• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Visionen eines wieder gelassenen Psychologen" (28.08.2000)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Visionen eines wieder gelassenen Psychologen" (28.08.2000)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

um den Arbeitsplatz, den Ausbildungs- platz, die Familie und den sozialen Kontext zu erhalten.

Beispiele: R. R. kommt drei Monate vor der Gesellenprüfung wegen eines Drogenproblems in die Arztpraxis (ein halbes bis ein Gramm Heroin pro Tag);

sofortiger Beginn der Therapie mit drei Milliliter Methadon, einprozentige Lö- sung. R. schreibt seine Prüfung, absol- viert seinen praktischen Teil, besteht mit der Note 1,2 und wird von seinem Ar- beitgeber übernommen. Nach jetzt vier Monaten Behandlung sind wir bei 0,2 ml Methadon täglich, in zwei Wochen wird die Therapie beendet sein, er bleibt mit mir ein Vierteljahr in Kontakt.

Familie T.: Er ist drogenkrank, vier Monate alter Säugling; Ehefrau multiple Sklerose; er hat seine Arbeit noch nicht verloren, sofortiger Beginn mit Metha- don, die Arbeit klappt wieder, er küm- mert sich um Frau und Kind. Die Familie hat ihren Ernährer nicht verloren.

Familie F.: Beide drogenkrank, eine zwölfjährige Tochter, er ist seit 20 Jah- ren drogenkrank, arbeitet jetzt mit Me- thadon. Seine Frau ist seit acht Jahren drogenkrank. Sie lässt sich zurzeit zur Programmiererin umschulen und ist ei- ne der Besten in der Klasse (Note 1,5).

Die Liste ließe sich beliebig fortset- zen, ich betreue knapp 200 Drogen- kranke. Ich bitte darum, dass diejeni- gen gehört werden, die täglich mit den kranken Menschen arbeiten, und dass man ihnen einen unkomplizierten Zu- gang zu Methadon und zur Hilfe er- möglicht. Es kann doch nicht angehen, dass ein therapiewilliger Drogenkran- ker 80 km zum nächsten Arzt fahren muss, der gewillt ist, ihn zu behandeln, wohingegen der Dealer ihm das Heroin an den Arbeitsplatz bringen kann.

Vor 15 Jahren waren meine Patien- ten im Durchschnitt 24 bis 28 Jahre alt.

Heute sind meine jüngsten 14 Jahre alt, und diejenigen, die überlebt haben, sind heute 40 bis 44 Jahre. Die hole ich nicht mehr vom Methadon herunter.

Die bleiben auf einer Dauermedikation und können damit ein menschenwürdi- ges Leben führen, bis ihre Leberzirrho- se oder ihre Aids-Erkrankung dem ein Ende setzt.

Dr. med. Vera Schnell Boelckestraße 17, 93051 Regensburg

P O L I T I K

A

A2210 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 34–35½½½½28. August 2000

E

s ist der 1. April 2009. Auf dem Weg in meine Praxis fällt mir ein, dass ich heute vor genau zehn Jahren meine vertragsärztliche Tätigkeit aufgenommen habe – mein bitterer Geschmack im Mund hat sicherlich mit der neuen Zahncreme zu tun.

Wie so oft in letzter Zeit werde ich mir das Gesicht des Patienten vorzu- stellen versuchen, der da nervös oder apathisch oder angriffslustig auf mich warten wird. Die Gesichter werden

miteinander verschmelzen und sich mit beliebigen Fetzen von Biografien, Bildern und Begegnungen verbinden.

Noch 10 Minuten, dann werde ich die Praxis betreten. Simone wird mich genauso verbindlich und sachlich be- grüßen, wie sie auch meine Patienten empfängt. Das lernen die jungen PTH (Psychotherapeutische Helfe- rinnen) heutzutage in ihrer Ausbil- dung. „Gerade bei psychotherapeuti- schen Sprechstundenhilfen“, so hat sie mir mal erklärt, „ist es wichtig, dass keine emotionalen Bindungen der Patienten zu ihnen entstehen, we- gen self management und Abhängig- keitsvermeidung und so.“

Also, keine Verwicklungen bitte.

Wir Psychologen sind professioneller geworden. Und schneller. Drei bis fünf Sitzungen sind die Norm. Mehr als zehn sind ein Fall für die QS- Inspektoren – Das sind die Qualitäts- sicherungsleute von der Kassen- ärztlichen Vereinigung (KV). Wenn man zu häufig den „Normalfall“ über- schreitet oder gar die „Höchstgren- zen“ (15 Stunden), wird man freund- lich-bestimmt zu einem QS-Seminar der KV geladen. Hier werden nicht

persönlich-fachliche Defizite des Be- handlers aufgedeckt, sondern – finale Strategien eingeübt.

