DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Hartmannbund-Versammlung
Ein Wunschkatalog
für die angekündigte Strukturreform
Zweite Bundesversammlung des Hartmannbundes revidiert die „Ortsbestimmung" des Verbandes
D
er Hartmannbund — Verband der Ärzte Deutschlands — hat sich auf seiner zweiten Bun- desversammlung, an der mehr als 210 HB-Mandatsträger teilnah- men, für eine weitgehende Ent- staatlichung des Gesundheitswe- sens und eine konzeptionell konsi- stente Gesundheitspolitik ausge- sprochen. In vier Resolutionen for- derte die Versammlung eine rigo- rose Abkehr von der von den Kran- kenkassen propagierten „einnah- menorientierten Ausgabenpoli- tik".Statt die gesetzlich garantierten Leistungsansprüche der Versi- cherten und Beitragszahler zu be- streiten, die Entgelte für rite er- brachte Leistungen weiter zu dek- keln, zu pauschalieren und auf ei- nen überwiegend fiskalisch be- dingten Level herunterzufahren, fordert der Hartmannbund eine
„einnahmenorientierte Leistungs- politik" beziehungsweise eine
„leistungsorientierte Ausgaben- politik" der Krankenkassen. Die Politiker und die Organe der Selbstverwaltungen der Kranken- kassen, die das Füllhorn der Lei- stungen so bereitwillig austeilten und kaum finanziell darstellbare Leistungsansprüche und Erwar- tungshaltungen seitens der Versi- cherten suggerierten, müßten in die Pflicht genommen werden. Sie müßten dafür geradestehen und könnten sich nicht in so durch- sichtige Ausweichmanöver wie die ständige Lastenverschiebung von einem Zweig der sozialen Siche- rung auf den anderen unter Entla- stung der öffentlichen Haushalte flüchten.
Der Vorsitzende des Hartmann- bundes, Professor Dr. Horst Bour- mer, Köln, sagte vor der Versamm- lung in Bonn, auch nach der
„Wende" sähen sich die Ärzte „in den Fesseln der Sozialpolitik" ver- strickt. Die erheblichen finanziel- len Vorleistungen der Ärzteschaft und anderer Leistungsträger des Gesundheitswesens müßten end- lich auch von politischer Seite an- erkannt werden. Die unselige Ver- quickung von Haushalts-, Renten-,
Wirtschafts- und Arbeitsmarktpoli- tik mit der Sozial- und Gesund- heitspolitik müsse schleunigst ad acta gelegt werden. Die geglieder- te Krankenversicherung, die ge- setzlichen wie privaten Kranken- versicherungen, seien zu schade dafür, als „Lastesel der Nation"
mißbraucht und fremdverursach- ten Lastenausgleichsnotwendig- keiten geopfert zu werden.
Die faire und einfache Wahrheit, die lautere Wahrheit (frei nach Konrad Adenauer), die der HB be- schwor, lautet: Die Zunahme der von den Kassenärzten verursach- ten Ausgaben blieb in den vergan- genen zehn Jahren jeweils unter den Einnahmen der Krankenkas- sen und sogar seit 1970 fast unver- ändert bei 1,64 Prozentpunkten der Beitragssätze — gleichviel, ob sie acht oder mehr als zwölf Pro-
Einen Wunschzettel für die Strukturre- form im Gesundheitswesen formulierte die Bundesversammlung des Hart- mannbundes am 14. Juni in Bonn
zent der Grundlöhne betrugen.
Tatsache ist auch: Wegen der ver- schlechterten Altersstruktur und der demographischen Entwick- lung der Bevölkerung (Alterspyra- mide, weniger erwerbsaktive Bei- tragszahler) hat sich der Solidar- beitrag der Aktivversicherten für die Rentner-Krankenversicherung seit 1970 fast verfünffacht. Den- noch ist der Anteil der Ausgaben für die ambulante ärztliche Versor- gung an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversiche- rung (GKV) von 23 Prozent im Jahr 1970 auf 18,5 Prozent (1985) ge- sunken — dies trotz wachsender Zahl berufstätiger Ärzte und stän- diger Anpassung der Praxen an den medizinischen Fortschritt.
