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Ein alter Fehler in der Überlieferung der
Bhagavad^tä.
Von J. S. Speyer.
Bekanntlich sind wenige Partien des Mahäbhärata in so reiner
Textgestaltung überliefert wie die Gitä. Die hohe Ehrfurcht und
heilige Bewunderung, welche sie den heutigen Indern einflösst, ist
ihr schon von alters her gezollt; ausführliche Kommentare erklären
fast jedes Wort, vgl. Trimbak Telang in der vorzüglichen .Intro¬
duction' (p. 30 fgg.) zu seiner Prosa-Übersetzung (S.B.E., vol. VIII).
So giebt es fast keine varietas lectionis. Darum könnte es leicht
als hyperkritische Unart und zu missbilligende Vermessenheit er¬
scheinen , wenn ich es unternehme , irgendwo an die so vielfach
bezeugte und so gut geschützte Überlieferung zu rütteln. Doch
wage ich es auf diese Gefahr hin eine Vermutung vorzubringen,
welche sich mir als unumgänglich erwies. Die Sache liegt einmal
nicht anders.
Nachdem am Schluss des ersten adhyäya Arjuna in grösster
Aufregung und mit vielen Worten seinen Widerwillen gegen den
Bruderkrieg geäussert und seinen Entschluss mitgeteilt hat , nicht
zu kämpfen , wenn auch die Widersacher angriffen , fragt Krsna
ihn verwundert nach der Ursache dieses unerwarteten Verhaltens
{Bhagavadg. 2, 2. 3). Arjuna antwortet, er könne sich nicht dazu
bequemen, seine verehrungswürdigen Lehrer und Älteren mit Pfeilen
zu bekriegen ; besser wäre es ihm zu betteln ohne ihnen mit den
Waffen entgenzutreten als selbst im gerechten Kampfe sie zu be¬
siegen und der Herrschaft zu geniessen. Krsna möge es ihm klar
machen, wie er im Siegesfalle von Schmerz und Reue frei bleiben
möge. Und er schliesst nochmals mit den Worten: ,ich werde
nicht fechten'.
Jetzt hebt Kfsna zu reden an. In dreiundvierzig Slokas sucht
er zweierlei Wahn seines Freundes zu vernichten. Nllakantha zu
der Stelle 2,11: Arjunasya dehanääe atmanädadhih svadharme
yuddhe cädharmadhlr iti mohadvayam \ taträdyam [nl. dehanäia
ätmanüdadhlK] brahmavidyäsütrabhütair viinäatyä älokair apani-
nlsan Sribhagavän uväca: aJocyän anvaäocas tvam iti (2,11—30).
Mit 2, 31 fängt die Bestreitung des zweiten Irrtums an, dass A.
in der Erfüllung seiner Pflicht zu kämpfen Sünde sieht.
Sehen wir uns jetzt den ersten sloka dieser längeren Aus-
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einandersetzung des Mensch - Gottes einmal näher an. Er ist
folgenderweise überliefert :
^nfl'^T'nsnfr^'f^ n^'RT^t^ »rra^ i
«mi^ii'Mi^^ Tnyöt^f'fT ^rfij^frr: u
in Telang's Übersetzung: „You have grieved for those who deserve
no grief; and you talk words of wisdom. Learned men grieve not
for the living nor the dead'. Die Übersetzung ist richtig, aber
wie steht es um das Verständnis der Stelle? Krsna tadelt seines
Freundes ungerechtfertigten Schmerz und Bestürzung, und zugleich
lobt er seine Weisheit. Welche Weisheit ? Weder im ersten
längeren Ausbruch des Schmerzes , noch in der zweiten oben in¬
haltlich mitgeteilten Rede, hatte Arjuna etwas gesagt, was vom
Standpunkte des Krsna in dieser Weise gelobt werden könnte. Seine
ganze Auffassung der Sachlage lag doch auf dem Niveau der ge¬
meinen , alltäglichen Moral , und Krsna schickt sich eben an , ihm
die tiefere Wahrheit zu enthüllen und das Trügliche seiner nur auf
dem oberflächlichen Schein und auf Unwissenheit beruhenden Scheu
darzuthun. Wo steckt hier dann die Weisheit? Nilakantha')
sucht sie in Arjuna's Erwähnung des Satzes, dass Menschen, weicbe
ihre Pflicht versäumen , gewiss in die Hölle kommen (1, 44), und
dass die Unterlassung der rituellen Leichenopfer den Untergang der
Pitaras herbeiführt (1, 42). Abgesehen davon, dass dieses sich auf
eine gelegentliche Auslassung Arjuna's , welche wieder selbst nur
ein Unterteil eines Argumentes ist, mit nichten aber auf den Kern
seiner Ansicht bezieht, wird doch auch wahrlich nicbt solcher
Jedermannsweisheit in der indischen Philosophie mit dem Ehren¬
namen prcy'nä gebuldigt! Unser Kommentator selbst muss es ge¬
fühlt haben, dass hier etwas mangelt. Er legt aus: projnävädärt
prajnävatäm delmd anyam ätmänam Jänatäm vädän dabdän fund
er citiert 1, 42 und 44] üy ädtn bhäsase param na tu pra-
jnävän asi, „du sprichst weise Reden, aber du bist nicht
weise". Die gesperrt gedruckte Klausel, welche in der That die
Meinung des Kfsna ausdrückt, steht nicht im Texte, der Kommentar
hat sie, als für die Erklärung unentbehrliches Bindeglied, aus freien Stücken hineingelegt.
Hierzu kommt noch ein philologisches Hindernis, welches aller¬
dings die theologisch - dogmatische Exegese der einheimischen Er¬
klärer nicht hoch anschlagen möchte. Jedoch, es ist da, und wenn
richtig erkannt, ein bedeutender Faktor des Zweifels an die Richtig¬
keit der Vulgata. Ich bezweiflle sehr, ob ein Kompositum wie
1) Weder Saiikara's noch Sridharasv&min's Kommentar habe ich jetzt zur Hand. Aus Telang's Stillschweigen über sie an der Stelle, wo er au»
Nilakantha's Erklärung das Nötige zur Begründung seiner Übersetzung ent¬
nimmt, ziehe ich die Folgerung, dass ihre Auslegung von der des späteren N.
sich nicht wesentlich unterscheidet.
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prajnäväda „Worte der Weisheit« = weise Worte, weise Rede,
überhaupt im Sanskrit bestehen kann. Wohl kann man sagen
präjhavädah = präjnänäin, (oder präjnasya) vädah, aber pra-
jnäyä vädah würde nur zulässig sein, wenn die prajfiä als Person
gedacht wäre. Allein eine Auslegung wie Xöyoi trjg Sorpiag „von
Prajnä gesprochene Worte" ist an unsrer Stelle ausgeschlossen. Die
Erklärung prajhävädah = prajhäoatärti vädah ist, rein philo¬
logisch betrachtet, misslich und unhaltbar. Sie entspricht der
Sprache der Bibel und dem Lateinischen — verba sapientiae =
verba sapientis oder sapientium — vielmehr als dem Sanskrit, wo
der Gebrauch des abstrakten Begriffes zur Bezeichnung der Träger
des Begriffes in dieser Ausdehnung unbekannt ist. Die einheimische
Auslegung, anstatt die Schwierigkeiten der Überlieferung aus dem
Wege zu räumen, macht sie eben recht fühlbar.
Um kurz zu sein, fflfT ist verdorben. Die wahre Lesung
ist flSTT. Die Emendation, welcher paläographisch nichts im Wege
steht — wie oft wird z. B. in den Handschriften nicht TTTTT mit
T"W verwechselt und umgekehrt? — ist durch den Sinn geboten.
Wenn man liest:
^nft^i*i«(uH^^ nsrTTT^t'a »Tr^% i
»rfiTffsiarmf;^ TT^^^sfi ^fi^TTT: ii
bekommt man nicht allein den angemessenen Ausdruck für das der
Situation entsprechende Urteil des Kfsna über Arjuna's Verhalten,
sondern auch zugleich den richtigen Anknüpfungspunkt für seine
Auseinandersetzung des von ihm enthüllten wahren Sachverhalts.
