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Archiv "Finanz- und Sozialpolitik: Unsicherheit über den sozialpolitischen Kurs" (13.11.1998)

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skar Lafontaine, SPD-Vor- sitzender, Bundesfinanzmi- nister und der starke Mann der rot-grünen Koalition, ist immer für Überraschungen gut. Unmittel- bar nach Abschluß der Koalitions- verhandlungen hat er auf dem SPD- Parteitag angeregt, die Leistungen der Pflegeversicherung und auch die Geldleistungen der Arbeitslosen- versicherung von der Bedürftigkeit der Versicherten abhängig zu ma- chen. Vor wenigen Tagen hat er in ei- nem ZDF-Interview seine Vorstel- lungen noch einmal bekräftigt. Ziel sei es, die Sozialleistungen auf jene zu konzentrieren, die ihrer auch be- dürften, sagte Lafontaine. Nur so sieht er die Chance, die Beitragssät- ze langfristig zu senken. Mit seinem Vorschlag stellt Lafontaine das Ver- sicherungsprinzip zur Disposition und damit die bisherige, auch von der SPD mitgetragene Ausrichtung der Sozialpolitik der Nachkriegszeit.

Es ist anzunehmen, daß über diesen Vorschlag, der nicht im Koalitions- vertrag enthalten ist, schon bald kontrovers diskutiert wird, und zwar auch in den Reihen der neuen Koali- tion. Mit einer Zustimmung von sei- ten der Grünen kann Lafontaine wohl eher rechnen als mit dem Bei- fall seiner eigenen Partei. Die Ge- werkschaften sind bereits auf Di- stanz gegangen; die Arbeitgeber- verbände reagieren zurückhaltend, aber eher positiv.

Lafontaine begründet seinen Vorschlag mit einer wenig plausi-

blen Argumentation. Man müsse fragen, welche Sicherungssysteme eher dem Grundprinzip einer Versi- cherung und welche eher dem Grundprinzip des Sozialstaats folg- ten. Systeme, die von jedem in An- spruch genommen würden, sollten sich eher am Versicherungsprinzip orientieren, während Systeme, die nicht von jedem, sondern primär von den Bedürftigen in Anspruch ge- nommen würden, dem Sozialstaats- prinzip zuzuordnen seien. Die Rentenversicherung will Lafontaine nach den Prinzipien der Versiche- rung gestalten, während er die Lei- stungen der Pflegeversicherung und das Arbeitslosengeld von einer Be- dürftigkeitsprüfung abhängig ma- chen will.

Sinn und Zweck von Versicherungen

Lafontaine kann seine Vor- schläge jedoch nicht mit dem Versi- cherungsprinzip begründen. Versi- cherungen decken Risiken ab, die eintreten können, aber nicht eintre- ten müssen. Versicherungen haben nicht die Aufgabe, jedermann mit Leistungen zu beglücken, sondern nur jene, die von dem versicherten Risiko betroffen werden. Ist diese Zahl groß, so verteuert dies die Ver- sicherung; ist sie klein, so können Prämien oder Beiträge entspre- chend niedriger festgesetzt werden.

Ob Sozialsysteme besser nach einem

versorgungsstaatlichen Modell oder nach Versicherungsprinzipien ge- führt werden, hat wenig mit der Fra- ge zu tun, wie viele der Versicherten die Sozialversicherung in Anspruch nehmen.

Im Rentensystem das Versiche- rungsprinzip anzuwenden ist allemal vernünftig. Der Grundsatz, daß sich die Höhe der Rente nach der Bei- tragsvorleistung richten soll, wird von den meisten als gerecht angese- hen; es sichert dem System die Ak- zeptanz. Das gilt freilich auch für die Arbeitslosenversicherung.

