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Archiv "Arzt-Patienten-Beziehung: In falsches Fahrwasser geraten" (09.01.2012)

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A 20 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 109

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Heft 1–2

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9. Januar 2012

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eit einiger Zeit hört man im- mer häufiger die Forderung nach einer „menschlichen Medi- zin“. Das klingt zunächst ganz po- sitiv. Wenn man aber dem Wortsinn nachhört, dann enthüllt sich die Tautologie, ja eigentlich die Absur- dität des Begriffes: Medizin bedeu- tet doch implizit die Kunst, die Wissenschaft, die das Wohl des Menschen zum Ziel hat. Dass wir in letzter Zeit glauben, das Wort

„menschlich“ davor setzen zu müs- sen, wenn wir ein umfassendes, dem Körper wie auch der Seele und dem psychosozialen Umfeld des Patienten gerecht werdendes Handeln meinen, sollte uns doch sehr nachdenklich stimmen. Wir gestehen uns damit ein, dass die Medizin heute, trotz all der gran- diosen Leistungen und Fortschritte, die sie verzeichnen kann, trotz der stets steigenden Lebenserwartung, die sie den Menschen bringt, offen- sichtlich in ein falsches Fahrwasser

geraten ist – mit gravierenden Fol- gen, nicht etwa nur für die Patien- ten (für die ohnehin), sondern ebenso für die Ärzte und das Pfle- gepersonal.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Sie heißen: Sparen, Personal- mangel, immer kürzere Zeittaktun- gen, gelegentlich auch die zu große Macht der Verwaltung gegenüber dem ärztlichen Direktorium, gele- gentlich auch der Vorrang des Woh- les der Aktionäre vor dem der Pa-

tienten und ihrer Betreuer. Wenn aber einem Arzt die Zeit fehlt, sich an das Bett eines verunsicherten oder gar verzweifelten Patienten zu setzen und mit ihm wenigstens eine Viertelstunde lang zu reden; wenn

er womöglich im mehr oder weni- ger gehetzten Vorbeigehen gar nicht mehr wahrnimmt, dass da ein Ver- zweifelter liegt; wenn die Kranken- schwester einen Anpfiff bekommt, weil sie zu lange für die Pflege ei- ner alten Frau gebraucht oder sich mit ihr mitleidsvoll ein paar Minu- ten unterhalten hat – dann stimmt etwas nicht mehr im System.

In dem Maße, in dem die Burn- out-Fälle im Pflegebereich drama- tisch zunehmen, die jungen Ärzte nach Norwegen oder in die Schweiz oder sogar nach Frankreich und Großbritannien auswandern, weil sie dort eher die Medizin praktizie- ren können, die sie erlernt haben, die Landarztsitze verwaisen und Planstellen wegen des Mangels an Ärzten nicht mehr besetzt werden können, in dem Maße muss sich dieses reiche und bisher so erfolg- reiche Gesundheitssystem fragen lassen, wie es auf diese Fehlent- wicklung reagieren wird.

Die angehenden Ärzte erfahren heute zu wenig von der grundsätzlichen Kunst des Umgangs mit Patienten.

„Keine Zeit“ ist das Schlimmste, was der Beziehung zwischen Arzt und Patient passieren kann.

Wenn man sich der Nöte der Patienten aus Zeitmangel nicht mehr annehmen kann, dann ist ein Kernbereich ärztlichen Handelns betroffen.

ARZT-PATIENTEN-BEZIEHUNG

In falsches Fahrwasser geraten

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9. Januar 2012 A 21 In der Beziehung zwischen Arzt

und Patient vollzieht sich derzeit in vielerlei Hinsicht ein tiefgreifender Wandel. Das frühere patriarchali- sche Verhältnis hat sich ganz offen- sichtlich überlebt. Es ging meist einher mit einer ziemlich ausge- prägten Selbstgewissheit der Ärzte, die heute angesichts der schwieri- gen finanziellen Rahmenbedingun- gen und anderer Widrigkeiten im Medizinbetrieb deutlich abzubrö- ckeln beginnt. Aber auch der Pa- tient sieht sich zu einer Haltungsän- derung gezwungen – er muss seine bisherige passive Rolle zugunsten einer gewissen Emanzipation und vor allem Eigenverantwortung ab- legen. Das alles könnte im Idealfall hinführen zum allseits geforderten und als Modell der Zukunft geprie- senen partnerschaftlichen Verhält- nis: Arzt und Patient auf gleicher Augenhöhe, das heißt, alle relevan- ten Entscheidungen werden disku- tiert, abgewogen und im Konsens getroffen. Hier der Experte mit Er- fahrung und Fachwissen, dort der mündige Partner – schön wär’s!

