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Archiv "Erfahrungsbericht: Der Arzt im Krankenbette" (25.11.2005)

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rüher saß er bei den Visi- ten gern auf dem Bett- rand der Kranken, um ihnen näher zu sein, besser zuhören zu können. So hat er manches Glück, aber auch viel Krankheitsleid und Todeselend erlebt, die- ser Dr. R., der sportliche und immer gesunde, inzwischen pensionierte Chefarzt, der sich nun erstmals selbst mit brennenden Harnblasen- schmerzen nachts in seinem Bette wälzt. Seit Tagen schluckt er ohne vorherige Harnuntersuchung ein An- tibiotikum, was durchaus unvernünftig ist, bis es ihn endlich zu einem befreunde- ten Urologen treibt, der ihn gründlich untersucht. Eine Ursache wird freilich nicht gefunden, die Krankheits- symptome verschwinden. Er scheint geheilt.

Wenige Monate später, an einem Donnerstag, also kurz vor dem Wochenende,

ereilt ihn noch einmal die ganz gleiche Malaise, ihn, der ansonsten niemals an Harnwegsinfekten gelitten hatte. Wie- derum stopft er ein Antibiotikum in sich hinein, doch nun ohne Erfolg. Nächte- lang wird er von anhaltenden bohrenden Unterleibsschmerzen gemartert. Das ist doch kein einfacher Harnwegsinfekt!

Was geschieht hier? Zu Wochenbeginn findet der Urologe mit seinem Ultra- schallgerät zwischen der Harnblase und dem Dickdarm (Sigma) des Dr. R. eine eigroße Geschwulst, die von hinten die Blasenkugel zu einer sichelförmigen Gestalt zusammendrängt. Angrenzende Blasen- und Darmwandanteile erschei- nen aufgelockert und verdickt, in der Dickdarmwand stellen sich die typischen

rundlichen kleinen Aussackungen, also die Strukturen einer Divertikulose, dar.

Ein hinzugezogener Spezialist bestätigt und spezifiziert die Diagnose, die an- schließende, mit einem Kontrastmittel verstärkte Computertomographie zeigt alle Details. Dr. R. ist erleichtert, es ist kein Krebs, sondern eine chronisch wie- derkehrende Divertikulitis mit gedeck- ter Perforation der Darmwand und Mit- befall der Harnblasenwand.

Nach der freundlichen und vollständi- gen Aufklärung durch den Anästhesisten muss er noch ein mehrseitiges Papier un- terschreiben, in dem versichert wird, dass lebensbedrohliche Komplikationen des notwendigen Eingriffs wie Herzstill- stand, Verschluss der Atemwege durch

Erbrochenes, Embolien ins Gehirn, allgemeines Organ- versagen und Zahnverlust sehr selten seien und dass nach der Operation auf Schüttelfrost, Lähmungen und Nackensteife zu achten wäre. Schließlich erklärt er etwas zögerlich und be- klommen schriftlich sein Einverständnis damit, dass gegebenenfalls seine Leiche zur Sektion dem Pathologen zugeführt würde.

Bei der anschließenden Operation werden das chro- nisch-entzündlich veränder- te Gewebe und der Darmab- schnitt mit den alles verursa- chenden Divertikeln ent- fernt. Der Kranke wird auf die operative Intensivstation gebracht.Noch im Dämmern des Erwachens aus der Nar- kose stellt er erleichtert fest, dass kein künstlicher Darm- ausgang gelegt worden war.

Ansonsten wimmelt an sei- nem Körper ein Gewirr von Plastikschläuchen herum: Einer führt aus dem Enddarm ins Freie und zu einem am Bettrand hängenden Beutel und ist im Bereich des Schließmuskels angenäht, so- dass jede unglückliche Bewegung als peinliches Afterziepen spürbar wird. Der Harn entleert sich über einen Katheter, der „suprapubisch“ die Bauchwand durchbricht und ebenfalls hier mit einer Naht fixiert ist und in ein großes Pla- stikbehältnis mündet, das neben dem Stuhlbeutel baumelt.

Am linken Unterbauch wird durch die Bauchwand hindurch über einen weite- ren Schlauch Sekret aus dem Wundge- biet in der Bauchhöhle nach außen gelei- tet. Ein vierter Schlauch, der aus der Haut des rechten Mittelbauchs heraus- T H E M E N D E R Z E I T

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Erfahrungsbericht

Der Arzt im Krankenbette

Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit im Krankenhaus,

„trotz Finanznot und Wirtschaftskrise“

Vor seinem Fenster wurden mehrfach am Tage bis in die Dunkelheit hinein laut scheppernd irgendwelche

metallenen Küchentransportwagen über altes Holperpflaster vorbeigezogen.

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kommt, hat wohl die gleiche Funktion.

An der rechten Halsseite ist ein Schlauchsystem etabliert, das mit vier bis fünf kleinen Anschlusshähnen die ständi- ge Infusion von Antibiotika, Opiaten, an- deren Medikamenten sowie von Flüssig- keit und sämtlichen lebensnotwendigen Nahrungsstoffen in die große Halsvene hinein ermöglicht. Jegliche Zufuhr le- benserhaltender und gesundungsförder- licher Substanzen erfolgt über diesen

„Zentralvenenkatheter“, jegliche Aus- fuhr der Abfallprodukte des Körper- stoffwechsels geschieht durch Pla- stikschläuche, alle wesentlichen Körper- funktionen sind der gewohnten persönli- chen Regie des Dr. R. entzogen. Sein Wachbewusstsein und seine Sinne und die Denkfähigkeit sind durch Opiate um- dämmert und gedämpft, er schläft immer wieder ein, und wenn er die Augen öffnet, sieht er eine große, runde, schwarz-weiße Bahnhofsuhr gegenüber an der kahlen kalkweißen Wand, die in zunehmendem Maße die quälende Eigenschaft ent- wickelt, mit ihren Zeigern nur unendlich zähflüssig langsam voranzukommen. In den Wachphasen martern ihn Wund- schmerzen, Übelkeit, Ängste, zeitlos ge- dehnte Langeweile und die schwer er- trägliche Gewissheit, in sämtlichen Le- bensäußerungen, körperlich wie psy- chisch den ihn versorgenden Mitmen- schen, biologischen Abläufen und der Umwelt ausgeliefert zu sein. Er trägt ein hinten offenes, hellblaues, kurzes Kran- kenhaushemdchen, sein Körper, hier ins- besondere sein partiell des Haarkleides beraubter Unterleib, steht jederzeit allen Krankenschwestern, Pflegern, Ärztinnen und Ärzten zur Betrachtung, zum Beta- sten, zur Wundpflege und zu allerlei Ma- nipulationen frei zur Verfügung.

Bedrängende Halluzinationen

Bei Schmerzen, Übelkeit oder Unruhe ermuntern ihn die Ärzte ohne Zögern und ungehemmt, „nach Bedarf“ einen weiteren Knopf zu betätigen, der unver- züglich für ihn eine Opiatschleuse öff- net, das heißt einen ordentlichen Schuss Dipidolor in sein Venensystem pumpt, der das Gehirn überschwemmt und in Sekundenschnelle ein wohlig strömen- des Wärmegefühl im ganzen Körper, Schmerzlosigkeit und ein kritikloses,

matt-heiteres Zufriedensein auslöst, das etwa eine Stunde anhält, aber eben jederzeit wiederholt werden kann. Sehr bald macht er eine merkwürdige und durchaus fantastische Entdeckung:

Wenn er im Wachsein einfach einmal die Augen schließt, was er aus Müdig- keit immer wieder tun muss, erscheinen ganz unmittelbar und zuverlässig und in jedem Falle wunderliche bunte szeni- sche Bilder vor seinen Augen, die er dabei sogleich als Halluzinationen er- kennt und die beim Augenöffnen je- weils sofort verschwinden. Es sind anfangs vornehmlich feuerrote, dann blau-gelbe oder andersartig bunte all- tägliche Szenerien oder auch kaleido- skopartige Wechselbilder, wie wir sie früher als Kinder in diesen mit bunten Glasscherben bestückten Pappröhren anschauten, in welche jetzt auch die rea- len Umgebungsgeräusche wie Türen- schlagen oder Gespräche von Schwe- stern oder Pieptöne von irgendwel- chen Geräten ganz selbstverständlich eingebunden sind. Dies war etwas nie Gekanntes, Unerhörtes und, weil aufge- zwungen und ungewollt, auch Unheim- liches. Er will das nicht mehr, weil es ihn zwanghaft überwältigt, und er be- schließt, den Rauschknopf nicht mehr zu betätigen. Jetzt erfasst ihn aber plötz- lich eine innere Unruhe, er schwitzt heftig bis hin zu klatschnassem Hemd und kalt klebrigem Bettzeug, wie bei ei- nem Entzugssyndrom, und die bedrän- genden Halluzinationen gehen unver- mindert weiter, bei jedem auch nur flüchtigen oder beiläufigen Augen- schluss. Erst nach Ablauf von etwa ei- nem Tag werden sie blasser, unaufdring- licher, seltener und gehen allmählich in neblige Schwarz-Weiß-Bilder über, bis sie am folgenden Tage ganz verschwin- den. Die Ärzte nehmen seine diesbe- zügliche Besorgnis in all ihrer Eile beiläufig zur Kenntnis, das könne schon mal sein, sei ganz harmlos, käme wohl schon von der Morphiumdusche. . .

