstum über 2,5 Prozent möglich

Die Institute halten es für not- wendig und für möglich, das Wachs- tum der Wirtschaft längerfristig über

1996

2,5 35 095 3 550 9,2

2,0

— 94,0

— 94,0

— 37,0 — 35,0

2,5 Prozent hinaus zu beschleunigen.

Voraussetzung sei jedoch ein Kurs- wechsel in der Lohnpolitik. Für 1996 werden selbst Lohnabschlüsse von 3,5 Prozent als überhöht angesehen. Der Finanzpolitik wird empfohlen, durch Steuersenkungen das Wachstum zu fördern, sonst werde sie zur Wachs- tumsbremse. Vor allem sollten die Unternehmenssteuern umgehend re- formiert werden. Die Institute plädie- ren, wie die Bundesregierung, für die Abschaffung der Gewerbekapital- steuer und die Herabsetzung der Ge- werbesteuer. Sie lehnen es jedoch ab, diese Entlastung durch die Ver- schlechterung der Abschreibungsbe- dingungen zu finanzieren. Das würde die Investitionstätigkeit beeinträchti- gen, sagen die Institute.

• Diese Empfehlung entspricht der Interessenlage der Freiberufler, die keine Gewerbesteuer zu zahlen haben.

Die hohen Defizite in allen öf- fentlichen Haushalten belasten und verzögern alle steuerpolitischen Ent- scheidungen. Als sicher wird man un- terstellen können, daß es weder 1996 noch 1997 zum angestrebten Abbau des Solidaritätszuschlags kommen wird. Die Koalition gerät freilich vor der Bundestagswahl 1998 in Zug- zwang. Vorrang hat zunächst der Bundeshaushalt 1996. Nach der Ber- lin-Wahl hat die Koalition ein Haus- haltsloch von fast 20 Milliarden Mark entdeckt. Auf diesen Betrag summie- ren sich beim Bund Steuerausfälle und zusätzliche Anforderungen der Nürnberger Bundesanstalt. Das Haushaltsloch soll vor allem durch Privatisierungserlöse, durch Kürzun- gen bei der Arbeitslosenhilfe und durch das Vorziehen des Steuerter- mins bei der Mineralölsteuer ge- schlossen werden.

Zwang zur

Ausgabenkürzung

Das alles läßt sich leichter be- schließen als verwirklichen. Die Ko- alition verschafft sich mit ihren Haus- haltsbeschlüssen ein wenig Zeit; die fi- nanzpolitischen Probleme löst sie da- mit nicht. Die zusätzlichen Einnah- men stehen allenfalls einmal zur Ver- fügung. Privatisierungsaktionen in dieser Dimension lassen sich nicht wiederholen. 1997 drohen neue Haus- haltslöcher. Der Zwang, die Ausga- ben den Einnahmen anzupassen, bleibt also bestehen. Wer weiter an der Steuerschraube drehen will, ver- spielt die Chance, die Finanzmisere durch kräftiges Wachstum zu über- winden. Wer die Haushaltslöcher mit noch höherer Kreditaufnahme schließen will, verlagert die Probleme nur auf spätere Haushaltsjahre und gefährdet nicht nur die finanzielle Sta- bilität unseres Landes, sondern auch die Europäische Währungsunion. Die Maastricht-Kriterien lassen auch uns nur wenig Spielraum. Mit den Haus- haltsentscheidungen des Bundestages ist die finanzpolitische Diskussion nicht beendet. Walter Kannengießer

1994 1995

Bruttoinlandsprodukt (Veränderung in vH

gegenüber dem Vorjahr) 2,9 2,25

Erwerbstätige

(1 000 Personen) 34 957 34 915

Arbeitslose

(1 000 Personen) 3 698 3 600

Arbeitslosenquote

(in vH) 9,6 9,4

Verbraucherpreise (Veränderung in vH

gegenüber dem Vorjahr) 2,8 2,0

Finanzierungssaldo des Staates (Mrd. DM)

einschl. Treuhandanstalt — 123,9 — 109,5 ohne Treuhandanstalt — 86,8 — 109,5

A-3030 (16) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 45, 10. November 1995

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