„Alle Patienten sitzen schon in den Kabinen“, ruft meine Sprechstunden- hilfe. „In Nummer 1 die unspezifische Bulimie. Sie wollten noch klären . . .“

– Erklären muss ich noch das Kabinen- system: Das fing so etwa im Herbst 2004 an. Einige Kollegen hatten damit wohl schon heimlich begonnen. Sie wis- sen ja, die Punktwerte. So schlimm wie 1999 in den neuen Bundesländern und in Schleswig-Holstein mit Stundenho- noraren von bis zu 14 Pfennig (in etwa 7 Cent) ist es zwar nicht mehr geworden.

Aber es blieb ständiges Reizthema.

GLOSSE

Visionen eines wieder gelassenen

Psychologen

Zeichnung: Ralf Brunner

(2)

P O L I T I K

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 34–35½½½½28. August 2000 AA2211

Unser Honorar pendelte sich dann auf etwa 15 Euro ein. Viele Praxen mussten aus finanziellen Gründen schließen, eine ganze Reihe von Kollegen wur- de beim Abrechnungsbetrug erwischt.

Was die nämlich nicht wissen konnten:

Ein Jahr lang kamen „U-Boote“ der KV und der AOK in die Praxen, ließen sich behandeln und prüften auf diese Weise Abrechnungsumfang und -inhal- te. Diejenigen, denen kein Betrug nach- gewiesen werden konnte, bekamen Är- ger wegen „rechtswidriger Anwendung unwissenschaftlicher Behandlungsver- fahren“ (die so genannte RAUB-Affä- re). Diese offensichtlich gut geschulten

„Patienten“ fragten irgendwann: „Sa- gen Sie mal, machen Sie eigentlich auch Gestalt?“ Oder: „Können Sie mir nicht mal Körperübungen zeigen, ich bin ir- gendwie nicht so ganz in mir?“

Wie führt man mit einem Stundenho- norar von 15 Euro wirtschaftlich eine Praxis? Hier haben wir Psychothera- peuten in mehrfacher Hinsicht von den Somatikern lernen dürfen, indem wir al- le in einen weißen Kittel geschlüpft sind.

Was nämlich die therapeutische Arbeit früher so auszehrend gemacht hatte, war ja die „Beziehungsarbeit“, was wie- derum den Effekt hatte, dass man höch- stens 25 Patienten pro Woche schaffte!

Nebenbei sei vermerkt, dass eine Gruppe einflussreicher Gestaltthera- peuten die wissenschaftliche Aner- kennung der Gestalttherapie hat durchsetzen können, wenngleich auch einige Kröten „geschluckt“ werden mussten wie die Umbenennung in Ge- staltungstherapie. Mich tröstet dabei ein wenig, dass sich für die Verhal- tenstherapie auf Kundenseite ja auch

„Verhaltungstherapie“ eingebürgert hat. Die zweite große Schule, die „es“

geschafft hat, ist die Systemische Fa- milientherapie, heute: „Systematische Therapie“. Die Zulassung wurde hier aber auf die Methoden eingeschränkt, die monokausale und lineare Behand- lungsprinzipien nachweisen.

Ja, wir tragen nun endlich auch so ein Gewand, wenn auch nicht sichtbar, so doch als Haltung. Es arbeitet sich gut darin: Wenn gut gestärkt, hält es ei- nen in Fasson, auch wenn man inner- lich mal zusammensackt. Die Kabinen

haben wir ebenfalls von den Somati- kern abgeguckt. Aus Honorargründen haben wir mit der Simultanbehandlung angefangen. Vom Gruppenbehand- lungs-Setting unterscheidet sich diese dadurch, dass um jeden Patienten min- destens drei Wände gestellt sein müs- sen. Da mittlerweile das zwischenzeit- liche Überangebot an Psychothera- peuten durch „grüne Selektion“ (Eine Zeit lang war eine Grüne Bundesge- sundheitsministerin) abgenommen hat und andererseits die Kostenerstattler in Schach gehalten werden sollen, wa- ren die KVen und Kassen überra- schend schnell mit dem Kabinensy- stem einverstanden. Zugelassen sind offiziell bis zu fünf Kabinen pro Thera- peut und 50 Minuten. Die meisten Kollegen führen aber durchschnittlich bis zu acht Parallelbehandlungen durch, um so auf einen Stundensatz von circa 120 Euro zu kommen.

Textbaustein „Erstkontakt“

downloaden

Mein Praxisalltag: Also Kabine 1, die atypische Bulimie. Ich öffne, ausatmen (Wie war doch gleich ihr Gesicht? – ach ja). Ich gehe mit der Patientin die Be- wältigungskognitionen durch. Dann stelle ich die Schale mit den Gum- mibärchen (Hierarchie Stufe 7) in 1,20 m Entfernung von ihr auf den Fußbo- den. Mit einem „Denken Sie positiv“

lasse ich sie allein. Auf zur zweiten Ka- bine – bis jetzt bin ich gut in der Zeit, keine 6 Minuten bisher. Griff zur Kar- teikarte – an Frau F. erinnere ich mich lebhafter, als mir lieb ist: Histrionikerin.