Wenn Lafontaine das Renten- system „am ehesten nach dem Prin- zip der Versicherung aufbauen“ will, so hat das offensichtlich wenig mit dem Anteil jener Versicherten zu tun, die mit Leistungen im Alter rechnen können. Als machtbewuß- ter Politiker nimmt er wohl eher Rücksicht auf die hohe und politisch relevante Zahl der negativ Betroffe- nen, die sich ergeben würde, wenn die Zahlung einer Rente von der Be- dürftigkeit des Versicherten abhän- gig gemacht und die Beitragsvorlei- stung ignoriert würde. Die Zahl der Betroffenen wäre jedenfalls in der Pflegeversicherung und der Arbeits- losenversicherung wesentlich gerin- ger als in der Rentenversicherung, wenn die Sozialleistungen von Be- darfskriterien abhängig würden. Im übrigen ließe sich der für die Bemes- sung der Leistung ausschlaggebende Grad der Bedürftigkeit politisch vorgeben und jeweils der politischen A-2887

P O L I T I K LEITARTIKEL

Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 46, 13. November 1998 (19)

Finanz- und Sozialpolitik

Unsicherheit über den sozialpolitischen Kurs

Was bedeutet Lafontaines Vorschlag, Sozialleistungen nur noch an Bedürftige zu zu zahlen? Die Initiative zielt auf die Pflege- und Arbeitslosenversicherung, während die

Rentenversicherung dem Versicherungsprinzip folgen soll.

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Opportunität anpassen. Was einer als Leistung erhält, wird jeweils politisch und von der Kassenlage bestimmt.

Würden Arbeitslosengelder nicht durch Beiträge, sondern über die Steuer finanziert, so bedeutete dies ei- ne doppelte Umverteilung. Bedürfti- ge zahlen keine Einkommensteuer, sondern allenfalls Verbrauchsteuern.

Einkommensteuer zahlen jene, die nicht bedürftig sind und daher keine Leistungen erwarten können. Die Steuerfinanzierung zwingt zur Ein- heitsleistung. Das Arbeitslosengeld der Kleinverdiener würde bei der Steuerlösung nicht mehr nach dem vorherigen Arbeitsentgelt bemessen, es würde aufgestockt. Den etwas Wohlhabenderen würde das Arbeits- losengeld so lange gestrichen, bis auch sie bedürftig wären. Im übrigen hätte nach Lafontaines Modell der Finanz- minister und nicht mehr der Arbeits- minister über die Höhe der Leistun- gen zu bestimmen.

Woher will Lafontaine das Geld für eine Steuerfinanzierung nehmen?

Allgemein wird unterstellt, daß Lafontaine an die Steuerfinanzierung der beiden Sozialsysteme denkt. Für die Pflegeversicherung trifft dies zu, wie seiner Rede auf dem Parteitag zu entnehmen ist. Wie er sich die Finan- zierung des Arbeitslosengeldes vor- stellt, hat Lafontaine dagegen nicht gesagt. Denkbar wäre es jedenfalls auch, weiterhin Beiträge zur Arbeits- losenversicherung zu erheben und die Ansprüche bei einem Niveau zu kap- pen, das wenig über dem der Sozial- hilfe liegt. Dadurch würde der Um- verteilungseffekt gegenüber der Steu- erfinanzierung wohl noch verschärft.

Eine solche Lösung würde zwar be- trächtliche verfassungsrechtliche Risi- ken bergen, doch folgte sie immerhin dem Finanzierungsmodell der Ge- setzlichen Krankenversicherung und der Pflegeversicherung. Dem nach dem Einkommen gestaffelten Beitrag steht auch dort eine Einheitsleistung gegenüber; diese ist allerdings nicht von Bedürftigkeit abhängig. Dennoch wird dies solidarische Finanzierung

genannt. Über die Krankenversiche- rung hat Lafontaine im übrigen kein Wort verloren. Auch das fällt auf.

Über die Motive Lafontaines, schon unmittelbar nach Abschluß der Koalitionsverhandlungen für eine stärker bedarfsorientierte Sozialpoli- tik zu werben, kann nur spekuliert werden. Es bleibt wohl nur eine Er- klärung: Lafontaine weiß, daß das heutige soziale Leistungsniveau län- gerfristig nicht durchzuhalten sein wird. Der Politiker Lafontaine sucht daher nach Kürzungsmöglichkeiten, die seine Wähler weniger treffen als die der bürgerlichen Parteien. Er hat seinen Vorschlag in die öffentliche Diskussion über die Zukunft der Sozi- alversicherung eingebracht und war- tet nun ab, wie Politik und Öffentlich- keit darauf reagieren. Doch zunächst einmal drängen sich mehr Fragen auf, als Lafontaine lieb sein kann.