Die drei Tage auf der Intensiv-Stati- on behält Dr. R. ansonsten als eine Art von gottlosem Martyrium in Erinne- rung. Dass ihm dabei zuweilen das In- ferno aus Dante Alighieris Göttlicher Komödie oder gar die Höllenstrafen des Hieronymus Bosch einfallen, ist ge- wiss eine unzulässige Übertreibung, aber gleichviel, ihm war eben so zumu-

te, und die Assoziationen drängten sich ungewollt so auf. Zu den beklemmen- den subjektiven Wahrnehmungen und Erlebensweisen kamen noch äußere Umstände hinzu, die, wenngleich zum Teil vielleicht unvermeidlich, das Ganze doch durchaus auf die Spitze trieben:

Ein fast 24 Stunden lang regellos, aber ständig sich in Ohren und Hirn des Dr.

R. einhämmernder Lärm gab seinem Aufenthaltsort subjektiv das Gepräge einer lebhaft frequentierten Bahnhofs- halle. Seine Zimmertür wurde unvor- hersehbar und ohne Anklopfen unent- wegt krachend geöffnet und ebenso krachend geschlossen, oder, noch öfter, offen gelassen. Schwestern oder Pfleger polterten stumm oder schwatzend her- ein und hinaus, um jeweils kurz auf die Krankenkurve zu schauen oder an den Infusionen zu manipulieren oder Blut- druck, Puls, Temperatur zu messen oder Sauerstoffsättigung des Blutes und Blutgase zu bestimmen oder auch, um einfach einen Blick umherzuwerfen und wortlos wieder zu verschwinden.

Kühle Professionalität

Durch die geschlossene oder offene Tür dröhnten die Alltagsgeräusche der Sta- tion wie das Klappern von Gerätschaf- ten, Rufe und Stöhnen der anderen Kranken und die Stimmen der Schwe- stern kontinuierlich und hallend in sein Zimmer. Wenn er wollte, konnte er sämtliche Gespräche der Angestellten und Pflegekräfte Wort für Wort verste- hen, was nicht immer unterhaltsam war.

Den ganzen Tag über tönte regellos das helle Piepsen seiner Überwachungssy- steme oder von einem aus den Nach- barzimmern. Vor seinem Fenster wur- den mehrfach am Tage bis in die Dun- kelheit hinein laut scheppernd irgend- welche metallenen Küchentransport- wagen über altes Holperpflaster vorbei- gezogen. Die angenehmen Flötentöne der in den Platanen singenden Amseln waren kein zureichender Ausgleich.

Schwestern und Ärzte waren ständig in drängender geschäftiger Eile, bewältig- ten ihre Aufgaben mit kühler, versierter Professionalität, manche ganz wortkarg, andere waren auch einmal in flüchtiger Freundlichkeit zu einem kurzen Wort- wechsel bereit. Eine blasiert und oberin- T H E M E N D E R Z E I T

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nendünkelhaft wirkende ältere Pflege- person sprach mit Dr. R. nur dann, wenn sie an seinem Verhalten etwas zu kritisie- ren oder wenn sie etwas anzuordnen hat- te, und tat dies stets mit gleich bleibend eiskalter abweisender Miene, zuweilen gewürzt mit schnippischen Nebenbemer- kungen. Sie vermied es, wie alle anderen Pflegekräfte und Ärzte auch, sich bei sei- ner von ihr selbst organisierten Verlegung auf die Normalstation von ihm zu verab- schieden. Dr. R. wurde in seinem Bett lie- gend kommentarlos und hastig mit seinen Utensilien beladen und stumm und gruß- los einem Transportmann übergeben, der ihn zurückhaltend-freundlich und ge- schickt durch die kurvenreiche Strecke zur Station 37c bewegte.