„Opas Praxis" sei ein für allemal passe! Jede künftige Revision der Gebührenordnungen müsse dar- auf ausgerichtet sein, eine ange- messene Vergütung moderner medizinischer Leistungen und ei- ne ausreichende Finanzierung der Geräteinvestitionen zu gewährlei- sten. Ein Abdriften zu akademisch ausgebildeten „Heilpraktikern", zu Alternativmedizinern und zu paramedizinisch geleiteten Selbst- hilfegruppen müsse ebenso ver- mieden werden wie die ambulante Versorgung durch nur „propädeu- tisch vorgebildete Apparatespe- zialisten".
„Arzt im Praktikum" — ein politisches Unikum?
Massive Kritik übte die Versamm- lung jetzt auch am „Arzt im Prakti- kum" (AiP). Der Verband habe die- ser Kompromißlösung mit der Auf- lage zugestimmt, daß die Qualität der ärztlichen Versorgung nach-
Foto. K. Schmidt
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 27 vom 2. Juli 1986 (39) 1941
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haltig gesichert werde. Jetzt zeich- ne sich aber ab, daß weder ausrei- chende Stellen für AiP noch eine ausreichende Bezahlung in Sicht seien. Nun könne man die Ärzte nicht in die Pflicht nehmen, um sich aus diesem Dilemma heraus- zuwinden. Uneingeschränkt plä- diert der HB für eine ausreichende Dauer der AiP-Phase, eine soforti- ge Strukturierung und eine ge- setzlich garantierte Anrechenbar- keit auf Weiterbildungszeiten.
Die übrigen ausbildungs- und wei- terbildungspolitischen Forderun- gen der Versammlung lauten: Än- derung der Kapazitätsverordnung der Länder und Orientierung der Studentenzahlen auch an der Zahl der ärztlichen Hochschullehrer und den verfügbaren Ausbil- dungs- und Lehrkapazitäten vor allem im klinischen Abschnitt des Medizinstudiums; inhaltliche und strukturelle Straffung des Medi- zinstudiums auf maximal fünf Jah- re; Beseitigung der Trennung von vorklinischer und klinischer Aus- bildung; ausreichende Berück- sichtigung der praktischen Ausbil- dung innerhalb des Studiums und eventueller Verzicht auf den AiP;
eine mindestens dreijährige (Pflicht-)Weiterbildung, die auch die Vorbereitungszeit auf die kas- senärztliche Tätigkeit umfaßt; An- passung der obligatorischen Wei- terbildungszeit an den europä- ischen Durchschnitt; uneinge- schränkte Förderung der Allge- meinmedizin als gleichberechtigte und qualifizierte Fachdisziplin;
Verzicht auf die „Hilfslösung" des
„Hausarztmodells", das ein aus- gewogenes Verhältnis von allge- mein- und hausärztlich tätigen Ärzten zu Gebietsärzten anstrebt;
Einführung eines mindestens sechsmonatigen Pflegeprakti- kums als Eingangsvoraussetzung für das Medizinstudium.
Abgelehnt wird vom Hartmann- bund der von der Regierungskoa- lition vorgelegte Gesetzentwurf zur „Verbesserung der kassen- ärztlichen Bedarfsplanung". Der HB befürchtet, daß dadurch nicht die Wirtschaftlichkeit und die Qua-
lität der ärztlichen Versorgung verbessert, vielmehr grundgesetz- lich garantierte Freiheil:en der Be- rufswahl und Berufsausübung be- einträchtigt würden.