«Du trauertest«, sagt er, „um die, welche nicht zu betrauern sind,
und du sprichst wie die Leute reden. Die Weisen trauern
nicht um Tote noch um Lebende". So kommt der Gegensatz
zwischen prajä „das Volk, die Menge, Jedermann« und den pandi¬
täh „die Weisen« , zu seinem Rechte und wird die durch einen
sehr alten Fehler unkenntlich gewordene Komposition dieses Teiles
des erhabenen Poems ganz klar. Dass prajä, obgleich es für
gewöhnlich fast aussehliesslich im Gegensatz zum Könige angewandt
wird um „die Regierten, die Unterthanen" zu bezeichnen, auch
ohne Hervorhebung dieses Verhältnisses „den grossen Haufen, die
Leute, das Volk« bedeuten kann, ist bekannt. In Amara's Wörter¬
buch werden für prajä die Bedeutungen 'samtatau und 'jane'
angegeben. In Varähamihiras Brhatsamhitä 5, 98 stehen sich vijjräh
und jjrajä gegenüber , wie hier prajä und panditäh. In Kysnas
Rede hat prajä etwa die Bedeutung von prthagjana, gr. iSidvrjg,
und die Wahl des Wortes zeigt hier eine Peinheit der Auffassung
des begabten Verfassers der Gitä. Er wird wohl dieses prajä dem
Kfsna in den Mund gelegt haben, um, wo er den Freund tadeln
musste , sich ihm gegenüber möglichst schonend zu äussern ; wie
leicht hätte er bäla-, ajna-, mürkha-vädän bhäsase sagen können.
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Zur englischen Übersetzung des Kämasütra.
Von Hermann Oldenberg.
Über die Entstehung der anonym 1883 zu Benares erschienenen
englischen Übersetzung des Kämasütra habe ich auf die Autorität
Bühler's hin in der Deutschen Litt. Z. 1898 Sp. 454, vgl. auch
ZDMG. 54, 612, einige Angaben gemacht, an welche jetzt Herr
Dr. R. Schmidt (Beiträge zur ind. Erotik S. 19 ff.) einen zugleich
auf meine Besprechung seiner Übersetzung eben jenes Werks
(Deutsche Litt. Z. 1898 Sp. 223 f) sich erstreckenden Angriff knüpft.
So weit derselbe mich betrifft, möchte ich mich darüber möglichst
kurz fassen '). Aber Herr Schmidt legt Bühler einen Irrtum zur
Last: da ich es bin, dem der Hingegangene einst durch die be-
1) Herr Schmidt ist ungemein ungehalten über die Weise , wie ich in jener Recension das englische KSmasütra erwähnt hab^. „Warum hat O. nicht erst selbst das Buch eingesehen, bevor er darüber urteilte?" ,,0. hätte zunächst die englische Übersetzung mit dem Sanskritoriginale Wort für Wort vergleichen müssen, ehe er sie loben konnte." Klingt das nicht beinah, als hätte ich, ohne jenes Buch zu kennen , mir den fälschlichen Anschein gegeben es geprüft zu
haben? In der That habe ich wörtlich Folgendes gesagt: „Auch die anonyme englische Übersetzung, die übrigens von Shankar Pandit herrührt, hat Schmidt
— leider muss ich freilich hinzufügen, auch mir — nicht vorgelegen. Der Name des Übersetzers lässt vermuten, dass sie ihn vor manchem Missgriff be¬
wahrt hätte." Offenbar liegt es ausserhalb des Gesichtskreises von Herm Schm., dass es zwei verschiedene Dinge sind, ob man ein Buch lobt oder ob man, ira Hinblick auf seinen achtungswerten Verfasser, die Vermutung äussert, dass es ein gewisses Lob verdiene. Und zu der Vermutung, dass Herr Schm.
von einem Mann wie Shankar Pandit etwas hätte lernen können — will er zu dieser Vermutung mir etwa das Recht bestreiten?
In Bezug auf Sh. P. hatte ich mich nun freilich geirrt. Bühlor überzeugte mich davon , dass jene Übersetzung dem Wesen der Sache nach (der Sinu dieser Restriction ergiebt sich aus dem im Text Gesagten) vielmehr auf Bhag- vanlSl zurückgeht. Ich berichtigte alsbald an der oben angegebenen Stelle meinen Irrtum. Leider habe ich es auch damit Herrn Schm. sehr wenig recht gemacht. Denn — ich habe es bei dieser Gelegenheit versäumt „wenigstens den Vorwurf zurückzunehmen, den er [d. h. ich] auf Grund seines Irrtums dem kritisierten homo novus gemacht hat!" Mit andern Worten: Herr Schmidt be¬
ansprucht, dass ich in dem Augenblick, wo statt Shankar Pandit auf dem Schau¬
platz Bhagvänläl erscheint, mich hätte beeilen mUssen zu erklären, dass nun¬
mehr der Gedanke, jenes Buch sei für Berrn Schmidt vielleicht nicht überflüssig gewesen, ausgeschlossen ist!
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