Die ärztlichen Visiten waren stets kurz und bündig. „Na, wie geht’s, ich

seh’ schon, ganz gut, na ja, dann geht’s ja. . .“ Flugs waren die Ärzte unterein- ander im eiligen Gespräch über die La- borwerte und Befunde des Dr. R., es mussten auch immerfort neue Ärzte über seine Krankheit stichwortartig aufgeklärt werden, Zeit für ein ärztli- ches Gespräch war nicht vorhanden, Fragen des Kranken wurden knapp und lapidar beantwortet, und schon hatte der kleine, durchaus wohlwollend lächelnde Schwarm das Krankenzim- mer und den unglücklich-frustrierten Kranken wieder verlassen. Er blieb mit

seinen seelischen Nöten, Ängsten und verknoteten und bedrängenden Gedan- kenketten allein und wartete sehnsüch- tig auf die liebevolle Zuwendung, den tröstlichen Zuspruch und vor allem das offene, aufnahmebereite Ohr von Frau und Sohn, die um 17 Uhr täglich wie Sonnenaufgänge in seinem Zimmertür- rahmen auftauchten.

Freilich wusste er sehr wohl aus seinem eigenen Berufsleben, dass Schwestern und Ärzte bis an die Grenze der Erschöp- fung arbeiten und ihre Pflichten erfüllen, dass ihre Personalstellen immer knapper bemessen und immer unnachgiebiger mit immer neuen nichtmedizinischen Aufga- ben überfrachtet werden und dass der medizinische und psychologische Raum der Krankenbehandlung in kaum noch verantwortbarer Weise zunehmend ein-

geengt wird. In Sonderheit auf Intensiv- stationen kommt es ja darauf an,akut und schnell Leben zu retten, rasch, zügig und professionell das für die Erhaltung von Leben und Gesundheit Notwendige zu vollziehen,aber ist es wirklich so,dass nie- mand mehr zwei oder drei Minuten Zeit findet, um die Nöte und Ängste der Kran- ken anzuhören und ihnen Zuversicht zu- zusprechen? Sind das ärztliche Gespräch und das Gespräch zwischen Kranken und Pflegerinnen, dieser Kernbereich allen medizinischen Tuns, ganz unmöglich ge- worden? Welch eine Perspektive!

Erst auf der Normalstation fand Dr.

R. Kraft und Muße, darüber genauer nachzugrübeln. Hier war es hell, freund- lich, ruhig, es gab keine Bahnhofsuhr, sondern eine entspannende mediterrane Landschaft an der Wand und keine scheppernden Küchenwagen vor dem Fenster, man klopfte an, wenn man Ein- lass begehrte, und schloss danach leise die Tür. Die überwiegend liebenswürdi- gen oder auch zurückhaltend höflichen Schwestern und Stationsangestellten waren auch stets in ganz ähnlicher Eile und arbeiteten mit derselben Professio- nalität, aber sie fanden gleichwohl im- mer wieder ein paar Minuten Zeit für Gespräche über Alltägliches oder eben für Zuversicht fördernde Beratungen und tröstende Bemerkungen, etwa während des Bettenmachens oder beim Wechseln der Infusionsflaschen oder bei der Wundpflege.

Dr. R. kam die Idee, dass Kran- kenschwestern während der Ausbil- dung nicht so sehr eine aufgesetzte Kundenfreundlichkeit als Service- leistung antrainiert, sondern die Empfehlung bekommen sollten, sich dem Kranken gegenüber so natürlich, offen-selbstverständlich und ungekünstelt freundlich zu ver- halten wie irgend möglich und em- pathische Zuwendung, wohlwollen- des Zuhören und Hoffnung vermit- telnde Ermunterung einzuüben. Je- denfalls war es genau dies, wonach Dr. R. während seines Krankseins ein dringendes, aber kaum erfülltes Bedürfnis verspürte.

Währenddessen plagte sich Dr.

R. weiter mit dem unsäglichen, aber zweifellos notwendigen Schlauch- Gewirr an seinem Körper herum, aber Tag für Tag wurde einer davon gezogen, zuerst der aus dem After, die- ser angenähte Zwicker und Zwacker.