Die derzeitige Situation der Pa- tienten ist gekennzeichnet durch drei unterschiedliche Problemfel- der:

eine doch erstaunlich starke Ver- unsicherung und ein Vertrauensver- lust gegenüber dem ganzen Medi- zinsystem und den dort handelnden Personen, verstärkt noch durch Pu- blikationen, die das Handeln der Ärzte kritisch hinterfragen, die im- mer wieder über angeblich nicht in- dizierte Eingriffe und Übermedika- lisierung berichten

eine generelle Angst vor künfti- gen Rationierungen und Restriktio- nen im Gesundheitssystem und die Furcht, ohne zusätzliche finanzielle Möglichkeiten gnadenlos zum schlecht versorgten Patienten zwei- ter – oder dritter – Klasse abzurut- schen

die Bemühungen, sich im Dschungel der Informationen und Desinformationen in Medien und Internet genügend Expertise zu be- schaffen, um dem System nicht ganz ahnungs- und hilflos ausgelie- fert zu sein. Das funktioniert zwar ganz gut, wenn es um allgemeine Informationen geht. Sobald es aber

um die individuelle Bewertung ei- nes Falles geht, versagt diese Re- cherche vollkommen. Und Trost er- hält der Kranke dabei auch nicht – wie auch.

Die Verwirrung ist also groß, und Ratlosigkeit macht sich breit. Ei- gentlich müsste man als Patient in dieser Situation bei seinem Arzt oder seiner Ärztin Fragen stellen, Ängste oder Bedenken äußern und diskutieren dürfen, um die Verunsi- cherung aufzulösen. Gerade dies aber scheint heute fatalerweise un- möglich – keine Zeit.

„Keine Zeit“ ist das Schlimmste, was der Beziehung zwischen Arzt und Patient passieren kann. Wenn

man sich den Nöten der Patienten nicht mehr stellen kann, dann hat man de facto eine der Primärtugen- den des Arztberufs, nämlich das Zuhören und Beraten – die spre- chende Medizin – abgeschafft.

Heute fühlen sich die Patienten oft alleingelassen mit ihren Fragen, mit ihren Ungewissheiten. An dem Um- stand ist der ärztliche Berufsstand selbst nicht ganz unschuldig: Von dieser Seite gab es keinen wirkli- chen Widerstand gegen die allmäh- liche Absenkung der Honorierung von Gesprächsleistungen.

Die dadurch inzwischen ohnehin fragil gewordene Arzt-Patienten- Beziehung wird seit der Einführung der sogenannten individuellen Ge- sundheitsleistungen noch mehr be- lastet. Sie pervertieren mit einem Schlag das Verhältnis des Heilen- den zu seinem Kranken zu einer fragwürdigen Verkäufer-Kunden- Beziehung. Und streuen so das Gift des Misstrauens: Will mein Arzt mir etwas Gutes tun, oder will er an mir nur Geld verdienen? Wenn wir aber das Vertrauen, das wichtigste Gut in der Beziehung zu unseren Patienten und die Voraussetzung für erfolgreiche Behandlungen, ver- spielen, dann zahlen wir einen zu hohen Preis für solche Zusatzein- kommen, so willkommen oder viel- leicht sogar nötig sie manchem auch zu sein scheinen.

Man sollte hinterfragen, warum Menschen sogenannten alternati- ven Heilmethoden so willig ver- trauen. Warum wenden sich auch aufgeklärte und informierte Patien- ten immer häufiger an irgendwel- che Heiler? Und worauf bezieht sich „alternativ“? Auf die andersar- tige – vermeintlich sanftere – Me- dizin oder auf das „alter ego“, das

„andere Ich“, den Teil von uns, der sich hinter Verstand und Aufge- klärtheit verbirgt und dem das Funktionieren-Müssen in einer rücksichtslosen Welt stärker zu- setzt, als wir ahnen? Oder bezieht es sich einfach auf eine andere Art der Kommunikation?

Eine homöopathische Erstanam- nese dauert bis zu anderthalb Stun- den. Die ungeteilte Aufmerksam- keit über 90 Minuten zu genießen – das kann schon ein Impuls zur Selbstheilung sein. Vielleicht ein stärkerer als der durch Globuli und unendliche Potenzierungen, denen man höchstens eine Wirkung nach den Gesetzen der Quantenphysik unterstellen kann.

Es gab vor einiger Zeit eine gro- ße Untersuchung über die äußeren Umstände, die das Verhalten des Patienten, seine Therapietreue, sei- ne Zufriedenheit mit einer Behand- lung beeinflussen, die sogenannten context effects. Neben so merkwür- digen Dingen wie der Form einer Tablette oder der Farbe der Wände in der Praxis oder ähnlicher De- tails, denen man eine derartige Wir- kung nicht unbedingt zugetraut hät- te, zählte vor allem die Art und Weise, wie der Arzt mit dem Kran- ken umging. Seine Stimme, seine Aufmerksamkeit, sein Interesse an der Person des Patienten haben di- rekte Auswirkungen auf den Hei- lungserfolg.

Von diesen kommunikativen Tu- genden lernen angehende Ärzte auch heute noch viel zu wenig im Studium. Sie erfahren zu wenig von der grundsätzlichen Kunst des Um- gangs mit Patienten und schon gar nichts von den speziellen Techni-

Die Stimme, die Aufmerksamkeit, das Interesse des Arztes an der Person haben direkte Auswirkungen auf den Heilungserfolg.

