Zur Fortbildung Aktuelle Medizin KONGRESS-BERICHT
Einleitung
Die Themen der genannten Kon- gresse in Montreal reichten vom Ge- samtgebiet der Hämatologie und der Übertragung von Blutderivaten bis weit hinein in den Bereich der Immu- nologie, der Onkologie sowie der Wechselbeziehungen zwischen Ge- fäßinhalt und Gefäßwand. Vier The- men sind beispielhaft herausgegrif- fen, in denen das für die Praxis be- sonders Wesentliche hervorgeho- ben wird. GR
Behandlung der akuten Leukämie Die Rate kompletter Remissionen bei akuten Leukämien von Erwach- senen liegt in hämatologisch-onko- logischen Zentren heute weltweit bei 60 bis 80 Prozent. Zwischen den verschiedenen Subtypen akuter myeloischer Leukämien bestehen offensichtlich keine wesentlichen Unterschiede in bezug auf das An- sprechen auf die Therapie. Bei Pa- tienten mit vorausgegangener prä- leukämischer Phase oder mit Leuk- ämien im Anschluß an eine Chemo- und/oder Radiotherapie wegen eines anderen Neoplasmas ist die Erfolgs- chance dagegen wesentlich gerin- ger. Die für die Remissionsinduktion bei akuten myeloischen Leukämien am häufigsten verwandten Medika- mente sind Anthrazykline in Kombi- nation mit Cytosin-Arabinosid. Die Intensität der Remissionsinduk- tionstherapie scheint mit der Höhe der Remissionsrate zu korrelieren, d. h. je aggressiver die Erstbehand- lung, desto höher ist die Remis-
sionsrate. Zum Zeitpunkt der Dia- gnosestellung sind in der Regel eini- ge Trillionen leukämischer Zellen vorhanden. Durch die Chemothera- pie ist es möglich, 99 bis 99,9 Pro- zent der Leukämiezellen zu zerstö- ren. Es ist jedoch extrem schwierig, die verbleibende Billion leukämi- scher Zellen durch eine noch so in- tensive Konsolidisierungstherapie zu vernichten. Die Folge ist, daß trotz der guten Ergebnisse auf dem Gebiet der Remissionsinduktion das Problem der Remissionserhaltung nicht gelöst ist. Die Zahl der Patien- ten, die bei konventioneller Therapie nach einem Jahr noch in Remission sind, ist verhältnismäßig gering.
Die Zahl der Langzeitüberlebenden (mehr als 5 Jahre) beträgt etwa 10 bis 15 Prozent.
In mehreren hämatologisch-onkolo- gischen Zentren der Welt wird bei Patienten mit akuter myeloischer Leukämie im Stadium der Vollremis- sion eine Knochenmarktransplanta- tion durchgeführt. Im Krankengut von Seattle leben 12 von 19 trans- plantierten Patienten in einer jetzt zwei bis vier Jahre anhaltenden Re- mission. Von den insgesamt 48 Pa- tienten, die in Seattle transplantiert wurden, befinden sich 31 in Remis- sion. Nur ein Patient ist an einem Leukämierezidiv verstorben, die üb- rigen verstarben an den durch die Transplantation bedingten Kompli- kationen. Die Knochenmarktrans- plantation könnte in Zukunft bei Pa- tienten mit günstigen Voraussetzun- gen für eine Transplantation eine er- folgversprechende Maßnahme zur Remissionsverlängerung sein.
Behandlung der chronischen myeloischen Leukämie
Die Fortschritte bei der Therapie der chronischen myeloischen Leukämie sind vergleichsweise bescheiden.
Die Überlebenszeit der Patienten konnte in den letzten 25 Jahren nicht entscheidend verbessert wer- den und liegt — mit breiter Streuung
— im Mittel bei etwa 40 Monaten. Die gegenwärtigen Trends in der Thera- pie können wie folgt zusammenge- faßt werden:
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Hinausschieben der therapiere- fraktären KrankheitsphaseO Intensive Behandlung und Sup- pression der ersten Symptome, die auf die therapierefraktäre Krank- heitsphase hinweisen
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Verbesserung der Therapie der refraktären Krankheitsphase. An- satzpunkte sind entweder eine effek- tivere Chemotherapie oder eine au- tologe Stammzelltransfusion, das heißt Stammzellen des Patienten, die während der chronischen Krank- heitsphase kryopräserviert wurden, werden nach intensiver Chemo- und Strahlentherapie während der re- fraktären Phase dem Patienten zu- rückgegeben.Eine Heilung der Erkrankung durch die Chemotherapie ist gegenwärtig nicht in Sicht.
