A-1073
M E D I Z I N
Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 16, 18. April 1997 (57) ter oder pejorativer Begriff, sondern
nicht selten geeignet, Verständnis und auch Geduld zugunsten des Kranken aufkommen zu lassen.“
Leider kann ich dies aus eigener Erfahrung nicht bestätigen. Nachdem ich mich in diesem Jahr wegen einer schweren reaktiven Depression län- gere Zeit in stationärer Behandlung befunden hatte, wurde mir das „Her- ausgeraten“ aus der Depression in meinem Arbeitsumfeld nicht leicht gemacht. Von Oberärzten miß- trauisch beobachtet, von Kollegen ge- mieden, unverstanden in der Er- schöpfung nach allzu früh und zu häu- fig zu leistenden Nachtdiensten, abge- stempelt als „nicht mehr belastbar“ – das sind nur einige Beispiele dafür, daß die Depression unter Ärzten (!) aufgrund mangelnder Kenntnisse nicht mit Geduld und Verständnis aufgenommen wird. Die Depression ist und bleibt für den Betroffenen lei- der ein Stigma, insbesondere, wenn er als Arzt tätig ist.
Name und Anschrift des Verfas- sers sind der Medizinisch-Wissen- schaftlichen Redaktion bekannt.
Dr. Wedig spricht die aktuelle Klassifikation depressiver Störun- gen an und bestätigt meine Auffas- sung, daß für die Therapie- und Re- habilitations-Indikationen im einzel- nen eine sorgfältige Differentialdia- gnose beziehungsweise Differential- typologie der Depressionen ange- bracht ist. Dr. Wedig ist auch darin zuzustimmen, daß eine Überbeto- nung der Klassifikation (die ja un- vermeidlich reduktionistisch ist) für die klinische Psychiatrie zum Pro- blem werden kann. Dennoch: Klassi- fikation, auch und gerade in Form der ICD, hat durchaus ihre Bedeu- tung, nämlich für die Diagnosensta- tistik von Institutionen, für Versor- gungsplanungen, zur Charakterisie- rung wissenschaftlicher Stichproben und zur internationalen Verständi- gung.
Dr. Schuppert weist auf Sport- programme, beispielsweise Lauf- gruppen für die Rehabilitation Depressiver hin – eine wichtige Er-
gänzung unseres Beitrages. Schwieri- ger ist die Frage nach Anschlußheil- behandlungen zu beantworten, die Dr. Schuppert in seinem Brief wie- derholt empfiehlt. Solche An- schlußheilbehandlungen sind nach unseren Erfahrungen in der Rehabili- tation Depressiver sehr selten indi- ziert (zum Beispiel bei den beschrie- benen anhaltenden Depressionen nach Unfällen), im allgemeinen aber nicht notwendig, meist sogar ausge- sprochen unangebracht, da es auf die Rehabilitation im sozialen Feld an- kommt.
Die Zuschrift des depressiven Kollegen, der verständlicherweise anonym bleiben möchte, gibt zu den- ken: ist es gerade im ärztlichen Be- reich so schwer, einen depressiven Kollegen wieder zum Zuge kommen zu lassen?
Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Rainer Tölle
Klinik für Psychiatrie der Universität Münster
Albert-Schweitzer-Straße 11 48149 Münster
DISKUSSION/FÜR SIE REFERIERT
Schlußwort
Zwei kürzlich im American Jour- nal of Medicine publizierte Arbeiten stellen nochmals das chronische Mü- digkeitssyndrom (chronic fatigue syn- drome, CFS) als eigenständige Entität heraus. Das CFS ist durch eine meist akut beginnende, über mehr als sechs Monate anhaltende ausgeprägte Schwächeperiode gekennzeichnet, die sich durch Erholungsphasen nicht bes- sern läßt und den Betroffenen in seinen Aktivitäten deutlich limitiert. Zusätz- lich treten unspezifische Symptome wie Konzentrations- und Gedächtnis- störungen, Halsschmerzen, empfindli- che Hals- und Achsellymphknoten, Myalgien, Athralgien, Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Krankheitsgefühl nach Anstrengung auf.
Die Ätiologie der Erkrankung ist unbekannt, wegen der häufigen Asso- ziation mit depressiven Symptomen wird neben einer organischen Ursache (zum Beispiel chronischer Virusinfekt) auch ein primär psychiatrisches Ge- schehen diskutiert.
Die Arbeitsgruppen aus Boston und Seattle setzten bei insgesamt 400 Patienten mit CFS neben einer körperlich-psychiatrischen Untersu- chung einen aus 36 verschiedenen Fra- gen bestehenden Test (SF-36) ein, der den funktionellen Status, das Wohlbe- finden und die Lebensqualität der Pati- enten erfaßt. Als Kontrollgruppen dienten neben gesunden Probanden auch Patienten mit organischen Er- krankungen wie Mononukleose, arteri- eller Hypertonie und Diabetes mellitus Typ II sowie Patienten mit neurolo- gisch-psychiatrischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose und endogener Depression.
Der Test in Kombination mit der klinischen Untersuchung eignete sich sehr gut in der Beurteilung von Patien- ten mit CFS. Überraschenderweise zeigte sich, daß alle Patienten mit CFS in der Gesamtbewertung gegenüber den anderweitig Erkrankten und den Gesunden signifikant schlechter ab- schnitten. Gegenüber den Patienten
mit endogenen Depressionen ließen sie sich durch ausgeprägtere Störungen in der Aktivität, des körperlichen Wohl- befindens und durch die somatischen Symptome abgrenzen; nur in bezug auf die Selbsteinschätzung der psychischen Gesundheit und der emotionalen Fähigkeit rangierten sie vor den de- pressiven Patienten.
Die Autoren beider Studien hal- ten eine Abgrenzung gegenüber Pati- enten mit endogener Depression mit dem aufgezeigten Testverfahren für
möglich. acc
Komaroff AL et al.: Health status in pa- tients with Chronic Fatigue Syndrome and in general population and disease comparison groups. Am J Med 1996; 101:
281–290.
AL Komaroff MD, Div. of General Me- dicine and Primary Care, Dep. of Medici- ne, Brigham and Women’s Hospital, 75 Francis St., Boston, MA 02115, USA.
Buchwald D et al.: Functional status in patients with Chronic Fatigue Syndrome, other fatiguing illnesses, and healthy in- dividuals. Am J Med 1996; 101: 364–370.
Dedra Buchwald MD, Harborview Medi- cal Center, 325 9th Avenue, Box 359780, Seattle, Wash. 98104, USA.