Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 26⏐⏐26. Juni 2009 A1329
S E I T E E I N S
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ach jahrelangem Streit hat der Bundestag am 18.Juni entschieden: Deutschland bekommt eine gesetzliche Regelung zu Patientenverfügungen. Sie soll noch in diesem Herbst in Kraft treten. Mit 317 von 555 Stimmen, die nahezu geschlossen aus den Reihen der SPD, der Linken und zum Teil der Grünen kamen, setzte sich der Gruppenentwurf des SPD-Rechtsexperten Joachim Stünker bei der Schlussabstimmung gegenüber den Gesetzentwürfen von Wolfgang Zöller (CSU) und Wolfgang Bosbach (CDU) durch. Den Antrag des CDU-Politikers Hubert Hüppe, ganz auf eine gesetzli- che Regelung zu verzichten, lehnte der Bundestag be- reits zu Beginn ab.
Mit dem Entwurf von Stünker wird nun ausgerechnet die Vorlage Gesetz, der viele Ärztinnen und Ärzte am wenigsten abgewinnen können. Ihr zufolge haben schrift- lich niedergelegte Patientenverfügungen künftig in Deutschland eine hohe rechtliche Verbindlichkeit und müssen unabhängig von Art und Stadium einer Erkran- kung beachtet werden. Dabei soll aber jedoch auch ein
„natürlicher Wille“, wie das Zeigen von Lebensfreude, als neue, verbindliche Äußerung gelten. Eine ärztliche Beratungspflicht sieht das Gesetz nicht vor. Stattdessen gilt eine Missachtung der Patientenverfügung als Kör- perverletzung. Ärzte, Angehörige beziehungsweise Be- treuer sollen den Willen des Kranken gemeinsam ausle- gen, nur in Streitfällen müssen Gerichte eingeschaltet werden. Patientenverfügungen, die eine aktive Sterbe- hilfe verlangen, bleiben auch künftig unwirksam.
Auch wenn dieses Gesetz nicht der Wunsch vieler Ärzte war und die Bundesärztekammer ein Gesetz für entbehrlich hielt – nun wird es darauf ankommen, es pa- tientengerecht anzuwenden. Wichtig für Ärztinnen und Ärzte ist, dass Patientenverfügungen medizinische Maßnahmen künftig nicht nur bei zum baldigen Tode führenden Krankheiten ausschließen dürfen. Sie sind jedoch auch nicht „in jedem Fall gültig“, wie es derzeit häufig in den Medien suggeriert wird. Dem Gesetz zu- folge müssen sich Patientenverfügungen nämlich auf ganz „bestimmte Heilbehandlungen oder ärztliche Ein- griffe“ beziehen. Ärztinnen und Ärzte sollen gemein- sam mit nahen Angehörigen beziehungsweise dem Be-
treuer feststellen, ob die Verfügung tatsächlich auf die konkrete Situation zutrifft. Ist eine Verfügung nicht ein- deutig formuliert, sollen sie den mutmaßlichen Willen des Patienten aus früheren Äußerungen ableiten.
Diesem Passus wird in Zukunft große Bedeutung zu- kommen. Denn es darf nicht sein, dass unter der Über- schrift „Autonomie des Patientenwillens“ Verfügungen für weniger gut informierte Patienten zu einer gefährli- chen Falle werden. Das Vorliegen einer Patientenverfü- gung darf auch künftig keinen Automatismus in Gang setzen, bei dem die einst vom Patienten (möglicherwei- se uninformiert) getroffenen Anweisungen lediglich eins zu eins umgesetzt werden. Patientinnen und Pati- enten müssen sich weiterhin darauf verlassen können, dass Ärzte den jeweiligen Einzelfall ihrem ärztlichen Ethos entsprechend beurteilen und ihnen auch im Ster- ben beistehen.
Doch nicht nur auf die Kompetenz der Ärztinnen und Ärzte wird es künftig ankommen, sondern auch auf die Zeit, die ihnen für die Ermittlung des wahren Patienten- willens zugestanden wird. Und die wird angesichts des zunehmenden Ökonomisierungsdrucks in den Kranken- häusern immer knapper. An dieser Stelle ist die Politik gefragt: Sie darf sich nicht auf ihrer jüngsten Entschei- dung ausruhen, sondern wird sich in den kommenden Jahren die Frage stellen müssen, ob das beschlossene Gesetz in der Praxis taugt.
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann Redakteurin für Gesundheits- und Sozialpolitik in Berlin
GESETZ ZU PATIENTENVERFÜGUNGEN
Autonomie des Patientenwillens
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann