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Archiv "Seuchengesetzgebung und HIV-Infektion" (29.04.1994)

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THEMEN DER ZEIT

D

as 1981 bei einigen homose- xuellen Männern in den USA als AIDS bezeichnete Krankheitsbild ist Folge ei- ner Infektion mit HIV-1 oder HIV-2.

Heute, also ein gutes Jahrzehnt spä- ter, ist AIDS in bestimmten hetero- sexuellen Populationen fest etabliert, was zur Folge hat, daß infizierte Schwangere ihre Kinder infizieren.

Wird die Zahl der HIV-Infizierten heute weltweit auf fast 15 Millionen geschätzt, ist nach Angaben der WHO im Jahre 2000 bereits mit 40 Millionen zu rechnen. Während in bestimmten Regionen, wie etwa in Äquatorialafrika, Frauen und Män- ner gleich häufig erkranken, sind zum Beispiel in Mitteleuropa ganz überwiegend homo- und bisexuelle Männer an AIDS erkrankt.

Das gilt bis zum heutigen Tage auch für Deutschland (1). So belief sich die Gesamtzahl der dem Bun- desgesundheitsamt (BGA) für den einjährigen Zeitraum von Oktober 1992 bis September 1993 gemeldeten AIDS-Fälle nach Bluttransfusionen und Applikation von Blutprodukten (ohne Hämophile) auf 22 (2,1 Pro- zent) und nach Behandlung von Hä- mophilen auf 26 (2,5 Prozent), wäh- rend sich die korrespondierenden Zahlen für homo- und bisexuelle Männer auf 696 (67,5 Prozent) und für sogenannte „I.v.-Drogenabhängi- ge" auf 142 (13,7 Prozent) beliefen.

Rechnet man zur Zahl der erkrank- ten homo- und bisexuellen Männer noch die AIDS-Infektionen nach he- terosexuellen Kontakten (86 = 8,3 Prozent) hinzu, so ergibt sich, daß 785 (75,8 Prozent) der im genannten Zeitraum dem BGA gemeldeten AIDS-Fälle Folge sexueller Aktivitä- ten sind. Diese Zahl dürfte noch um 2 bis 3 Prozent höher zu veranschla- gen sein, da bei 54 AIDS-Fällen (5,2 Prozent) der Infektionsmodus unklar geblieben war (1).

KOMMENTAR

Die HIV-Infektion ist eine übertrag- bare Erkrankung im Sinne des Bun- desseuchengesetzes (BSeuchG), die in erster Linie sexuell übertragen wird.

Trotz der sehr eindeutigen Vorschrif- ten des §10 des BSeuchG werden diese hinsichtlich der HIV-Infektion nicht angewendet, während beim Nachweis relativ harmloser Enteritis- Erreger umfangreiche protokollierte Umgebungsuntersuchungen die Re- gel sind. Auch das Gesetz zur Be- kämpfung der Geschlechtskrankhei- ten aus dem Jahre 1953, das nach wie vor Gültigkeit hat, kann auf die HIV-Infektion keine Anwendung fin- den, da es sich nur auf die vier bak- teriellen Geschlechtskrankheiten be- zieht und damit völlig antiquiert ist.

Es wird dargelegt, warum die Be- kämpfung der HIV-Infektion im Lich- te des BSeuchG einer grundlegenden Neudiskussion bedarf.

Es wird in Erinnerung gebracht, daß die HIV-Infektion in erster Linie eine sexuell übertragbare Erkran- kung ist. Damit erhebt sich die Frage, ob und inwieweit die einschlägigen Bundesgesetze zur Seuchenbekämp- fung auf die HIV-Infektion Anwen- dung gefunden haben.

Während international heute fast ausschließlich von sexuell über- tragbaren Erkrankungen (STDs, Se-

Institut für Hygiene und Laboratoriumsme- dizin Medizinaluntersuchungsamt (Direk- tor: Prof. Dr. med. Horst Finger), Städtische Krankenanstalten Krefeld

xually Transmitted Diseases) gespro- chen wird, ist es hierzulande noch weitgehend üblich, von Geschlechts- krankheiten zu reden. Selbst in der Einführung zur 1990 erschienenen Ausgabe des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Er- krankungen beim Menschen (2), kurz als Bundesseuchengesetz (BSeuchG) bezeichnet, wird auf die „Ge- schlechtskrankheiten" und das Ge- setz zur Bekämpfung der Ge- schlechtskrankheiten von 1953 ver- wiesen. Nach diesem Gesetz gibt es vier Geschlechtskrankheiten: Syphi- lis, Gonorrhoe, Ulcus molle und Lymphogranulomatosis inguinalis.