Woher will er das Geld nehmen, wenn er sich für die Steuerfinanzie- rung der beiden Sozialsysteme ent- scheidet? Der politischen und ökono- mischen Akzeptanz der Öko-Steuer sind, wie Lafontaine einräumt, relativ enge Grenzen gesetzt. Das Risiko der stationären Pflege können nur wenige aus eigenem Einkommen und Vermö- gen decken. Wer auf eine solche Pfle- ge angewiesen ist, wird sehr schnell zum Bedürftigen, auch wenn er zuvor ein Vermögen angespart hat. Wer si- chergehen und sein Vermögen nicht antasten will, braucht eine private Versicherung; zusätzlich muß er mit seinen Steuern die Pflege anderer be- zahlen.

Fragen über Fragen und bisher

keine Antworten

1994 hat sich auch die SPD gegen die Steuerfinanzierung und für die Einführung der Pflege-Sozialversi- cherung entschieden. Was hat sich seitdem, außer der Tatsache, daß die SPD jetzt regiert, eigentlich geän- dert? Damals lag der Vorschlag auf dem Tisch, die jüngeren Bürger zum Abschluß einer privaten Pflegeversi- cherung zu verpflichten und das Pfle- gerisiko der älteren Generation in einer zwangsläufig längeren Über- gangszeit im Rahmen eines sozialen

Leistungsgesetzes aus Steuermitteln zu finanzieren. Das wäre der vernünf- tige Weg gewesen. Aber Blüm und die SPD waren dagegen. Läßt sich das jetzt wieder rückgängig machen und ein ausschließlich steuerfinan- ziertes System einführen? Die Hilfen bei ambulanter Pflege würden dann wohl weithin entfallen, weil die zu Pflegenden oder deren Angehörige dafür nicht bedürftig genug sind. Kä- me es dann wieder zu einer Auswei- tung der stationären Pflege? Die bei den Privatkassen Versicherten könn- ten ihre Versicherung wohl weiter- führen. Was aber wird aus den Versi- cherungen bei den gesetzlichen Kas- sen und deren Reserven von rund 10 Milliarden Mark? Würde das Geld den Versicherten erstattet, oder übernähme das der Finanzminister?

Wer bei der Arbeitslosenversiche- rung sparen will, könnte die Zah- lungsfristen für das Arbeitslosengeld verkürzen, was dann automatisch das Gewicht der nach der Bedürftigkeit zu bemessenden und vom Bund zu fi- nanzierenden Arbeitslosenhilfe ver- stärken würde. Läge das nicht näher?

Ist der hälftige Beitragsanteil der Ar- beitgeber, wenn es bei der Beitragsfi- nanzierung bliebe, noch zu rechtferti- gen, wenn Arbeitslosengeld nur jene erhalten, die bedürftig sind?

Was wird aus der Selbstverwal- tung, wenn die Leistungen der Ar- beitslosenversicherung mit Steuermit- teln bezahlt würden? Wenn Pflege- und Arbeitslosengelder vom Staat be- zahlt würden, müßten dann nicht alle Bürger und nicht nur Arbeitnehmer entsprechende Leistungen erhalten?

Dabei ist es systemgerecht, die Ar- beitslosenversicherung auf Arbeit- nehmer zu begrenzen, denn in diesem Sozialsystem gibt es, anders als in der Krankenversicherung, der Pflegever- sicherung und auch in der Rentenver- sicherung, einen unmittelbaren Zu- sammenhang zwischen dem Arbeits- verhältnis und dessen Beendigung durch Kündigung.

Fragen über Fragen, auf die Lafontaine und der von dessen Initiative überraschte Arbeitsmini- ster Riester bisher keine Antworten geben. Lafontaines Vorstoß ver- größert die Unsicherheit über den sozialpolitischen Kurs der neuen Koalition. Walter Kannengießer A-2888

P O L I T I K LEITARTIKEL

(20) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 46, 13. November 1998

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