Erfolgversprechend hat sich auch bei diesen Patienten die Knochen- marktransplantation erwiesen: Bei drei Patienten mit identischem Zwil- lingspartner konnten 37 bis 46 Mo- nate anhaltende Remissionen mit ei- ner Ph l -negativen Zellpopulation er- zielt werden. Erfahrung über alloge- ne Knochenmarktransplantationen bei Patienten in der chronischen Krankheitsphase der chronischen myeloischen Leukämie liegen ge- genwärtig noch nicht vor. Dieses Konzept dürfte aber in absehbarer Zeit aufgegriffen werden, wenn die Therapieerfolge bei transplantierten Zwillingen mit chronischer myeloi- scher Leukämie genügend lange an- halten.
Probleme der Hämatologie
Bericht über den 18. Internationalen Kongreß für Hämatologie und den 16. Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Bluttransfusion in Montreal, Kanada
Rudolf Gross, Klaus-Peter Hellriegel, Hans Oerkermann, Hans Reuter und H. E. Wichmann
826 Heft 17 vom 23. April 1981 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Hämatologie
Behandlung der Lymphogranulomatose
Im Frühstadium der Erkrankung (Stadien la, lb, Ila, Ilb und lila) emp- fiehlt sich die alleinige Bestrahlung.
Mit dieser Behandlung erreicht man Krankheitsfreiheit über 5 Jahre in 90 Prozent der Fälle in den Stadien la, und Ila, in 80 Prozent der Fälle in den Stadien lb und Ilb und in etwa 60 Prozent der Fälle im Stadium Illa. Im Falle des Rezidivs nach alleiniger Bestrahlung reagieren dann immer noch 50 Prozent der Patienten auf eine Chemotherapie mit Vollremis- sion und verlängerter krankheitsfrei- er Lebenserwartung. Eine Kombina- tion von Chemotherapie und Be- strahlung ist im Stadium III mit gro- ßen Mediastinaltumoren und ausge- prägter Milzbeteiligung indiziert, da hier bei alleiniger Anwendung der einen oder anderen Behandlungs- weise die Rezidivrate höher als 50 Prozent ist.
Die Chemotherapie der Lymphogra- nulomatose — und hier besonders die Behandlung mit Alkylantien und Procarbazin — wirkt in hohem Maße leukämieinduzierend, was durch zu- sätzliche Strahlenbehandlung noch gesteigert wird: 4 bis 5 Prozent der Fälle erkranken im Verlauf von 10 Jahren nach Therapiebeginn an Leukosen. Auch treten Non-Hodg- kin-Lymphome vermehrt in Erschei- nung. Eine Überbehandlung („over- treatment") sollte aus diesen Grün- den vermieden werden.
Bei der immer günstiger werdenden Prognose der Lymphogranulomato- se sollte das Problem der Fertilitäts- störung beim Manne besondere Be- achtung finden, sowohl im Hinblick auf die Aufklärung der Kranken als auch auf die Anwendung einer adju- vanten Chemotherapie, die entspre- chend kritisch gehandhabt werden sollte.
Im fortgeschrittenen Stadium der Lymphogranulomatose (Stadien 111b, IVa, IVb) dominiert die Chemothera- pie. Hier hat sich vor allem das Kom- binationsschema MOPP (Mustard, Oncovin, Procarbacin, Prednisolon) nach De Vita bewährt, das bisher
von keinem anderen Schema über- troffen wurde. Ähnlich gute An- sprechraten wie mit dem MOPP- Schema sind mit dem ABVD-Sche- ma nach Bonadonna erreicht wor- den; allerdings ist hier noch keine Vergleichsmöglichkeit der Remis- sionsdauer gegeben. Das ABVD- Schema (Adriamycin, Bleomycin, Vinblastin, DTJC) stellt auch eine wesentliche Alternative bei Nicht- Ansprechen auf das De-Vita-Schema (MOPP) dar, da hier keine Kreuzresi- stenz besteht. Gute Resultate wur- den auch von der alternierenden An- wendung des MOPP- und des ABVD- Schemas mitgeteilt in Fällen von ausbestrahlter Lymphogranuloma- tose mit Rezidiv oder IVb-Stadien.
Als Therapieempfehlung im Falle der fortgeschrittenen Lymphogranu- lomatose gilt, bei Anwendung des MOPP-Schemas zunächst nur sechs Behandlungszyklen durchzuführen.
Bei kompletter Remission keine wei- tere Therapie besonders wegen der Neben- und Folgewirkungen (siehe nebenstehend). Bei Rezidiv spre- chen dann noch 77 Prozent erneut auf das MOPP-Schema an, während weitgehende Resistenz besteht, wenn anfangs schon mit 12 oder 15 Zyklen behandelt wurde.