Dabei handelt es sich um ein nach wie vor geltendes Gesetz, das den im Sinne des Gesetzes Erkrankten nicht nur verpflichtet, sich ärztlich unter- suchen zu lassen, sondern bei Be- handlungsverweigerung, schon zur Verhütung der Ansteckung anderer, eine Zwangsbehandlung in einem ge- eigneten Krankenhaus vorsieht. Es ist noch kein Jahrzehnt her, als zwei an Syphilis Erkrankte durch richterli- che Anordnung zur Zwangsbehand- lung in die Dermatologische Klinik der Städtischen Krankenanstalten Krefeld eingewiesen worden sind.

Auch werden dem Erkrankten durch Gesetz Sexualkontakte aus- drücklich verboten. Noch in der Ände- rung des Gesetzes vom 25. August 1969 (übrigens unterzeichnet vom Bundespräsidenten Heinemann, dem stellvertretenden Bundeskanzler Brandt und der Bundesministerin für Gesundheit, Strobel) heißt es: „Jeder Fall einer ansteckungsfähigen Er- krankung an einer Geschlechtskrank- heit ist von dem behandelnden Arzt oder sonst hinzugezogenen Arzt un- verzüglich ohne Nennung des Namens und der Anschrift des Erkrankten dem Gesundheitsamt zu melden."

Das Bundesseuchengesetz, ba- sierend auf der Überzeugung, daß

„die Verhütung übertragbarer Er- krankungen noch besser als ihre Be- kämpfung den einzelnen und die All- gemeinheit vor gesundheitlichen und anderen Schäden schützt" (2), enthält in § 10 die Vorschriften zur Verhü- tung übertragbarer Erkrankungen.

Hier heißt es unter Absatz 1 wörtlich:

„Werden Tatsachen festgestellt, die zum Auftreten einer übertragbaren

Seuchengesetzgebung und HIV-Infektion

Horst Finger

A-1208 (36) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 17, 29. April 1994

(2)

THEMEN DER ZEIT

Krankheit führen können, oder ist an- zunehmen, daß solche Tatsachen vor- liegen, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Maßnahmen zur Ab- wendung der dem einzelnen oder der Allgemeinheit hierdurch drohenden Gefahren." Es ist in Absatz 3 festge- legt, daß „Personen, die in Verdacht stehen, an einer übertragbaren Er- krankung zu leiden, verpflichtet sind, sich den erforderlichen Untersuchun- gen zu unterziehen und Röntgenun- tersuchungen, Blutentnahmen, Ab- strich von Haut und Schleimhaut durch die Beschäftigten des Gesund- heitsamtes zu dulden . . .".

Im Rahmen derartiger Ermitt- lungen sind sogar Grundrechte nach dem Grundgesetz (auf körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person, Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit und Unverletzlichkeit der Wohnung) eingeschränkt (§ 10, Absatz 4, BSeuchG). So stellt denn auch das Gesundheitsamt bei Nachweis einer allgemein relativ harmlosen Enteritis infectiosa durch Salmonellen, etwa die Serovare Enteritidis oder Typhi- murium, umfangreiche protokollier- te Umgebungsuntersuchungen an.

Heutzutage werden an einem deut- schen Medizinaluntersuchungsamt während der Sommermonate täglich in bis zu 100 Stuhlproben derartige Salmonellen nachgewiesen.

Vor diesem gesetzlichen Hinter- grund ist die Schätzung der WHO zu sehen und zu werten, daß es jährlich weltweit über 250 Millionen Fälle von STDs gibt, wobei es neben den vier im Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten aus dem Jahre 1953 genannten Bakterienar- ten weitere Erreger gibt, wie vor- nehmlich Chlamydien, Trichomona- den, Herpesviren, Hepatitis-B-Virus, Papilloma-Virus und HIV.

Trotz der Tatsache, daß die HIV-Infektion heute als die am mei- sten gefürchtete sexuell übertragbare Krankheit zu gelten hat, werden die sehr eindeutigen Vorschriften des Bundesseuchengesetzes bewußt nicht angewendet. Es gilt nur die am 1. Januar 1988 in Kraft getretene Verordnung über die Berichtspflicht für positive HIV-Bestätigungstests, die sogenannte Laborverordnung vom 18. Dezember 1987, nach der positive Ergebnisse von HIV-Bestäti-

KOMMENTAR

gungstesten dem zentralen AIDS-In- fektionsregister beim BGA in Form eines anonymen Berichtes zu melden sind. Es sei hier aus der Einführung zur 1990 erschienenen Ausgabe des BSeuchG (2) zitiert: „Nach § 10 ist die zuständige Behörde verpflichtet, die notwendigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu treffen, wenn Tatsachen vorliegen, die zum Auftre- ten übertragbarer Erkrankungen führen können, oder wenn anzuneh- men ist, daß solche Tatsachen vorlie- gen."