Entfrachtung der Krankenversicherung
Der Hartmannbund warnte davor, der Dominanz der Krankenhäuser weiter Vorschub zu leisten. Gera- de hier seien kostentreibende Fehlentwicklungen evident. Viel- mehr sollt-en ambulante und sta- tionäre Versorgung bei der Auf- stellung und dem Einsatz medizi- nischer Großgeräte gleichberech- tigt sein. Die uneingeschränkte Therapiefreiheit beim Einsatz von Arzneimitteln müsse gewährleistet bleiben.
Der Leistungskatalog der gesetzli- chen Krankenversicherung sollte rigoros durchforstet und von sämtlichen Fremdlasten und GKV- fernen Leistungen entfrachtet werden. Allein bei einer Ausgliede- rung oder öffentlichen Refinanzie- rung des Erziehungsgeldes, Mut- terschaftsgeldes, der Leistungen bei Schwangerschaftsabbruch, des Sterbegeldes, des Familienla- stenausgleichs und einer verbes- serten Regelung bei der Rentner- Krankenversicherung könnte ein Volumen von drei Prozentpunkten des Beitragssatzes freigesetzt werden. Bei einem Gesamtausga- benvolumen der Krankenkassen in Höhe von 110 Milliarden DM jähr- lich wären dies 25 bis 30 Milliar- den DM.
Der Hartmannbund setzt sich für eine systematische Verknüpfung von ambulanter und stationärer Versorgung ein. Die persönliche gegenseitige Abstimmung, konsi- liarische Beratung und gemeinsa- me Fortbildung müßten gefördert werden. Das kooperative Beleg- arztwesen sowie Praxiskliniken sollten finanziell und planerisch begünstigt werden. Durch Sozial- stationen und sernistationäre Ein- richtungen könnten fehlgeplante Betten vor allem im Akutbereich
(Pflegefälle!) kostensparend entla- stet werden.
Mehr als bisher müsse auf den Ak- tionsparameter „Praxiskosten"
geachtet werden. Anhand konkre- ter Investitionskosten- und Renta- bilitätsrechnungen verdeutlichte Sanitätsrat Dr. Karl Hans Metzner (Mainz), daß das Arbeiten im Team, in Gemeinschaftspraxen und Praxis-Gemeinschaften für den Arzt Kostenvorteile bietet. Al- lein bei den Investitionskosten sei- en Ersparnisse -je nach Fachrich- tung -zwischen 20 und 40 Prozent zu erzielen. Mehr als bisher sollten rationelle, patientengerechte Pra- xisstrukturen erprobt werden. Ju- nior-Senior-Partnergemeinschaf- ten seien geeignet, die kooperati- ve Arbeit im Team in konsiliari- scher Abstimmung zu verstärken.
Bei der Strukturreform in der Krankenversicherung solle der Kreis der versicherungsberechtig- ten und weiter schutzwürdigen Personen neu abgegrenzt werden.
Der Hartmannbund bejaht eine Pflicht zur Versicherung, aber kei- ne generelle Versicherungspflicht (Modell: Kfz-Haftpflichtversiche- rung). Die Wahlfreiheit des Trä- gers solle eingeführt werden.
Auch die Wiedereinführung einer Versicherungsberechtig ungsg ren- ze ab einer bestimmten Einkom- mensgrenze sei angezeigt, denn es sei nicht einsehbar, daß mehr als 92 Prozent der Bevölkerung zwangsweise oder freiwillig aus- schließlich in RVO- und Ersatzkas- sen rekrutiert seien. Der Hart- mannbund plädiert dafür, die RVO-Kassen ihres Status als Kör- perschaft öffentlichen Rechts zu entkleiden und wie private Vereine (Modell PKV/Ersatzkassen) recht- lich auszuformen. Insofern spricht sich der Hartmannbund auch für verstärkte Modellversuche im Ge- sundheitswesen, für Experimen- tier- und Öffnungsklauseln etwa derart aus, die Krankenversiche- rung der Zukunft in eine Grundsi- cherung und in eine individuell ge- staltbare Zusatzversicherung auf- zuspalten. Dr. Harald Clade 1942 (40) Heft 27 vom 2. Juli 1986 83. Jahrgang Ausgabe A