Thrombozyten —
Biochemie, Struktur und Funktion In den letzten Jahren hat die intensi- ve Erforschung von Biochemie, Struktur und Funktion menschlicher Blutplättchen zu einer Reihe von Er- gebnissen geführt, die insbesondere für das Verständnis der Rolle die- ser Blutzellen in der Pathogenese thromboembolischer Erkrankungen von Bedeutung sind. Hier sind vor allem die Aufklärung des Prosta- glandinstoffwechsels und die Identi- fizierung von Glykoproteinen der Plättchenmembran mit spezifischer Rezeptorfunktion zu nennen. Zu ei- nem besseren Verständnis der Wechselwirkung zwischen Blutplätt- chen und Gefäßendothel führte die Entdeckung des in den Endothelzel- len arterieller Gefäße gebildeten Prostacyclins. Seit die Bedeutung der Blutplättchen im Thrombosege- schehen erkannt wurde, sind zahl-
reiche Plättchenfunktionstests ent- wickelt worden, um Hinweise auf ei- ne gesteigerte Aktivität der Plätt- chen nachzuweisen. Leider entspre- chen die erhobenen Befunde in den meisten Fällen nicht dem klinischen Bild, so daß die Suche nach besse- ren Testmethoden weitergeht und zu immer neuen Variationen führt.
Aus der Fülle der entwickelten Test- methoden kommt wohl solchen die größte Bedeutung zu, bei denen die Plättchenfunktion unter möglichst physiologischen Bedingungen gete- stet wird. Die Beurteilung der Wir- kung von Acetylsalicylsäure auf die durch Collagen induzierte Aggrega- tion zeigt beispielhaft, daß der Nach- weis der Wirkung je nach der Menge des zur Aggregationsauslösung ver- wendeten Collagens positiv oder ne- gativ ausfällt. An diesem Beispiel wird deutlich, daß In-vitro-Tests nur bedingt Aussagen über die In-vivo- Verhältnisse erlauben.
Während die Aktivierung von Plätt- chen durch chemische und physika- lische Reize für die Entstehung von Thrombose und Atherosklerose eine wichtige Rolle spielt, führen De- fekte der Plättchenfunktion bei einer Reihe von Erkrankungen zur Mani- festation von Blutungen. Hier sind in erster Linie die myeloproliferativen Erkrankungen zu nennen. Eine wei- tere Gruppe von Erkrankungen mit hämorrhagischer Diathese, die Ge- genstand intensiver Forschung sind, sind die Thrombozytopathien. Hier konnte in neuerer Zeit der Nachweis spezifischer Membran-Glykoprotein- Defekte als Ursache für die defekte Plättchenfunktion erbracht werden.
Auf dem Gebiet der Anwendung von Plättchen funktionshemmern zur Prophylaxe und Therapie des Herz- infarkts und anderer thromboembo- lischer Erkrankungen bestehen zur Zeit keine einheitlichen Empfehlun- gen. Die sehr unterschiedlichen Er- gebnisse klinischer Studien legen eine allgemeine Anwendung dieser verschiedenen Arzneimittelgruppen angehörigen Substanzen zur Zeit nicht nahe. Auf Grund der neueren Erkenntnisse zur Biochemie der Blutplättchen ist man weltweit auf der Suche nach neuen antithrombo- tisch wirksamen Substanzen.
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 17 vom 23. April 1981 827
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Hämatologie
Mathematische Modelle in der Hämatologie
Schon seit einiger Zeit beschäftigen sich Biomathematiker intensiver mit Regulationsmodellen für die Blutbil- dung. Hierfür gibt es zwei Gründe.
Zum einen gibt es in der Hämatolo- gie einige einfach strukturierte Re- gelsysteme (Erythrozytopoese, Thrombozytopoese, Granulozyto- poese), die auf Störungen des Gleichgewichtszustandes recht empfindlich reagieren. Zum anderen können die meisten wichtigen Kom- ponenten dieser Regelkreise, das sind vor allem die Zellzahlen im Kno- chenmark und im Blut sowie die Hormone (wie zum Beispiel Erythro- poetin), welche die Bedarfsmeldung weitergeben, relativ genau gemes- sen werden.
Mathematische Modelle dieser Sy- steme werden meist in Form von (stochastischen oder deterministi- schen) Differentialgleichungen for- muliert. Die Überprüfung der biolo- gischen Annahmen, die in einem solchen Modell stecken (zum Bei- spiel der quantitative Zusammen- hang zwischen der Zahl der Zelltei- lungen der Erythroblasten im Kno- chenmark und dem Erythropoetin- spiegel) erfolgt indirekt: So wird die Reaktion des Systems auf unter- schiedliche StreBsituationen (zum Beispiel Blutungsanämie, Hyper- transfusion oder Bestrahlung im Versuchstier) im Modell simuliert und mit entsprechenden Messungen verglichen.