Die natürlichen Ausscheidungsfunktio- nen kamen allmählich wieder in Gang und schrittweise unter seine eigene Re- gie. Das Wiederkehren des natürlichen Stuhlgangs wurde ihm fast zu einem leicht obszönen, aber doch sehr erlösenden Er- eignis. Die Nahrungsaufnahme durch den Mund wurde vorsichtig mit Schleim und Brei begonnen und dann in Normal- kost überführt, der Zentralvenenkathe- ter konnte gezogen werden, und alle Me- dikamente wurden abgesetzt.Welch eine T H E M E N D E R Z E I T

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Immer wenn er die Augen öffnet, sieht er eine große, runde, schwarz- weiße Bahnhofsuhr gegenüber an der kahlen kalkweißen Wand, die in zunehmendem Maße die quälende Eigenschaft entwickelt, mit ihren Zeigern nur unendlich zähflüssig langsam voranzukommen.

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Erleichterung, welch ein Wiedergewinn von Freiheit!

Verlassen des Bett-Kerkers

Die Ärzte der neuen Station wechselten täglich; Dr. R. hat in den sechs Tagen auf dieser Station nicht weniger als sechs je- weils für ihn zuständige Ärzte und Ärz- tinnen kennen gelernt. Die Visiten waren auch ziemlich kurz und bündig, aber et- was geruhsamer als auf der Intensivstati- on. Zweimal wurden sie bei ihm ganz aus- gelassen, einmal aus ungeklärten Grün- den, einmal, weil Dr. R. beim Eintreten der Ärzte gerade seine Zähne putzte. Er bestand dann allerdings energisch auf ei- ner Aussprache mit einem kompetenten Arzt, sodass gegen Mittag der Oberarzt erschien und sehr geduldig, höflich, kolle- gial und auskunftsfreudig Rede und Ant- wort stand und die versäumte Morgenvi- site damit erklärte,dass es nicht üblich sei, den Kranken beim Stuhlgang zu stören.

Die Visite zwei Minuten später nachzu- holen war wohl nicht möglich, weil dann schon das Operationsprogramm zu be- ginnen hatte. Der taubenschlagartige Wechsel der Stationsärzte hat auch sei- nen Grund in der knappen Stellenausstat- tung und der Tatsache,dass jeder Arzt,der nächtlichen Dienst zu versehen hatte, am anderen Morgen zur Erholung nach Hau- se gehen muss und jeweils durch einen an- deren, meist nur schriftlich informierten Kollegen, ersetzt wird. Auch aus solchen Gründen ist es inzwischen praktisch un- möglich, als stationär Kranker zu einem Arzt ein persönliches Vertrauensverhält- nis herzustellen und auf dieser Basis Ge- spräche zu führen. Nach Auskunft der Schwestern ist tagsüber in der Regel außerhalb von Visiten- oder Verbandszei- ten kein Arzt auf der Station, der Arzt oder die Ärztin müssen jeweils telefo- nisch herbeigerufen werden und kom- men dann, wenn sie abkömmlich sind. So kommt es auch, dass die umsichtigen Schwestern schon eigentlich den Ärzten vorbehaltene Tätigkeiten ausüben, wie etwa die sehr natürlich-sympathische Schwester A., die schon mal den Leib ab- tastet, ob er weich oder hart ist, und nach Darmgeräuschen lauscht, damit kein Darmverschluss übersehen wird.

Ein für Dr. R. geradezu dramatischer Akt war einen Tag vor der Entlassung

das selbstständige Anziehen einer re- gulären männlichen Unterhose. Damit vollzog sich fast feierlich der endgültige und energische Entzug seines entblößten Unterleibs von den Betrachtungen durch zwar hilfreiche, aber eben fremde, stän- dig wechselnde Personen.Das vollständi- ge Ankleiden und anschließende Ganz- körperbetrachten im Spiegel erlebte er sehr befriedigt wie die Wiedergeburt sei- ner zivilen Persönlichkeit, als das Wie- derauftauchen seines seiner selbst be- wussten autonomen Ichs. Endlich konnte er den Bett-Kerker verlassen und, wenn auch schlürfenden Schrittes, langsam und mit Ziepen und Spannen im Unterbauch ungefähr aufrechten Ganges das Zim- mer verlassen und im Flur herumspazie- ren und dem hektischen Stationsbetrieb gelassen zuschauen. Dies auch noch den ständig herbeigesehnten Angehörigen, also Ehefrau und Sohn, vorführen zu können glich einem kleinen Triumph.

Schließlich durfte Dr. R. am elften postoperativen Tag mit noch baumeln- dem Harnkatheter, aber in sonst wieder freier Selbstbestimmung die Klinik ver- lassen. Der Heimweg, insbesondere das Einbiegen des Taxis in die vertraute, von blühenden Blumen gesäumte Straße und das Erblicken seines efeuumrank- ten und von Rosen umstellten Hauses, war dann der letzte Akt einer glückli- chen Befreiung aus einem quälerischen Spuk, den er niemals für sich geahnt und niemals für wahrscheinlich gehalten hatte und der doch eine alltägliche Ba- nalität und Normalität gewesen war, wie sie viele andere Menschen täglich erle- ben. Der Katheter und die restlichen Bauchnähte wurden ihm zwei Tage spä- ter ambulant entfernt. Es begann die ra- sche Erholung, und schon nach kurzer Zeit saß er wieder auf dem Fahrrad und genoss die Welt und das Leben.

Ist nun dieser Dr. R. ein besonders empfindliches, verletzliches Seelchen?

Ein ängstlicher Hypochonder, der nichts aushält? Wohl eher nicht. Jeder leidet auf seine Weise, kann nur so oder so lei- den, da gibt es keinen anzustrebenden Standard. Das Herausschneiden eines kleinen Stückchen Darms, das genau in der Mitte des Unterbauches gelegen war, kam ihm vor, als habe man ein Stück aus der Mitte seines vegetativen Ichs herausgetrennt. Der Entzug der persönlichen Verfügbarkeit über die

selbstverständlichen, alltäglichen, ani- malischen Körperfunktionen, der zeit- los-chaotische, unstrukturierte Tag ohne die gewohnten Rituale von Frühstück, Mittagessen und Abendbrot im Kreise von lieben Menschen, der Lärm, die Bahnhofsuhr, die ungenügende Zuwen- dung der umgebenden Mitmenschen und die Schlaflosigkeit und körperli- chen Beschwerden im Zustand der Ein- samkeit inmitten hektischen Gewim- mels, seine Weigerung, sich mit dem Krankenhausleben als Kranker zu iden- tifizieren, all dies hatte seine psychi- schen Kräfte an den Rand der Dekom- pensation geführt. Und trotzdem, er hat es durchgestanden, und es war ihm eine tief greifende wichtige Lebenserfah- rung, die er nun nicht mehr missen möchte, bei der er sehr viel gelernt hat und nach der er die Welt nun ein wenig anders, gewiss realistischer sieht, und die er zwar nicht ebenfalls durchzuleiden, aber doch irgendwie nachzuvollziehen jedem jungen Arzt empfehlen muss.

Fantasie und Wissenschaft

Dr. R. musste ziemlich alt werden, um diese Erfahrung mit der „anderen Sei- te“ des Medizinbetriebs machen zu müssen, und er schließt aus dem Erleb- nis kategorisch, dass es auch im Zeital- ter der Sparzwänge und der betriebs- wirtschaftlichen Vergewaltigung der Medizin, die den Kranken zum Kunden und das Krankenhaus zum Profit-Cen- ter degradieren will, noch Möglichkei- ten gibt und geben muss, die seelischen Nöte der Kranken und ihr Bedürfnis nach empathischer Zuwendung zu be- friedigen und auch so die Heilung zu befördern. Das Krankenhaus muss wie- der menschlicher werden, trotz Finanz- not und Wirtschaftskrise, hier sind Fan- tasie und Wissenschaft gefragt und nicht inhumaner blinder Rigorismus.

Der Mensch ist kein Apparat und die Klinik kein Reparaturbetrieb. Wir ha- ben alle eine Seele, was immer das auch sein mag, und sie bildet eine Einheit mit dem Körper, auf welche Weise auch im- mer. Sie bedarf des verständnisvollen Gesprächs, wie es Viktor von Weiz- säcker mit seiner „anthropologischen Medizin“ schon vor vielen Jahrzehnten gefordert hat.Prof. Dr. med. Roland Schiffter T H E M E N D E R Z E I T

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