Eigentlich gehts ihr gar nicht schlecht.

Von ihrer Kasse hat sie die Auflage zur Behandlung gekriegt, weil sie immer von Arzt zu Arzt rannte und zu teuer wurde. „Guten Mor. . .“ „Sie haben mich gestern bei Plaza gar nicht ge- grüßt. Aber ich bin Ihnen ja auch nicht wichtig. Ach, Sie können mir auch nicht helfen, Herr Dr. Mehrgardt. Dabei hat- te ich so viel Hoffnung in Sie gesetzt.“

(Innerliches Zusammensacken, aber der Kittel hält. Ignorieren. Wiederauf- pumpen. Brennen in der Magenge- gend: die Z e i t !) Ich gebe ihr eine Auf-

gabe, irgendwas mit Kognitionen. „In Kabine 3 sitzt ein Neuer“, empfängt mich Simone. „Depression mit Soma- tik. Karte, verstohlenes Ausatmen, Eintreten. Textbaustein „Erstkon- takt“ downloaden. Dann Kabine 4 (ei- ne Rezidivierende), Kabine 5 (Höchst- grenzen-Behandlung, multiple Trau- matisierung wegen innerfamiliären Übergriffs, heute 14., also vorletzte, Sit- zung). „Erlernen von Selbstkontrolle, vielleicht Zeitprojektion“ steht auf meiner Karte für heute. 10 vor 9 Uhr er- tönt unser wohlklingender Gong, wor- aufhin die Patienten aus den Kabinen treten. Verabschiedung. Kurze Pause, Kaffee, Zigarette. Anschließend zweite Runde und der nächste Satz Patienten.

Ein weiterer Grund, weshalb wir Psychotherapeuten weniger belastet und deshalb effektiver geworden sind, liegt im „metaphysischen Schnitt“ – auch von den Somatikern übernommen. An die Stelle der Be- gegnungsspekulanten traten in den Literaturverzeichnissen die Namen von Pragmatikern, Neo-Positivisten und Sprachanalytikern, wie leComte, die Mitglieder der „Wiener Schule“, Wittgensteins Tractatus logico-philo- sophicus. Alle metaphysischen The- men wurden als spekulativ oder eso- terisch verbannt. Zunächst gab es ei- nige Missstimmung, wurden doch nach und nach alle Antragsberichte abgelehnt, in denen von existenziel- len Ängsten oder Trauer, von Sinnfra- gen oder Begegnungsfähigkeit die Rede war.

Es ist gut zwei Jahre her, dass die KBV diesen Bannspruch verhängte, und ich muss trotz anfänglicher Empörung eingestehen, dass es mir seitdem besser geht: keine eigenen Erschütterungen mehr infolge von Gesprächen über Themen, die auch mich betreffen und beunruhigen;

keine erschöpfenden Kontakte von Mensch zu Mensch, womit den Pati- enten ja doch nur etwas vorgespielt wurde. Es ist schon gut so, wie es ist!

Und nur manchmal träume ich noch, dass mir ein Klient dankbar um den Hals fällt. – Und wache schweißge- badet auf.

Dr. phil. Dipl.-Psych. Michael Mehrgardt

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Wenn Sie ihren Patienten Omeprazol verordnen, sollten Sie wissen, daß unter der Medikation gelegentlich Sehstörun- gen beobachtet werden können (Doku- ment Nr. 2027)..

Der Vertragsarzt wählt diese geson- dert berechnungsfähigen Materialien un- ter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsge- botes und der medizinischen Notwendig- keit aus. Der

b) In einer Dialysepraxis oder Dialy- seeinrichtung müssen für die Hämodia- lyse von Erwachsenen mindestens 10 Behandlungsplätze vorhanden sein und nachgewiesen werden.

Anmeldungen unter Angabe von Vor- und Zunamen, Geburtsdatum und genauer Anschrift an die KV Meck- lenburg-Vorpommern (obige Anschrift), Tel 03 85/74 31-3 69 (Frau Krohlow)..

(1) Für die programmierte ärztliche Schulung von Typ-II-Diabetikern ohne Insulinbehandlung ist die Abrechnungs- nummer 8013, von Typ-II-Diabetikern mit Insulinbehandlung die

503, 504, 507, 509 und 524 dürfen nur abge- rechnet werden, wenn der abrechnende Arzt gegenüber seiner Kassenärztlichen Vereinigung nachweist, daß sie entweder von ihm selbst als

Punktzahlanforderung der für ein Zusatzbudget berechtigten Ärzte einer Arztgruppe aus den Leistungen des je- weiligen Zusatzbudgets der ersten bei- den Quartale des Jahres

Anmeldungen unter Angabe von Vor- und Zunamen, Geburtsdatum und genauer Anschrift an die KV Meck- lenburg-Vorpommern (obige Anschrift), Tel 03 85/74 31-3 69 (Frau Krohlow)..