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Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 23, 6. Juni 1997 (1)
100. Deutscher Ärztetag
Besinnung auf das Notwendige
er Gesundheitsversor- gung in Deutschland be- scheinigte Bundespräsi- dent Roman Herzog eine Spitzen- stellung. Weder staatliche Plan- kommissare noch der Geldbeutel entschieden über die notwendige Therapie. Eine flächendeckende Versorgung auf hohem Niveau sei mit großer Entscheidungsfreiheit für Arzt und Patient kombiniert.
Herzog, der bei der Eröffnung des 100. Deutschen Ärztetages in Ei- senach sprach, beließ es nicht beim Lob des Status quo. Er forderte Fortentwicklung und Korrektur.
Ärztliche Behandlung oder Medi- kamente seien keine kostenlosen, freien Güter, wie mancher Patient heute wohl noch meine. Aber auch mancher Anbieter von Gesund- heitsleistungen verhalte sich ent- sprechend „und holt heraus, was die Kassen hergeben“.
Der Bundespräsident bat,
„ein paar Prinzipien im Auge zu behalten“; zum Beispiel:
l Eine Krankenversicherung ist für das medizinisch Notwendige da, nicht für das sozial Wünschens- werte.
l Auch ein solidarisch orga- nisiertes Gesundheitssystem darf den einzelnen nicht aus seiner Mit- verantwortung entlassen.
Die Rückbesinnung auf Ei- genverantwortung und auf das medizinisch Notwendige durchzog auch den gesundheitspolitischen Teil der Referate des Präsidenten der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages, Karsten Vilmar. Nicht alles, was wissen- schaftlich und technisch möglich, was angenehm oder wünschbar sei, könne von der Solidargemein- schaft bezahlt werden. „Statt ei- nem utopischen Wohlfahrtsstaat
mit erdrückender Rundumbetreu- ung das Wort zu reden“, so Vilmar,
„sind Eigeninitiative und Eigen- verantwortung wieder zu stärken“.
Vilmar erinnerte an das Subsi- diaritätsprinzip, das ein Struktur- prinzip unserer freiheitlichen Ge- sellschaft und des föderalistischen Staatsaufbaus sei. Dementspre- chend komme der Selbstverwal- tung eine wichtige Funktion zu.
Darin waren sich Ärztevertreter und Politiker beim Deutschen Ärztetag ohnehin einig: Es gelte, die Selbstverwaltung zu stärken.
Herzog hält sie für ein Stück schlanken Staates. Bundesgesund- heitsminister Horst Seehofer, der den Ärztetag besuchte und mit ihm diskutierte, ist seit einiger Zeit ge- radezu ein Bannerträger der „Vor- fahrt für die Selbstverwaltung“.
Seehofer tat auf dem Ärztetag das, was er in den letzten Wochen auch andernorts unermüdlich tut – er warb für seine Gesundheitsre- form. Denn Seehofer ist keines- wegs mit der Beurteilung einver- standen, als Folge der Blockade- politik im Bundesrat sei aus der groß angekündigten Stufe III der Reform nicht viel geworden. Die Blockadepolitik – die Vilmar wie- derum anklagte – gibt es zwar, doch Seehofer ist überzeugt da- von, das Wesentliche seiner Re- formabsichten umgesetzt zu ha- ben. Oder, genauer gesagt: umzu- setzen, wenn der Bundestag mit Kanzlermehrheit die NOG-Re- form beschließt. Dann kommen, so Seehofer, auf die Selbstverwaltun- gen, insbesondere der Ärzte und Krankenkassen, große Aufgaben zu. Vilmar ging darauf ein, mahnte mit einem Blick in die eigenen Rei- hen, Partikularinteressen zurück- zustellen, und ermutigte, „die
Chancen der Selbstverwaltung mit allen sich daraus ergebenden Risi- ken und Pflichten gegenüber den Mitgliedern, den Kranken und der Allgemeinheit (zu) nutzen“.
In der Tat: die beiden NOG- Gesetze dürften für die Selbstver- waltung der Ärzte und Kranken- kassen, insbesondere deren Bun- desausschuß, der durch die Gesetz- gebung merklich gestärkt wird, er- weiterte Kompetenzen bringen.
Wenn das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen ist, wird sorgfältig zu analysieren sein, was von Seehofers ursprünglichen Reformabsichten tatsächlich Reform geworden ist und welche neuen Spielräume den Beteiligten eröffnet werden. Seeho- fer ist jedenfalls überzeugt, daß es eine vierte Stufe der Gesundheits- reform – von der manche, insbeson- dere seine politischen Gegner, schon unken – nicht geben wird.
Die Kassenärztliche Bundes- vereinigung hat sich bei ihrer Ver- treterversammlung im Vorfeld des Deutschen Ärztetages in Eisenach schon vorsorglich auf neue Aufga- ben eingestellt und sich ein fülliges Arbeitspensum verordnet. Dar- über wird in diesem Heft berichtet.
Im nächsten Heft wird sodann ausführlich über Beratungen und Ergebnisse des 100. Deutschen Ärztetages zu berichten sein. Der war zwar ein Jubiläums-Ärztetag, auf dem auch gebührend der An- fänge und der Entwicklung der or- ganisierten Ärzteschaft gedacht wurde. Es handelte sich aber nicht um eine Jubelfeier. Auf dem Pro- gramm in Eisenach standen drän- gende Fragen, nicht zuletzt nach einer ethischen Standortbestim- mung angesichts umwälzender medizinisch-wissenschaftlicher Er- kenntnisse. Norbert Jachertz