Foto: Mauritius

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9. Januar 2012 ken, die man braucht, um Situatio-

nen zu meistern, in denen es um Le- ben und Tod geht. „Der Patient kann, obwohl er weiß, dass sein Zu- stand gefährlich ist, seine Gesund- heit einfach dadurch wiedererlan- gen, dass er mit der Güte seines Arztes zufrieden ist.“ Dieser Satz ist wahrscheinlich 2 400 Jahre alt und soll vom großen Hippokrates stammen.

Durch alle Jahrhunderte hin- durch galt die Beziehung der Ärzte, der Medizinmänner, der Schama- nen zu ihren Patienten als geheim- nis- und bedeutungsvoll, eben weil sie anders geartet war – und immer noch ist – als die üblichen mensch- lichen Beziehungen.

Der Schriftsteller John Berger hat das in seinem sehr berührenden Buch „Geschichte eines Landarz- tes“ beschrieben. Er reflektiert dar - in unter anderem die Tatsache, dass wir als Kranke einem Fremden Zu- gang gestatten zu unserem Körper und zu unserer Seele:

„Wir gewähren dem Arzt Zugang zu unserem Körper, wie wir ihn sonst freiwillig nur dem oder der Geliebten gewähren . . . Dabei ist der Arzt ein vergleichsweise Unbe- kannter. (Aber:) Im Verlauf einer Krankheit sind viele soziale Verbin- dungen unterbrochen. Krankheit erzeugt und fördert beim Kranken ein verzerrtes, fragmentiertes Bild seiner selbst. Mit Hilfe der Ver- trautheit mit dem Kranken und der besonderen Nähe, die ihm zugebil- ligt wird, muss der Arzt diese ge- störten Beziehungen des Kranken ausgleichen und den sozialen Bezug des beschädigten Selbst wiederher- stellen.“

Vor diesem Hintergrund sollten wir uns fragen, ob wir wirklich ei- ne „menschliche Medizin“ brau- chen, oder ob es nicht genügen würde, wieder zu einer ganz nor- malen Medizin zu finden, die es uns gestattet, einerseits gemäß dem State of the Art zu handeln, die an- dererseits aber auch den Raum gibt, zuzuhören, zu fragen und zu beraten – so wie wir es gelernt ha- ben, als wir uns für diesen großarti- gen, den besten aller Berufe ent-

schieden haben.

Dr. med. Marianne Koch

BEWERTUNG VON KOMPLEXEN INTERVENTIONEN

Eine methodische Herausforderung

Komplexe Interventionen bestehen aus mehreren inter- dependenten Komponenten, von deren Zusammenspiel der Erfolg einer solchen Intervention abhängt.*

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iele medizinische Maßnah- men sind komplexe Interven- tionen. Sie bestehen aus mehreren Einzelkomponenten, die sich wech- selseitig bedingen. Beispiele dafür sind Stroke Units oder Disease-Ma- nagement-Programme. Bei der Be- urteilung ihrer Wirksamkeit, des Nutzens und Schadens bleiben der Beitrag der Einzelkomponenten und der Einfluss ihrer Interaktionen mit dem Setting auf das Gesamter- gebnis häufig unklar.

Ein Arzneimittel kann als „ein- zeln wirkende Komponente“ be- zeichnet werden. Mit der Zulassung durch die Arzneimittelbehörde sind die Entwicklungs- und Prüfphasen I–III abgeschlossen, das Arzneimit- tel liegt dann in standardisierter Form vor. Allerdings sind auch bei einer Arzneimittelbehandlung die klinischen Effekte von verschiede- nen Variablen abhängig, wie Dosie- rung und Dauer der Behandlung, Patientenpopulation, Begleitthera- pien und Adhärenz. Zudem kann auch in qualitativ hochwertigen randomisiert-kontrollierten Studien

(RCT) die Wirksamkeit eines Arz- neimittels von weiteren Begleitfak- toren abhängen. So können beispiels- weise medikamentenspezifische Be- schwerden eine Intensivierung von Diagnostik und Versorgung indu- zieren. Auch die Effektstärke des Placebos oder der Standardtherapie in der Vergleichsgruppe beeinflus- sen das Ergebnis.

Berücksichtigung verschiedenster Faktoren Komplexe Interventionen bestehen aus mehreren interdependenten Komponenten. Ein Beispiel sind strukturierte Behandlungs- und Schulungsprogramme zur Insulin- therapie von Patienten mit Diabetes Typ 1 (1). Auch hier gibt es arznei- mittelspezifische Aspekte wie die Pharmakokinetik des Insulinpräpa- rats. Andere Faktoren sind jedoch von vergleichsweise größerer Be- deutung. Da die Insuline von den Patienten selbst appliziert und do- siert werden, wird die Wirksamkeit und Sicherheit der Insulinbehand- lung entscheidend von den Mög-

*Der vorliegende Arti- kel ist ein modifizierter

Auszug aus einer Publikation, die in der Z. Evid. Fortbild. Qual.

Gesundh. wesen (ZEFQ) 105 (2011) 751–61 erschienen ist. Es wird auf das ausführliche Quellen- verzeichnis des Origi- nalartikels verwiesen.

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