Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 49⏐⏐8. Dezember 2006 [95]
B E R U F
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ir suchen einen disziplinier- ten Klinikarzt mit hoher Frustrationstoleranz, der mit Hart- näckigkeit und Pflichtbewusstsein Klinikziele und persönliche Ziele verfolgt“ – eine solche Stellenanzei- ge bekommen Ärzte wohl kaum zu Gesicht. In den Anzeigen werden in der Regel andere Fähigkeiten ge- nannt. Eine Klinik oder Praxis, die einen Mitarbeiter mit „Frustrati- onstoleranz“ sucht, läuft Gefahr, verdächtigt zu werden, dort stehe wohl nicht alles zum Besten und es dominiere der Frust. In Zeiten, in de- nen ärztliches Personal knapp ist, gibt sich kein Klinikarbeitgeber so eine Blöße in einer Stellenanzeige.Aber: Die traditionellen Fähigkei- ten Frustrationstoleranz, Hartnäckig- keit und Pflichtbewusstsein sind für die meisten Berufe sehr wichtig. Bei Menschen, die Karriere machen wol- len, werden sie vorausgesetzt. Weil sie nicht öffentlich thematisiert wer- den, geraten sie aus dem Blickfeld – mit fatalen Folgen: Stellenbewerber fragen sich nicht, ob sie geduldig, dis- zipliniert und hartnäckig sind und wie sie belastende Situationen bewältigen können. Dass sie es im Berufsalltag mit nörgelnden Vorgesetzten und zeitraubender Organisationsarbeit zu tun bekommen, das wussten sie. Er- staunt stellen sie jedoch fest, über kei- ne Strategien zu verfügen, damit an- gemessen umzugehen.
Nehmerqualitäten gefragt
Das Phänomen ist nicht nur im me- dizinischen Bereich zu beobachten.Selbst für die Werbebranche, in der nach landläufiger Vorstellung Inno- vationswille und kongeniale Kreati- vität gefragt sind, betont Holger Jung von „Jung von Matt“: Wer in einer Werbeagentur Karriere machen will, brauche „neben Talent und Dis- ziplin ein hohes Maß an Geduld und Nehmerqualitäten. Es ist in der Wer- bung wie beim Fußball oder in der Politik: Jeder sabbelt einem rein.
Und deshalb braucht er eine hohe Frustrationstoleranz und muss im- mer wieder an das Gute glauben.“
Was heißt das für den aufstiegswil- ligen Arzt? Er darf sich kein falsches Bild von seinem Beruf machen und muss prüfen, ob er über die oft unter- schätzten Fähigkeiten verfügt. Wenn dies nicht der Fall ist, muss er sie trai- nieren: in Seminaren, im Training oder im Coaching. Auch wenn in der Stellenausschreibung selten die Rede davon ist: Der Arzt sollte sich darauf vorbereiten, dass diese Kompetenzen spätestens im Vorstellungsgespräch zur Sprache kommen. In der Bewer- bung und erst recht im Gespräch soll- te er sie aktiv ansprechen: „Der Medi- zinerberuf hat wie jeder andere Beruf auch seine frustrierenden Momente, aber ich verstehe, damit umzugehen.“
Auf welche traditionellen Fähig- keiten kommt es vor allem an? Diszi- plin und Frustrationstoleranz stehen obenan. Wenn der Arzt an die Gren- zen des medizinisch Machbaren gerät und emotional belastende Situationen mit Patienten bewältigen muss, hilft eine Fähigkeit, die mit dem Begriff der „Resilienz“ umschrieben wird.
Gemeint ist die psychische und phy- sische Stärke, die es dem Arzt ermög- licht, Tiefschläge, Krisen, Konflikte und Widrigkeiten zu meistern. Wich- tig ist die Beherrschung der eigenen Gefühle und Emotionen. Er sollte in der Lage sein, negative Gefühle wie Wut auf den Kollegen oder Ängste so zu kanalisieren, dass sie ihn nicht läh- men, sondern beflügeln. Diese Selbstbeherrschung trainieren Kar- riereberater unter dem Stichwort
„Selbstmanagement“.
Dabei geht es nicht um ein „Ent- weder oder“, nach dem Motto: Jetzt haben wir jahrelang Kompetenzen wie Kreativität und Durchsetzungs- fähigkeit gefordert. Zukünftig ste- hen Disziplin und Pflichtbewusst- sein im Mittelpunkt. Relevant ist das
„Sowohl-als-auch“: Der Arzt muss über beides verfügen und kreativ mit
Veränderungsprozessen und Misser- folgen umgehen können. Was nutzt Kreativität, wenn es am Willen fehlt, eine langfristig angelegte Verände- rungsmaßnahme trotz Rückschlägen eisern umzusetzen?
Renaissance „alter Werte“
Traditionelle Fähigkeiten lassen sich einüben. Hilfreich ist ein Mental- training, das der Arzt in Eigenregie durchführen kann: Dazu setzt er sich psychischen und physischen belas- tenden Situationen bewusst aus, um die entsprechenden Abwehrkräfte auszubilden. Das muss nicht immer am Arbeitsplatz, in Klinik oder Pra- xis, geschehen. Die sportliche Her- ausforderung in der Freizeit dient ebenfalls dem Aufbau von Resilienz.
Traditionelle Fähigkeiten und Tu- genden entwickeln sich immer mehr zu Karrierefaktoren. Während ihre Bedeutung jedoch nur zaghaft ins öffentliche Bewusstsein dringt, fei- ern „alte Werte“ wie Verlässlichkeit, Fairness, Respekt und Anstand eine Renaissance. In einer „Spiegel“- Umfrage antworteten auf die Frage
„Sollen Ihrer Meinung nach Höf- lichkeit, Anstand und Ordnung im Alltag wieder eine wichtigere Rolle spielen?“ 95 Prozent der Befragten mit „ja“. Im schulischen Bereich steht die Wiedereinführung der
„Kopfnoten“ an. Andererseits ver- missen die Menschen das konkrete Vorhandensein traditioneller Werte im Alltag und im Geschäftsleben.
Für den Arztberuf haben ethisch- moralische Werte eine besondere Bedeutung. Jeder Arzt sollte sich deshalb fragen, was er unter Anstand und Respekt – und zwar im Umgang mit Patienten, mit Vorgesetzten, Kollegen und Pflegepersonal – ver- steht? Ist er in der Lage, diese Werte in problembehafteten Situationen zu
„leben“, wenn Chef und Patienten einfach nur noch nerven? I Alfred Lange, Praxiscoach E-Mail: a.lange@medicen.de