Durch diesen indirekten Vergleich ist es möglich, Zusammenhänge zu quantifizieren, die der direkten Mes- sung nicht zugänglich sind.
Während anfangs derartige Modelle allenfalls in der Lage waren, die ge- nerellen Verhaltensweisen der rea- len hämatologischen Regelkreise zu erfassen, sind sie heute wesentlich leistungsfähiger geworden.
So wurden in Montreal mathemati- sche Modelle zur Stammzellregula- tion, zur Thrombozytapoase und zur Erythrozytapoase vorgestellt, die sich bei der quantitativen Analyse
von Experimenten bereits bewährt haben. Darüber hinaus sind sie in der Lage, bei der Planung neuer Ex- perimente Vorhersagen zu machen und dadurch sowohl die Fragestel- lung zu präzisieren als auch die Ver- suchsdurchführung zu optimieren.
Desgleichen ergeben sich erste An- sätze zur Optimierung von Therapie- plänen bei einigen hämatologischen Erkrankungen.
Insgesamt entwickelt sich hier ein neues interdisziplinäres Arbeitsge- biet, das schon jetzt in der medizini- schen Grundlagenforschung einen festen Stellenwert hat.
Wieweit es einmal eine wichtigere Rolle in Klinik und Praxis spielen wird, bleibt noch abzuwarten.
Professor Dr. med. Rudolf Gross Privatdozent Dr. med.
Klaus-Peter Hellriegel Privatdozent Dr. med.
Hans Oerkermann
Professor Dr. phil. Hans Reuter Dr. rer. nat. H. E. Wichmann Medizinische Universitätsklinik Köln Joseph-Stelzmann-Straße 9
5000 Köln 41
NOTIZ
Cosaldon A + E Dragees- Aufbewahrungs- und Verwendbarkeilshinweis
Seit Mitte Januar 1981 hat die Firma Albert-Roussel Pharma GmbH die Packungen ihrer Arzneispezialität Cosaldon A
+
E Dragees mit einem offen deklarierten Aufbewahrungs- und Verwendbarkeltshinweis verse- hen. Die Firma bittet, alle noch vor- rätigen Ärztemuster-Packungen von Cosaldon A+
E Dragees, welche in der Chargenbezeichnung den Code- buchstaben B beziehungsweise U oder die Chargenbezeichnung C 141 bis C 170 tragen, nicht mehr zu ver- wenden und schadlos zu beseitigen oder an Albert-Roussel Pharma GmbH, Postfach 11 60, 6200 Wiesba- den, zurückzusenden. AR/DÄ 828 Heft 17 vom 23. Apr111981 DEUTSCHES ARZTEBLATTFÜR SIE GELESEN
Tuberkulostatische Behandlung
in der Gravidität
Die tuberkulostatische Therapie in der Gravidität stellt nach wie vor ein Problem dar. Folgende Tuberkulo- statika der ersten Wahl können nach Ansicht der Autoren als relativ sicher angesehen werden:
~ lsoniazid (INH)
~ Ethambutol (EMB)
~ Rifampicin (RMP)
~ Streptomycin (SM)
Unter INH wurden etwas über ein Prozent abnorme Neugeborene ge- sehen, dabei relativ viele Mißbildun- gen, die auf eine ZNS-Toxizität, wie sie von INH bekannt ist, hinweisen.
EMB wird als fast in demselben Maße einsetzbar anerkannt. Dabei kommt es zu einer niedrigen Mißbil·
dungsrate. Die Erfahrungen mit RMP sind nicht so groß, es scheint eine gewisse Neigung zu Mißbildun- gen der Extremitäten zu bestehen.
SM führt aufgrund seiner Ototoxizi- tät während der gesamten Dauer der Gravidität zu Schäden am Nervus statoacusticus. Dies ist die einzige gesicherte teratogene Nebenwir- kung der genannten Tuberkulo- statika.
Die Autoren empfehlen bei nicht zu ausgedehnter tuberkulöser Erkran- kung in der Gravidität eine Zweier- kombination von INH und EMB, bei einer schwereren Erkrankung zu- sätzlich Einsatz von RMP.
SM sollte nur bei Kontraindikation gegen eine der anderen Substanzen eingesetzt werden.
Eine routinemäßige lnterruptio ist bei den betroffenen Graviden aus medizinischen Gründen nicht
indiziert. Sie
Snider. D. E., Jr.; Layde, P. M.; Johnson. M. W.;
Lyle, M. A.: Treatment of Tuberculosis During Pregnancy, American Review of Respiratory Disease 122 (1980) 65-79, Technical Informa- tion Services, Bureau of State Services, Cen- ter for Disease Control, Atlanta, Georgia 30333