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Archiv "Der chronische Arzt" (21.02.2003)

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T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 821. Februar 2003 AA459

N

och immer ist die Medizin zu sehr an einem überwiegend falsch gewordenen Ziel der Hei- lung orientiert: an der restitutio ad in- tegrum – als ob man im Erleben nach einer auch nur einigermaßen schweren Erkrankung je wieder der Alte werden könnte. Nach meiner ersten Krebsope- ration wurde ich wohlmeinend immer wieder mit der unangemessenen und unbeantwortbaren Frage gequält, ob ich denn nun wieder gesund sei.

Die Medizin braucht neben ihrer Akut-Medizin eine eigene Chronisch- Kranken-Medizin, die vom Letzten her zu denken und zu handeln in der Lage ist, wie es eigentlich

im sozialen Bereich oh- nehin gefordert ist. Im- mer noch beschreiben die medizinischen Lehrbü- cher die einzelnen Krank-

heiten nach ihrem Akutverlauf, wo- hingegen die Chronifizierung ver- schämt am Ende jedes Kapitels kurz abgehandelt wird. Das fördert den Fehler von Ärzten, ihren chronisch kranken Patienten immer noch das Akut-Kranken-Modell überzustülpen – eine der verbreitetsten und folgen- reichsten Quellen für die wachsende Unzufriedenheit der Patienten. Ähn- lich ignoriert die Forschung weitge- hend die Existenz der chronischen Er- krankungen.

Seit kurzem werden die Disease- Management-Programme (DMP) dis- kutiert. Einerseits ein Lichtblick, denn erstmals wird die Bevölkerungsgruppe der Chroniker benannt, nicht mehr schamhaft verschwiegen, sondern zur Kenntnis genommen. Dabei wird an- dererseits die Tradition der negativen Bewertung der chronisch Kranken fortgesetzt, teilweise noch verschlim- mert. Sie werden dargestellt als schlechte Risiken, als zu teuer für den normalen, rein betriebswirtschaftli- chen Geschäftsgang im Medizinsy- stem. Indem der Chroniker sich in eine Liste einschreiben muss, wird er einer zweiten Aussonderung unterworfen, was sich noch nie positiv ausgewirkt hat und wodurch er sich als Unheilba-

rer stigmatisiert sieht, was ja schließ- lich auch dem Arbeitgeber oder der Freundin bekannt werden kann. Mit den Einschreibern schaffen wir zudem die Nichteinschreiber, das heißt, wir produzieren gute und schlechte Chro- niker. In jedem Fall unärztlich ist die Intention, dass der DMP-Arzt seinen Chroniker auf Grundlage einiger tech- nischer Parameter rational steuern soll. Damit wird eine typisch akutme- dizinische Strategie nicht nur dem chronisch Kranken, sondern auch dem Arzt übergestülpt, wodurch Letzterem auch noch der Kernbereich seines ärzt- lichen Selbstverständnisses, sein freier

Verantwortungsraum, wegrationali- siert wird. Das medizinische Hand- lungsfeld wird dadurch perfekt durch- rationalisiert, während der Arzt als Arzt daraus verschwunden ist. Die Ärzte sind schon längst zu resigniert, um sich gegen dieses famose DMP- Konzept nichtärztlicher Experten noch wehren zu können. Daher kämpft man nur noch ersatzweise um sekundäre Probleme wie den Daten- schutz oder flieht in noch größerem Umfang in andere Berufsfelder, wo man nicht mehr mit Patienten arbeiten muss, was unter solchen Bedingungen immer unmöglicher wird.

Denn der ärztliche Kern der Medi- zin ist eben nicht das immer biotechni- scher werdende Modell der Therapie des Akut-Kranken, das als wirklicher Erfolg des Fortschritts zu feiern ist, sondern das biografische Begleiten des chronisch Kranken, also die Chro- nisch-Kranken-Medizin,

> wo nicht an der Krankheit ein Mensch, sondern wo am Menschen ei- ne Krankheit hängt;

>wo – bezahlte – Zeit sein muss, die Lebensgeschichte des Patienten sich immer wieder neu erzählen zu lassen, bis er seine chronische Erkrankung in seine Lebensgeschichte integriert hat;

>wo der Arzt zahllose, nach außen unrational wirkende, aber notwendige Umwege des Patienten mit ihm zu ge- hen hat (zum Beispiel den – seiner Selbstachtung wegen – bis zum Suizid- versuch reichenden Protest des Diabe- tikers gegen seine Abhängigkeit vom Insulin);

>wo der Arzt der biografische Rei- sebegleiter des Patienten ist und sich so in seinen Dienst stellt, dass er glaub- würdig darin wird, sich stets von ihm korrigieren zu lassen, ohne ihm hörig zu werden;

>wo der Patient primär in seinem Sosein akzeptiert wird, ohne Erwar- tung, ohne Ziel, ohne den ohnehin unmöglichen in- dividuellen Hilfeplan, nach vorn offen, aber jederzeit auf Gelegenheiten war- tend – und nicht primär als eine zu verändernde Substanz auf- gefasst wird;

>wo das Handeln des Arztes in eine Beziehung eingebettet ist – durchaus mit Anteilen von Liebe und Geduld (auch zu Familie und Nachbarschaft) einerseits; andererseits mit Anteilen moralischer Erpressung, Gewalt, kal- kulierter Überforderung und Redukti- on der Betreuung bis zur Not, die den Patienten zum Ausschöpfen auch noch der letzten Ressourcen zwingt, also mit der Bereitschaft zur biografischen Einmischung und dazu, sich die Hände schmutzig zu machen.

Wie der akut Kranke gegenüber dem chronisch Kranken, der Heilbare gegenüber dem Unheilbaren sich bis- her größerer gesellschaftlicher und me- dizinischer Wertschätzung erfreute, so gilt dasselbe Missverhältnis zwischen dem Spezialarzt und dem Hausarzt. Im Interesse der Herstellung der Gerechtig- keit und der Rückbesinnung auf den sorgenden Kern ärztlicher Grundhal- tung muss dafür gesorgt werden, dass der Hausarzt mit seinem breiten biogra- fischen wie kommunalen Kontextwissen seine Möglichkeiten voll auszuschöpfen vermag – denn letztlich kann nur er dem chronischen Patienten ein chronischer Arzt sein.Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner

Der chronische Arzt

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