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Archiv "100. Deutscher Ärztetag: Orientierung in Zeiten des Umbruchs" (13.06.1997)

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elbst Bundespräsident Roman Herzog, der über dem politi- schen Getümmel steht, be- schäftigte sich bei der Eröff- nung des 100. Deutschen Ärztetages dezidiert mit der Gesundheitsreform.

Er sprach zwar nicht ausdrücklich von den NOG-Gesetzen (das tat ei- nen Tag später Bundesgesundheits- minister Horst Seehofer), doch Her- zog erinnerte an einige Prinzipien, die durchaus in die aktuelle gesund- heitspolitische Debatte passen.

Prinzipien der Gesundheitsreform

Und das sind Herzogs Prinzipi- en (wörtlich):

l Eine Krankenversicherung ist für das medizinisch Notwendige da, nicht für das sozialpolitisch Wün- schenswerte.

l Auch ein solidarisch organi- siertes Gesundheitssystem darf den einzelnen nicht aus seiner Mitver- antwortung entlassen.

l Der sparsame Mitteleinsatz muß sich auch im Gesundheitswesen lohnen, Fehllenkungen müssen ver- mieden werden.

l Wir brauchen keine Ein- heitsmedizin, sondern eine Vielfalt von Therapiemöglichkeiten und Trägern medizinischer Leistungen.

l Sparen muß so gestaltet werden, daß auch künftig kostenin- tensive Therapien möglich bleiben.

Einfach gesagt: Lieber soll jeder sein Brillengestell selbst bezahlen, als daß wir die Herzoperation aus dem Leistungskatalog der Krankenkas- sen streichen!

l Einkommenserwartungen sind legitim, aber sie sind nicht der Maßstab für die Frage, welche Lei- stungen in welcher Höhe aus einem Solidarsystem zu finanzieren sind.

Zusammenfassend also – Her- zog wandelte auf dem schmalen Grat zwischen Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und Finan- zierbarkeit. Auch er nannte das neue Zauberwort Mitverantwor- tung, andere sagen Eigenverantwor- tung. Seehofer sprach später direk- ter von Selbstbeteiligung. Die sei, sofern sozialverträglich, mehrheits- fähig. Denn in allen Lebensberei- chen müsse ohnehin „ein Stück mehr Eigenverantwortung“ Platz greifen.

Auf der gleichen Linie bewegte sich Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel: Das gesamte sozia- le System drohe unbezahlbar zu werden und bedürfe einer zeit- gemäßen Neuordnung. „Wenn wir weiterhin ein erstklassiges Sozialsy- stem erhalten wollen“, fuhr Vogel fort, „dann brauchen wir auch wei-

terhin eine erstklassige Volkswirt- schaft.“ Wenn Steuern und Lohnne- benkosten spürbar sinken sollen,

„dann können wir nicht gleichzeitig die Leistungen noch ausweiten.“

Der Präsident der Bundesärztekam- mer und des Deutschen Ärztetages, Karsten Vilmar, erinnerte gleichfalls an die Grenzen des Sozialstaates und an die auch in der Sozialpolitik spürbaren Folgen der Öffnung der Märkte.

An den Grenzen des Machbaren

Das andere Thema der öffentli- chen Ansprachen beim Festakt und bei den Debatten der Arbeitstagung der Delegierten war der wissen- schaftlich-medizinische Fortschritt.

Die Grenzen des Machbaren wur- den vielfach beschworen, der Bun- despräsident fragte gar: „Sind wir ei- gentlich mental noch bereit, Gren- zen des medizinisch Machbaren zu akzeptieren?“ Oder: „Verleiten uns nicht die immer weiter verbesserten Therapiemöglichkeiten zu dem Irr- glauben, alles sei medizinisch mach- bar?“ Herzog gab sich keineswegs als Fortschrittsfeind, aber doch als Mahner, „daß wir uns dieser Gren- zen immer bewußt bleiben – als Pati- enten und als Mediziner“. Und wie- A-1613

P O L I T I K LEITARTIKEL

Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 24, 13. Juni 1997 (17)

100. Deutscher Ärztetag

Orientierung in Zeiten des Umbruchs

Das Jubiläum wurde zwar gebührend begangen, doch der 100. Deutsche Ärztetag, der vom 27. bis 30. Mai in Eisenach stattfand, war keine Jubelfeier. Auf diesem Ärztetag war auffallend viel von „Grenzen“ die Rede: Der Bundespräsi- dent fragte nach den Grenzen des medizinisch Machbaren, der Ärztetagspräsident nach den Grenzen des Sozialstaates, und allgemein wurde auf dem Ärztetag über ethische Gren- zen, die dem Arzt gezogen sind oder zu ziehen seien, de-

battiert. In diesen Zeiten des rapiden medizinisch-wissen- schaftlichen Fortschritts und zugleich auch des ökonomi- schen Umbruchs ist der Wunsch nach Orientierung verbrei- tet. Der Ärztetag hat versucht, dem Rechnung zu tragen.

Die Ärzteschaft ist willens, bei der Formulierung ethischer

Regeln wie auch bei der Gestaltung des Gesundheitswe-

sens mitzuwirken. Die sprichwörtlichen Patentrezepte hat

sie freilich nicht zu bieten. Auch sie sucht nach Orientierung.

(2)

der war die Rede von dem schmalen Grat: Der Segen, schwere Krankhei- ten schon vor der Geburt behandeln zu können, wiege schwer, der Fluch, weniger Defekte behandeln als dia- gnostizieren zu können, nicht minder.