Der in freier Praxis oder in der Klinik tätige Arzt darf bekanntlich eine serologische Untersuchung auf HIV-Antikörper nur veranlassen, wenn der in Frage stehende Patient seine ausdrückliche Genehmigung dazu gibt. Damit gilt für die HIV-In- fektion als einer übertragbaren Er- krankung etwas anderes als das, was für die Verhütung und Bekämpfung aller anderen übertragbaren Erkran- hingen nach dem BSeuchG gilt. Was konkret, ist nirgendwo präzisiert.

Somit befinden wir uns in der Si- tuation, daß wir zwar ein in Kraft be- findliches Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten haben (3), das aber, weil es nur vier bakteri- elle Infektionen umfaßt, völlig anti- quiert ist und dementsprechend ei- ner gründlichen Novellierung bedarf.

Die Notwendigkeit und Eilbedürftig- keit wird noch durch die Tatsache unterstrichen, daß von den vier im geltenden Gesetz aufgeführten „Ge- schlechtskrankheiten" wegen der Therapiemöglichkeiten keine nen- nenswerte Gefährdung der Allge- meinheit ausgeht und dementspre- chend die im Gesetz zur Bekämpfung vorgesehenen Zwangsmaßnahmen als ungerechtfertigt und völlig über- zogen erscheinen müssen.

Daneben haben wir ein Bundes- seuchengesetz, das einerseits eindeu- tige Bestimmungen zur Verhütung und Bekämpfung* übertragbarer Er- krankungen enthält, in dem anderer- seits die HIV-Infektion unter den meldepflichtigen Erkrankungen ganz bewußt nicht aufgeführt ist. Es wird diesbezüglich immer wieder argu-

* Unter Bekämpfung einer übertragbaren Er- krankung ist im Sinne des BSeuchG die Ver- hinderung des Ausbreitens aufgetretener Er- krankungen zu verstehen.

mentiert, daß auch das positive Er- gebnis einer einschlägigen serologi- schen Untersuchung therapeutisch keine Konsequenz hätte. Dem ist entgegenzuhalten, daß dann zum Beispiel eine Meldepflicht bei Ver- dacht auf Vorliegen von Tollwut oder Erkrankung an Virusmeningoenze- phalitis auch überflüssig wäre.

Geradezu grotesk ist die offizielle Version, daß hinter dem Verzicht auf eine namentliche Meldung Anti-HIV- positiver Personen die Überzeugung steht: „Die epidemiologische Lage könnte dann nicht mehr zutreffend be- urteilt werden; der Infizierte selbst wäre sich der von ihm ausgehenden Gefahr nicht voll bewußt" (3).

Haben wir denn wirklich verläß- liche epidemiologische Daten über die HIV-Infektion? Und wie soll der Infizierte sich der von ihm ausgehen- den Gefahr bewußt sein, wenn er von seiner Infektion überhaupt nichts weiß? Nicht um die personenbezoge- ne Meldepflicht dreht es sich, son- dern die Frage ist, warum, obwohl die Infektion eine übertragbare Krankheit im Sinne des BSeuchG ist (2), die in § 10 des BSeuchG fixierten allgemeinen Vorschriften zur Verhü- tung übertragbarer Krankheiten bei Verdacht auf eine HIV-Infektion keine Anwendung finden. Diesbe- züglich wird die HIV-Infektion als nicht existent angesehen.

Aus all dem ergibt sich, daß offen- sichtlich ein dringender Diskussions- und danach eventuell für den Gesetz- geber Handlungsbedarf besteht.

Deutsches Ärzteblatt

91 (1994) A-1208-1209 [Heft 17]

Literatur:

1. AIDS-Schnellinformationen: Bundesge- sundheitsblatt 36 (1993) 444-446

2. Bundesseuchengesetz (17. Auflage): Text- ausgabe mit Einführung und Stichwortver- zeichnis von K. Obrikat, Reckinger, Sieg- burg (1990)

3. Dietz, 0.: Einführung. In: Gesundheits- recht, Beck-Texte im dtv 5555 (1988) XI- XIII

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Horst Finger Institut für Hygiene

und Laboratoriumsmedizin Medizinaluntersuchungsamt

Städtische Krankenanstalten Krefeld Lutherplatz 40 • 47805 Krefeld Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 17, 29. April 1994 (37) A-1209

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