„Wie gehen wir mit diesem Wissen um?“ fragte Herzog. Ärztliches Ethos kollidiere mit „modernem“ An- spruchsdenken. Der Bundespräsident erwartet von der Ärzteschaft jeden- falls aktive Mitsprache in ethischen Fragen.

Ministerpräsident Vogel ist der Ansicht, die Frage, „was wir medizi- nisch verantworten können, wird sich künftig noch stärker stellen als bisher, weil eben nicht alles, was machbar ist, auch gemacht werden kann“. Er er- hofft sich von der Ärzteschaft eine zielführende Diskussion um Ethik und Verantwortung in der Medizin.

Auch er beschrieb jenen bewußten schmalen Grat: „Wir müssen sowohl den Mut und die Kraft haben, recht- zeitig nein zu sagen und Grenzen zu ziehen. Wir müssen aber auch die Ga- be der Unterscheidung haben und den Mut und die Kraft, rechtzeitig ja zu sagen.“

Selbst Eisenachs Oberbürger- meister, Hans-Peter Brodhun, wich von der Tradition oberbürgermeister- licher Grußworte ab und beschränkte sich nicht darauf, seine Stadt zu prei- sen, sondern faßte die „für den Laien

unglaublichen Forschungsergebnis- se“ ins Auge. Die Hoffnungen der Pa- tienten seien freilich längst nicht mehr nur auf den Arzt gerichtet. Die ethi- schen, moralischen und sozialen An- sprüche müßten mit dem Fortschritt mithalten, und das sei eine Aufgabe für Ärzte und Politiker gleicher- maßen.

Friedensgebete und politische Wende

Die Eröffnung des 100. Deut- schen Ärztetages fand in der Geor- genkirche zu Eisenach statt. Wohl zum erstenmal wurde ein Ärztetag in einer noch regelmäßig dem Gottes- dienst dienenden Kirche eröffnet, vermutete Eggert Beleites, der Präsi- dent der gastgebenden Landesärzte- kammer Thüringen. Beleites wie auch Superintendent Wolfgang Robscheit erinnerten an das Jahr 1989, als den Kirchen eine wichtige Aufgabe bei der politischen Wende in der damali- gen DDR zukam. Auch die Georgen- kirche war damals Treffpunkt und Gebetsstätte für Tausende, die sich im Friedensgebet vereinten und in einer friedlichen Revolution einen Neuan- fang erreichten.

Kein Neuanfang, aber doch eine Neuorientierung steht dem deutschen Gesundheitswesen bevor, ja es steckt

eigentlich schon mittendrin. Der me- dizinische Fortschritt, die steigenden Behandlungschancen und damit stei- genden Kosten, die Altersstruktur der Bevölkerung, die wachsenden Anfor- derungen an medizinische und pflege- rische Betreuung – die Chancen also und die Notwendigkeiten kollidieren mit einem enger werdenden Finanz- rahmen, bedingt durch Arbeitslosig- keit und damit Mittelknappheit in ei- nem Gesundheitswesen, das überwie- gend aus Lohnanteilen finanziert wird. Die anstehende Gesundheitsre- form, so sie denn im Bundestag durch- kommt (das war bei Redaktionsschluß noch nicht bekannt), wird der ärztli- chen Selbstverwaltung neue Aufga- ben zuweisen. Das entspricht der neu- belebten Idee der Subsidiarität.

Diese Aufgabenzuweisung an die Selbstverwaltung ist nicht nur Chance.

Sie könnte sich auch als Danaer-Ge- schenk erweisen, dann nämlich, wenn der Selbstverwaltung mit den Aufga- ben nicht zugleich auch die nötige Kompetenz zugewiesen wird – und die Selbstverwaltung nicht sachkundig, mutig und entschlossen die neuen Spielräume nutzt. Die Ärzteschaft scheint, nach den Bekundungen auf dem 100. Deutschen Ärztetag, durch- aus die Chance zu sehen und ergreifen zu wollen. Sie fühlt sich, das geht aus der Rede Karsten Vilmars hervor, in der Verantwortung, nicht nur für die Ärzte, sondern auch und vor allem für den Patienten und die Allgemeinheit.

Soweit die Gesundheitspolitik.

Der Ärztetag hat sich auch dem ande- ren großen Thema der Medizin, den aus dem Fortschritt resultierenden ethischen Fragen gestellt, nicht zum erstenmal übrigens. Die Bundesärzte- kammer, die ja Veranstalterin der Deutschen Ärztetage ist, bemüht sich seit Jahren um Regeln und Richtlinien.

Die jüngste betrifft die ärztliche Ster- bebegleitung. Auch die wurde auf dem Ärztetag thematisiert, nicht zuletzt durch Thüringens Kammerpräsident Beleites. Der Ärztetag hat hierzu, wie auch zu anderen ethischen Fragen, kei- ne fertigen Antworten liefern können.

Die Auseinandersetzung über das, was der Arzt tun oder nicht tun darf, was die Gesellschaft von ihm erwarten oder nicht erwarten darf, ist in vollem Gang. Auch das kam in Eisenach zum Ausdruck. Norbert Jachertz A-1614

P O L I T I K LEITARTIKEL

(18) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 24, 13. Juni 1997

Eröffnung des 100. Deutschen Ärztetages mit vielen Ehrengästen, geschart um den Bundespräsidenten

Alle Fotos aus Eisenach: Bernhard Eifrig, Bonn

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